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Stellungnahmen der Bistumsleitung zur Veröffentlichung der EVV-Studie

Bistumsleitung während der Pressekonferenz zu EVV am 8 März 2023
Datum:
8. März 2023
Von:
Bistum Mainz

im Rahmen der Pressekonferenz am Mittwoch, 8. März, 11 Uhr im Erbacher Hof, Grebenstraße 24-26, 55116 Mainz

von

  • Bischof Peter Kohlgraf
  • Weihbischof und Generalvikar Dr. Udo Markus Bentz
  • Bevollmächtigte des Generalvikars, Ordinariatsdirektorin Stephanie Rieth 

Weitere Informationen zu der umfangreichen Arbeit im Bistum Mainz zu den Themen Prävention, Intervention und Aufarbeitung finden sich auf der Internetseite 

Bischof Kohlgraf während der Pressekonferenz zu EVV am 8 März 2023

Stellungnahme von Bischof Peter Kohlgraf

In den vergangenen Tagen habe ich die tausend Seiten der Studie zum Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bistum Mainz seit 1945 gelesen, die Rechtsanwalt Ulrich Weber, Johannes Baumeister und ihr Team erstellt haben. Hauptsächliche Grundlage dieser Studie sind Gespräche mit Missbrauchsbetroffenen und Menschen, die etwas wissen und bereit waren, ihr Wissen mitzuteilen. Mehrfach waren die Schilderungen für mich als Christ und Mensch zutiefst erschreckend.

Nach der Lektüre ist mir zunächst eines besonders wichtig: Ich will heute eine andere Kirche gestalten. Diesen Wunsch nehme ich bei vielen Gläubigen ebenfalls wahr. Es gibt ein systemisches Versagen. Fehlende Verantwortungsübernahme hat Missbrauch begünstigt. Es fällt mir nicht immer leicht, für eine derartige Gestalt von Kirche, die keineswegs überwunden ist, Verantwortung zu übernehmen. Und dennoch will ich diese Verantwortung tragen. Denn ich glaube an die Kraft des Evangeliums, das die Kirche verkünden soll und immer auch verkündet hat. Das Auseinanderfallen von Botschaft und Lebensweise ist bis heute das Hauptproblem, das Jesus schon in seiner Botschaft deutlich beim Namen nennt. Manchmal höre ich jetzt das Argument, so seien einfach damals die Zeiten gewesen. Allerdings hätte ein ernst gemeinter Blick ins Evangelium genügt, um das eigene Verhalten in Frage zu stellen. Allein, dass man vertuschen wollte, zeigt, dass das Wissen um Unrecht vorhanden war, aber nicht angemessen gehandelt wurde. Ich will eine Kirche mitgestalten und für sie Verantwortung tragen, die Glauben, Bekenntnis und Leben in Übereinstimmung bringt. Die dies zumindest versucht.

Natürlich beschäftigt mich als Bischof von Mainz die Rolle meiner Vorgänger im Bischofsamt. Kardinal Hermann Volk erfreut sich immer noch großer Beliebtheit, noch mehr Kardinal Karl Lehmann. Menschen sprechen von ihm als „moralische Lichtgestalt“ und erfahren jetzt wie ich, dass es auch eine andere Seite seiner Amtsführung gab, besonders im Hinblick auf den Umgang mit vom Missbrauch Betroffenen.

Kardinal Lehmann hat mich zum Bischof geweiht. Das war für mich eine Auszeichnung und ein Ausdruck der Kontinuität zwischen ihm und mir. Ich habe Berichte in der Studie gelesen, die diesen Gedanken für mich jetzt schwierig machen. Er verkörpert im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen eine Kirche, die abgrenzt und sich ihrer Verantwortung nicht stellt. Er bezweifelt wiederholt die systemische Verantwortung der Kirche und des Bistums für Missbrauchstaten. Rechtsanwalt Weber stellt gerade dies heraus. Noch nach 2010 spricht er sich offen gegen die damals bereits beschlossenen Maßnahmen der Deutschen Bischofskonferenz aus. Ich erschrecke, wenn ich davon lese, dass ein Bischof, der immer wieder ein menschenfreundliches Gesicht gezeigt hat, in der Begegnung mit Betroffenen sexualisierter Gewalt eine unglaubliche Härte und Abweisung zeigt.

Ich lese jedoch nicht nur vom Versagen der Verantwortlichen des Bistums. Gemeinden haben ihre Priester auf ein Podest gehoben, das sie unangreifbar macht. Es konnte nicht geschehen sein, was nicht sein durfte. Das Verhalten von Familien ist teilweise unvorstellbar. Den eigenen Kindern wurde teils nicht geglaubt, weil man die Autorität des Priesters nicht antasten wollte. Bestimmte Richtungen der Theologie haben ein Priesterbild gefördert, das den „heiligen Mann“ jeder Kritik enthob. Priester spielten in der Gesellschaft eine Rolle, die sie zu unangreifbaren Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens machte.

Eine solche Kirche will ich nicht mehr. Viele Menschen ebenfalls nicht. Ich habe schreckliche Tatschilderungen gelesen. Solche Taten sind für mich im Grunde im Namen des Evangeliums unvorstellbar. Und doch sind sie geschehen. Ich finde es geradezu unaussprechlich widerwärtig, wenn derartige Verbrechen von Tätern religiös begründet werden. Damit wird im kirchlichen Kontext Glauben zerstört. Ein Glaube an einen Gott, der Leben schenkt und die Kleinen großmachen will. Ich will eine andere Kirche. Diese können wir nur gemeinsam gestalten. Der Glaube an Gott darf nie dazu herhalten, Menschen zu erniedrigen, oder sie zum Instrument für eigene Bedürfnisse zu machen. In der Studie kommt wiederholt ein Thema vor, dessen Ausmaße wir erst langsam begreifen: die schrecklichen Folgen des Missbrauchs geistlicher Autorität, die auch in sexueller Gewalt münden kann. In der Deutschen Bischofskonferenz sind wir erste Schritte gegangen, diese Zusammenhänge anzuschauen und zu bearbeiten.

Es ist eine besondere Stärke der EVV-Studie, dass wir nicht nur eine reine Aktenstudie vor uns haben, sondern dass Rechtsanwalt Weber zahlreiche Gespräche mit Betroffenen und Wissensträgern aus dem Bistum geführt hat. Sein interdisziplinärer Ansatz ist ein großer Gewinn, der eine wichtige Grundlage für die weitere Aufarbeitung im Bistum sein wird. Denn der Abschlussbericht von Herrn Weber ist nicht das Ende der Aufarbeitung im Bistum Mainz. Er ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg der Aufarbeitung, der weitergeht.

Ich möchte heute Ulrich Weber und seinem Team für die viele Arbeit danken, die sie mit der Erstellung dieser Studie auf sich genommen haben. Den Betroffenen und denen, die ihr Wissen in die Studie eingebracht haben, kann ich nur nochmals meinen Dank und meinen Respekt zollen. Dazu gehörte viel Mut und das Vertrauen, dass sie ernst genommen werden. Ich bin dankbar dafür, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Das Sprechen über sexualisierte Gewalt soll kein Tabu mehr in der Kirche sein. Wir wollen aus dem Versagen der Vergangenheit lernen. Mit großem Einsatz engagieren sich im Bistum zahlreiche Haupt- und Ehrenamtliche dafür, dass Präventionsmaßnahmen umgesetzt werden. Wir tun in diesem Bereich mit hohen Standards alles, um Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu verhindern. Es ist ein Kulturwandel, der seit einigen Jahren im Bistum Mainz stattfindet. Dieser Weg ist unumkehrbar. Die Zahl von 20.000 Haupt- und Ehrenamtlichen, die bei uns bereits eine Präventionsschulung absolviert haben, gibt einen Eindruck davon, dass dieser Wandel das ganze Bistum betrifft und nicht allein die Bistumsleitung oder das Bischöfliche Ordinariat.

Papst Franziskus hat vor einigen Wochen in einem Interview den Wert von Kritik auch an seiner eigenen Person hervorgehoben „Kritik hilft, zu wachsen und Dinge zu verbessern“, sagte er damals. Das kann ich mit Blick auf das Thema Missbrauch auch für die Kirche und unser Bistum sagen. Aber es darf nicht eine statische Kritik sein, die keinerlei Veränderung und Entwicklung wahrnimmt oder wahrnehmen will. Ich lade dazu ein, den grundlegenden Wandel in dieser Frage zur Kenntnis zu nehmen. Gewiss brauchen wir einen langen Atem auf diesem Weg. Und ich habe auch die Hoffnung, dass unsere Bemühungen in der Kirche einen Beitrag dazu leisten, den Umgang mit Missbrauch und Betroffenen in anderen gesellschaftlichen Bereichen voranzubringen.

Als Kirche sind wir zurzeit in einer tiefen Krise, aus vielfältigen Gründen. Aber die Geschichte zeigt, dass sich die Kirche stets weiterentwickelt hat. In dieser Zuversicht treiben wir im Bistum die Aufarbeitung voran. Und in dieser Zuversicht werde ich auch morgen zum Synodalen Weg fahren, dessen letzte Sitzung in Frankfurt beginnt. Die Missbrauchsthematik und vor allem die MHG-Studie aus dem Jahr 2018 sind Ausgangspunkt für dieses neue Miteinander von Laien und Bischöfen in Deutschland, das wir uns auch im Bistum Mainz zu eigen machen.

In unserem Bistum fangen wir nicht bei Null an. Dennoch gibt es den Bedarf einer Weiterentwicklung synodaler Strukturen und eines Miteinanders bei uns. Es gibt, wie Sie wahrnehmen, Widerstände gegen eine derartige Kulturveränderung der Kirche auch von Seiten Roms, aber nicht nur von dort. Dennoch scheint mir der Prozess einer Veränderung unumkehrbar zu sein. Die Studie spricht es deutlich an: Missbrauch ist immer verbunden mit Machtausübung, einer bestimmten Sexualmoral und dem kirchlichen Umgang mit ihr, mit männerbündischen Netzen und auch der priesterlichen Lebensform und deren Selbstverständnis – unbeschadet der Tatsache, dass es nicht nur Missbrauchstäter aus dem Priesterstand gab und gibt.

Papst Franziskus will eine synodale Kirche, eine Kirche, die Menschen einbindet in Beratungen und Entscheidungen. Wenn wir das ernst nehmen, wird dies die kirchliche Kultur entscheidend verändern. Zu oft lese ich in der Studie von einsamen, nicht kommunizierten Vorgängen. Das war die Folge eines bestimmten Kirchenverständnisses. Dieses Bild von Kirche will ich und müssen wir verändern. Dass es nicht um Belanglosigkeiten geht, merken wir alle an den Reaktionen auf diese ersten Schritte, die die Kirche nicht nur in Deutschland, sondern weltweit geht.

Generalvikar Bentz während der Pressekonferenz zu EVV am 8 März 2023

Stellungnahme von Weihbischof und Generalvikar Dr. Udo Markus Bentz

„Es wird im Bistum viel mehr gewusst, als wir wissen.“ Das war 2019 meine Überzeugung, als wir das Projekt EVV initiierten. In meiner neuen Verantwortung als Generalvikar war ich zum ersten Mal mit Strafakten konfrontiert. Es gab die Gespräche mit Betroffenen und Beschuldigten. Ich wollte mehr wissen. Ich musste mehr erfahren. Heute weiß ich durch die Studie tatsächlich mehr als bisher. Ich weiß mehr, als ich durch meine eigene Akteneinsicht erkennen konnte. Und ich bin bestätigt worden. Allerdings in einem erschreckenden Maße.

Die letzten Tage habe ich viele Stunden gelesen, Seite für Seite. Es hat mich aufgewühlt: Das ans Tageslicht kommende Leid, die widerfahrene Ungerechtigkeit und das gefährlich-fahrlässige Handeln. Es ist schwer erträglich. Der gebündelte Blick auf das, was geschehen ist und was unterlassen wurde – in dem Ausmaß hatte ich es nicht für möglich gehalten.

Wir wissen jetzt mehr, als wir bisher wussten: vor allem, wie tief der Graben zwischen öffentlicher Rede und internem Handeln über weite Strecken war. Etliche Menschen - manche mit Wut, andere mit Traurigkeit - haben mir im Blick auf Kardinal Lehmann gesagt: Mein Bild von ihm ist zerbrochen! Mir ergeht es ähnlich.

Mich treiben Fragen um: Wie geht das zusammen?

  • Seine Empathie für Menschen, die ihm von ihrem - gerade auch kirchlich verursachten - Leid erzählten, andererseits aber die Abwehr, sich dem Leid von Betroffenen sexualisierter Gewalt persönlich zu stellen?
  • Seine scharfsinnige Analyse, wie theologische Denkmuster und institutionelle Verkrustungen den Menschen Leid zufügen; sein unbeugsames Engagement, Kirche zu Veränderungen anzutreiben, andererseits aber ausgerechnet zu sexualisierter Gewalt in der Kirche systemische Ursachen in Abrede zu stellen?
  • Ich weiß, dass ihn in seinem theologischen Denken „eine sündige Kirche“ umgetrieben hat. Gerade deshalb frage ich mich: Warum hat er dennoch nicht anders gehandelt?

Ich habe das Gefühl, als hätte ich nur noch Splitter der Wirklichkeit in den Händen. Ich kann sie momentan nicht zusammenfügen. Vielen ergeht es ähnlich. Wir werden gemeinsam um eine angemessene Erinnerungskultur der ganzen Wirklichkeit seines Wirkens ringen müssen! Das gilt auch für die anderen Bischöfe und Verantwortungsträger. Auch über sie wurde verborgenes Wissen gehoben.

Die Studie dokumentiert auch: Ja, es gab Entwicklungen. Aber Veränderungen geschahen viel zu langsam. Ganz lange handelte man nur aufgrund von äußerem Druck. Man hat erst dann etwas verändert, wenn es gar nicht mehr anders ging. Die Studie führt uns vor Augen: Es brauchte den Druck von außen. Die Studie schreibt uns aber auch ins Stammbuch: Druck alleine reicht nicht für nachhaltige Veränderungen. Es braucht innere Überzeugung, eine gute Unterscheidung im Geist des Evangeliums, vor allem aber einen klaren Willen, sich als „Kirche unterwegs“ und deshalb als lernende Institution zu begreifen - auf allen Ebenen.

Die Zeugnisse der Betroffenen haben eine enorme Wucht. Das ist eine der Stärken dieser Studie:  Sie gibt den Betroffenen ganz viel Raum. Die Studie löst ein, was ihr Auftrag war: Öffentlichkeit herzustellen über das, was man bisher nicht wahrhaben wollte; das verborgene Wissen all derer zu heben, die bisher keine Chance oder nicht den Mut hatten zu reden. Ein neues Bild der Wirklichkeit liegt vor uns. Das Sprechen der Betroffenen, das gehobene Wissen des Umfeldes und die ungeschönte Analyse der Akten und internen Abläufe zeichnen dieses neues Bild der Wirklichkeit. Dahinter können wir nicht mehr zurück - weder die Verantwortungsträger, noch die Menschen in unseren Gemeinden und Einrichtungen.

Es braucht noch viel Anstrengung, die Aufarbeitung im Bistum Mainz weiter voranzubringen und weitere Konsequenzen daraus zu ziehen. Dafür bin ich angetreten als Generalvikar. Für eine lernende Kirche, für Professionalisierung, für good Governance. Das fordert auch die Studie. Ich nehme sehr ernst, welche Organisationsmängel in den Darlegungen von Weber und Baumeister vor allem im 5. Kapitel benannt werden, und was sie uns mitgeben für die weitere Organisationsentwicklung. Wir haben jetzt schon zusätzliche Fachkräfte eingestellt, um die komplexen Prozesse auf allen Gebieten unseres kirchlichen Handelns neu aufeinander abzustimmen und weiterzuentwickeln.

Weber und Baumeister haben die schon umgesetzten Ergebnisse der lernenden Organisation dokumentiert:

  • Die unabhängige Expertise wird konsequent in allen Phasen des Interventionsgeschehens eingebunden.
  • Melde- und Verfahrenswege werden klar und transparent geregelt.
  • Die geschaffenen Rahmenbedingungen unterstützen die Betroffenen in der sensiblen Situation sich zu melden; hier haben wir personelle Änderungen vornehmen müssen und uns mittlerweile neu aufgestellt.
  • Die alten exklusiven Entscheidungszirkel auf der Ebene der Bistumsleitung wurden aufgebrochen: unter anderem im Beraterstab und mit der Schaffung einer multiperspektivischen Personalkonferenz.
  • Vor allem aber ist auch das neue Amt der Bevollmächtigten des Generalvikars eine sehr wirkungsvolle Konsequenz dieses Lernprozesses: Intervention und Aufarbeitung bleiben weiterhin „Chefsache“, Macht und Verantwortung werden geteilt aber dennoch gemeinsam wahrgenommen.

Die von Weber so genannten Phasen Lehmann II + III haben gezeigt, dass eine Aufteilung in eine „politische“ und in eine „operative“ Verantwortung dann verhängnisvoll sein kann, wenn Entscheidungen nicht wirklich gemeinsam verantwortet werden. Dazu nimmt uns die EVV-Studie in die Pflicht: Keiner soll künftig sagen können, er habe Verantwortung „wegdelegiert“. Jeder hat seinen Part der Verantwortung einzubringen.

Um das sicherzustellen, braucht es nicht nur veränderte Strukturen. Die besten Verfahren nutzen wenig, wenn die beteiligten Akteure nicht auch mit adäquaten Haltungen agieren. Daher braucht es:

  • eine angemessene Kommunikation,
  • sensible Abwägungen zwischen verlässlicher Standardisierung und notwendigen individuelle Lösungen,
  • die Bereitschaft, Rechenschaft zu geben,
  • Mut zur Initiative und Eigenverantwortung,
  • und die Sensibilität, systemische Zusammenhänge zu erkennen und zur Sprache zu bringen.

Dafür setze ich mich ein und stehe auch dazu in Zukunft. Weitere Aspekte kommen hinzu. Wir arbeiten an einem alle Bereiche umfassenden institutionellen Schutzkonzept. Derzeit läuft ein umfangreiches Qualifizierungsprogramm zur Führungs- und Leitungsverantwortung. Mehr als 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden darin derzeit geschult. Das sind wichtige Bausteine der Qualitätssicherung kirchlichen Handelns.

Diese Lernschritte aus der schmerzhaften Erfahrung kirchlichen Versagens dürfen nicht auf das Segment „Intervention und Prävention“ begrenzt bleiben. Es ist ein Trugschluss zu meinen, eine neue Kultur allein in diesem Bereich schaffe Glaubwürdigkeit für das Ganze. Eine kirchliche Führungskultur, die dem Anspruch unserer eigenen Verkündigung und unseren Überzeugungen aus dem Evangelium standhält, betrifft das ganze kirchliche Handeln. Eine glaubwürdige Kirche muss nicht nur glaubwürdig handeln. Eine glaubwürdige Kirche muss auch glaubwürdig organisiert sein.

Die Studie bestärkt mich in meiner Überzeugung: Es braucht eine Qualitätssicherung unserer Seelsorge, damit wir in guter und verlässlicher Weise nah bei den Menschen sein können!

Es ist an vielen Stellen immer noch nicht selbstverständlich, sich so als lernende Kirche zu begreifen. Ich habe auch Widerstand, Gleichgültigkeit und Skepsis gegenüber diesen Lernschritten erlebt. Es gibt aber bei uns zu einem ganz großen Teil engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diesen Weg aktiv und mit viel über das normale Maß hinausgehendem Engagement unterstützen! So wie es nie nur einzelne Verantwortungsträger sind, die ein System zerrütten - das hat die Studie gezeigt -, so können es nie nur einzelne wenige Verantwortungsträger sein, die eine Organisation weiterentwickeln. Deshalb ist es mir ein ausdrückliches Anliegen, hier auch allen zu danken, die mit uns den Karren aus dem Schlamm ziehen! Bei allen immer noch vorhandenen Unzulänglichkeiten und Optimierungsmöglichkeiten erlebe ich, wie viele wir sind, unserem Bistum gemeinsam eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Glaubwürdigkeit kann man nicht machen, sie wird einem geschenkt. Neues Vertrauen kann man nicht einfordern, es muss wachsen. Aber man kann für all das den Boden bereiten. Ich will mich weiterhin mit allen Kräften dafür einsetzen!

Stephanie Rieth während der Pressekonferenz zu EVV am 8 März 2023

Stellungnahme von der Bevollmächtigten des Generalvikars, Ordinariatsdirektorin Stephanie Rieth

Zu allererst möchte auch ich mich bei den vielen Betroffenen von sexualisierter Gewalt bedanken, die den Mut hatten, von ihrer Geschichte zu erzählen. Ohne sie gäbe es diese Studie nicht. Ich bin durch meine tägliche Arbeit mit vielen Inhalten, die in die Studie Eingang gefunden haben, vertraut. Die Erlebnisse von Betroffenen jedoch in dieser Dichte und Brutalität lesen zu müssen, hat mich bestürzt.

Wir haben schonungslos erfahren und erkennen an: Da ist in zweifacher Weise Unrecht geschehen, das zum Himmel schreit. Durch den Missbrauch, den Betroffene erleben mussten und durch die Art und Weise, in der damit umgegangen wurde. Ich kann nur erahnen, wie sehr die Erinnerung und die Schilderung der Vorgänge für viele Betroffene nach wie vor mit schwersten Belastungen verbunden sind. Es bleibt der Missbrauch und der Umgang damit als furchtbares Verbrechen Einzelner, aber zugleich auch als Versagen der Institution.

Bei der Aufarbeitung dieses Verbrechens wird es unumgänglich sein, dass wir in der Kirche mehr und mehr lernen, uns auf Augenhöhe zu begegnen. Kein Mensch gehört auf ein Podest: kein Priester, keine Amtsträgerin, kein Mitarbeiter, kein Bischof. Die Überhöhung von Menschen hat wesentlich dazu beigetragen, dass Missbrauch in diesem Ausmaß möglich war – das haben die Autoren der Studie in der systemischen Auswertung überzeugend dargelegt.

Die EVV-Studie zeigt klar und deutlich, wo unsere weiteren Aufgaben im Bereich von Intervention, Aufarbeitung und Prävention liegen. Dafür habe ich als Bevollmächtigte des Generalvikars Verantwortung übernommen und trage diese gemeinsam mit dem Bischof und dem Generalvikar. Und ich bin mir der besonderen Aufgabe bewusst, dass ich als nicht-geweihte Person, als Frau in der Bistumsleitung, eine Perspektive einbringe, die den bisherigen rein innerklerikalen Umgang mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs durchbricht.

Wie können und müssen wir nun weitergehen, wie weiterarbeiten mit den Ergebnissen der Studie?

Governance ist ein entscheidendes Thema, wenn wir das, was in der Vergangenheit geschehen ist, in Zukunft verhindern wollen. Wir müssen größte Sorgfalt darauf verwenden, in den Bereichen von Organisation, Führung und Kontrolle unserer Institution nachhaltige Konzepte zu entwickeln. Oder unsere schon bestehenden Konzepte in der Intervention und in der Prävention aber auch darüber hinaus immer wieder zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Der Bischof hat es gesagt: Wir fangen nicht bei null an und zugleich sind wir noch lange nicht am Ende. Wir dürfen nie an ein Ende kommen.

Und – das hat die Studie auch gezeigt – wir haben einige Dilemmata zu berücksichtigen und auszuhalten, die ich aus meinem alltäglichen Tun sehr gut kenne, und für die es keine einfachen Lösungen gibt. Und wir sind uns bewusst, dass diese Dilemmata immer auch Kritik auslösen.

Wir wollen mit Betroffenen in einem zuverlässigen Kontakt bleiben. Unsere Aufgabe dabei ist: Wie gelingt es uns, in der Spannung zwischen individuellem Bedarf und der Notwendigkeit von Standardisierung, dem bzw. der Einzelnen gerecht zu werden? Wie können wir Betroffenen, die das wollen, in angemessener Weise eine spirituelle Hilfestellung geben, gerade wenn doch der Missbrauch Menschen ihre geistliche Heimat geraubt hat?

In unseren Koordinationsstellen Intervention, Aufarbeitung und Prävention haben wir dazu unser Personal verstärkt und die Ressourcen nahezu verdoppelt. Dennoch bleiben die Aufgaben gewaltig.

Wir haben unsere Meldewege klar und transparent beschrieben. Bis heute arbeiten wir daran, dass diese auch konsequent und richtig angewendet werden, was vor Ort immer wieder auch mal eine Herausforderung ist. Im Umgang mit Meldungen von jeglicher Form sexualisierter Gewalt ist kein Spielraum für Toleranz, auch wenn mancher uns deshalb Rigorismus vorwirft. Wir müssen trotzdem vorläufig aus präventiven Gesichtspunkten Maßnahmen ergreifen, ohne dabei die Unschuldsvermutung in Frage zu stellen. Wir erleben auch, dass dies nicht immer ausreichend differenziert wahrgenommen wird.

Zugleich haben wir Verantwortung für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch wenn ihnen gegenüber ein Vorwurf geäußert wird; und wir entwickeln Maßnahmen, mit denen wir auch dieser Situation gerecht werden können. Die Studie zeigt uns die Notwendigkeit, diese Bemühungen auf allen Ebenen weiterzuführen. Das heißt: Im Umgang mit Beschuldigten und Tätern werden wir noch mehr konzeptionell sichern, wie wir Verantwortungsträger in den Pfarreien und Einrichtungen aber auch in anderen Diözesen, in Ordensgemeinschaften oder im Ausland in die Lage versetzen, beispielsweise die Kontrolle von Auflagen zu gewährleisten.

Vor allem aber müssen wir mit den Gemeinden, mit den Gremien und Gruppen in unseren Pfarreien und Einrichtungen noch stärker ins Gespräch kommen. Aufarbeitung muss auch vor Ort möglich werden. Wir müssen eine Erinnerungskultur schaffen, die nicht überdeckt, sondern sichtbar macht, was Menschen an verschiedenen Orten und durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kirche erleiden mussten. Wir haben es an vielen Orten mit hochgradig irritierten Systemen zu tun, weil nach einem Missbrauch, der sehr lange zurückliegen kann, zwei Wahrheiten vorherrschen. Die, die von dem Missbrauch wissen, weil sie ihn selbst erlebt haben, oder weil sie Zeuge oder Zeugin wurden. Und die, die sagen: Das kann nicht sein, das kann und will ich mir nicht vorstellen.

Und das, was Herr Weber und Herr Baumeister in der Studie eindrucksvoll mit zahlreichen Zitaten aus ihren Gesprächen belegen, das erlebe ich noch heute. Es findet an manchen Orten immer noch eine unerträgliche Solidarisierung mit möglicherweise Beschuldigten und gegen möglicherweise Betroffene statt.

Ja, wir müssen darüber reden, im Gespräch bleiben, Verantwortliche in den Pfarreien sprachfähig machen, denn Missbrauch hat eine zerstörerische Kraft. Und damit werden wir die Gemeinden nicht alleine lassen. Ich bin überzeugt: Am Ende ist das Gespräch die wirksamste Prävention - neben allen Maßnahmen, wie zum Beispiel die Institutionellen Schutzkonzepte, die auf der Ebene unserer Pfarreien und Pastoralräume gerade erarbeitet werden. Wir müssen gerade dort noch mehr für die Sensibilisierung und die Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch sorgen, damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene an den Orten, an denen Kirche handelt, sicher sind, damit sie Schutz und geistliche Heimat finden und ihr Vertrauen nicht enttäuscht wird. Eine Kultur der Achtsamkeit, mit Blick auf die eigenen Grenzen und die anderer, muss noch mehr zur unerlässlichen Voraussetzung unseres Handelns werden.

Ein Anrufer bei unserer Hotline, am letzten Wochenende hat angemerkt: „Ich treffe in meiner Pfarrei auf allen Ebenen auf Verharmlosung und Leugnung. Ich wünsche mir, dass die Bistumsleitung alle Möglichkeiten ausschöpft, um auf die Pfarreien einzuwirken, offen mit dem Thema sexualisierte Gewalt umzugehen. Das muss an den untersten Ebenen ankommen.“

Eine besonders deutliche Erkenntnis der Studie ist auch: Wir müssen uns vor allem hinsichtlich der systemischen Beobachtungen und Ergebnisse in all den bisherigen Aufarbeitungsstudien noch viel mehr im überdiözesanen und gesellschaftlichen Dialog vernetzen.

Diesem Anliegen sehe ich mich in gemeinsamer Verantwortung mit dem Generalvikar und dem Bischof verpflichtet, und ich werde möglichst umfassend nicht nur unsere Unabhängige Aufarbeitungskommission, sondern auch Betroffene von sexualisierter Gewalt in die Schritte unseres Handelns einbeziehen. Dafür stehe ich ein.

Zum Schluss möchte ich Sie noch auf zwei Dinge hinweisen:

Unsere Telefonhotline, an die sich Menschen mit ihren Fragen und Anliegen zur EVV-Studie wenden können, ist bis zum 17. März unter 06131/253-522 erreichbar – bis zum 10. März von 8:00 bis 20:00 Uhr, in der Woche vom 11. bis 17. März von 10:00 bis 18:00 Uhr. Eine E-Mail in diesen Anliegen können Sie senden an: kontakt@bistum-mainz.de .

Außerdem werden Bischof Kohlgraf und ich in 5 Dialogveranstaltungen auch in den Regionen des Bistums zum Gespräch zur Verfügung stehen:

13. März in Offenbach um 19:30 Uhr
16. März in Mainz um 19:30 Uhr
23. März online um 19:30 Uhr
24. März in Gießen um 19:30 Uhr
27. März in Bürstadt um 19:30 Uhr
Anmelden können Sie sich jeweils über unsere Homepage: 
bistummainz.de/gegen-sexualisierte-gewalt

FAQ | Fragen und Antworten zur EVV Studie

Rechtsanwaltskanzlei Weber: Vorstellung EVV-Studie am 3. März

EVV unabhängige Studie der Kanzlei Weber

Auf der Website von Rechtsanwalt Weber finden Sie

Pressekonferenz der Mainzer Bistumsleitung nach dem Lesen der Studie: Mittwoch, 8. März

Pressekonferenz
7. März 2023

Video auf Youtube von der Pressekonferenz des Bistums Mainz zur Studie „Erfahren – Verstehen – Vorsorgen“ mit den Stellungnahmen von Bischof Peter Kohlgraf, Weihbischof und Generalvikar Dr. Udo Markus Bentz und Stephanie Rieth, Bevollmächtigte des Generalvikars, Moderation: Tobias Blum, Pressesprecher des Bistums Mainz

Live-Stream aus dem Erbacher Hof in Mainz, zu sehen auf der Website: https://bistummainz.de, auf Facebook: https://www.facebook.com/bistummainz und auf Youtube: https://www.youtube.com/user/bistummainz