„Viele Elemente der konziliaren Erneuerung verdanken sich der Wiederentdeckung des biblischen, patristischen und spirituellen Erbes der Kirche sowie dem neuen Gewicht, das ursprüngliche liturgische Formen (wieder-)bekamen. Wenn dies besser beachtet würde, dann würde man auch Anschauungen kritischer begegnen, die im Konzil einen totalen Neubeginn sehen, einen Bruch zwischen der ,vorkonziliaren' und der ,nachkonziliaren' Kirche erblicken wollen oder im Zweiten Vatikanischen Konzil eine Wiederentdeckung des ursprünglichen Evangeliums sehen wollen, das vorher weitgehend verdunkelt oder gar verdeckt gewesen sei", sagte Lehmann in seinem Vortrag „Zur theologischen und kirchenpolitischen Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils" am Freitag, 12. Oktober.
Lehmanns Vortrag bildete den Auftakt einer Tagung, die anlässlich der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 50 Jahren (11. Oktober 1962) am 12. und 13. Oktober in der Bistumsakademie Erbacher Hof in Mainz stattfand. Sie stand unter der Überschrift „Im Aufbruch - Kultur und Evangelium" und wurde vom Bistum Mainz und der Bistumsakademie Erbacher Hof in Kooperation mit dem Deutschen Kulturrat veranstaltet. Weiter rief der Kardinal dazu auf, die „heute noch gültigen Impulse" des Zweiten Vatikanischen Konzils neu zu entdecken. „Die Erinnerung an das Konzil vor 50 Jahren ist eine gute Gelegenheit, um eine solche ,relecture' des Konzils und damit erste Schritte einzuleiten." Durch die Besinnung auf das Konzil werde an ein geistiges und geistliches Erbe erinnert, „das wir der Vergesslichkeit unserer schnelllebigen Gesellschaft entreißen und in Dankbarkeit neu annehmen wollen". Das Gedächtnis an das Konzil sei ein „herausforderndes Abenteuer, das die Wachheit und Bereitschaft, die Umkehrfähigkeit und die Sensibilität unseres Glaubens auf die Probe stellt. Gerade darum tut lebendige Erinnerung not."
In diesem Zusammenhang forderte Lehmann eine „neue missionarische Initiative". „Wem der Glaube etwas bedeutet, der wird andere zu gewinnen suchen. Dies gilt nicht nur für die ferne Weltmission oder Nichtchristen fremder Herkunft, die bei uns leben, sondern es gilt für die vielen Nichtchristen, vor allem auch in den neuen Bundesländern, aber auch für eine wachsende Zahl in der alten Bundesrepublik Deutschland. Dann hätten wir auch eine Chance, in der geistigen Auseinandersetzung von einer Verteidigungsstellung mit dem Rücken zur Wand loszukommen und inmitten des vielfältigen Pluralismus in unserer Gesellschaft den eigenen Standort offensiver zu markieren", sagte er.
Am Freitagabend fand ein „Offenes Gespräch" zum Thema „Theologie und Kirche der Zukunft - 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil" statt. In seinem Impulsreferat vor dem Gespräch warnte Bischof i.R. Professor Dr. Wolfgang Huber vor einer pessimistischen Beurteilung der Zukunft von Religion und Kirche. „Statt die Fortschrittstheoreme der Neuzeit verfallstheoretisch umzudeuten, sollten wir die Geschichte des Christentums in ihrem unabgeschlossenen und unabschließbaren Charakter wahrnehmen und die Frage nach der Zukunft von Religion und Kirche in den Horizont des verheißenden Reiches Gottes rücken", sagte er. Der Theologie komme eine „neue Verantwortung für verstandenes und verständliches Glaubenswissen" zu. Die Kirche der Zukunft werde dringend auf gute Theologie angewiesen sein: „Ohne solches Rüstzeug wird sie den nötigen Übergang zu einer zukunftsfähigen missionarischen Existenz nicht vollziehen können", betonte Huber.
Im Rahmen der anschließenden Gesprächsrunde forderte Professor Dr. Johann Baptist Metz, Münster, eine „Neualphabetisierung unserer religiösen Sprache". Die Menschen müssten in einer Sprache, „die nicht vorgesprochen ist", über ihren Glauben, ihren Unglauben oder ihre Zweifel sprechen. „Wenn dies nicht in die Mitte der Kirche getragen wird, kommen wir nicht weiter", sagte er. Professor Dr. Otto Hermann Pesch, München, lobte die Atmosphäre des Zweiten Vatikanischen Konzils, die von einer „neuen Freiheit des Fragens" geprägt gewesen sei. „Ich habe damals gelernt, in Glaubensfragen auch einmal neue, ungewohnte Wege zu gehen", sagte er. Moderiert wurde das Gespräch, an dem auch Lehmann und Huber teilnahmen, von Professor Dr. Günther Wassilowsky, Linz, und Professor Dr. Peter Reifenberg Mainz, Direktor der Bistumsakademie Erbacher Hof.
Im Mittelpunkt des zweiten Veranstaltungstages stand wiederum ein „Offenes Gespräch", diesmal zum Thema „Kunst und Kultur nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil". Professor Dr. Thomas Sternberg, Münster, forderte in seinem Impulsreferat „Die kulturprägende Kraft des Zweiten Vatikanischen Konzils", dass die Kirche ein Interesse daran habe müsse, dass es dem kulturellen Leben in Deutschland gut gehe. „Wir brauchen als Kirche kulturpolitische Äußerungen und müssen uns einschalten, wenn kulturelle Institutionen in Gefahr sind", sagte er.
Professorin Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance, Berlin, bezeichnete die Kunst als einen „Garanten" dafür, dass sich eine Institution nicht zu weit von den Menschen und ihren Fragen entferne. Dr. Petra Bahr, Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Berlin, sprach sich dafür aus, als Kirche nicht nur qualifiziert mit Künstlerinnen und Künstlern umzugehen, sondern sich auch theologisch mit ihnen auseinander zu setzen. Sie wünsche sich von der Theologie die gleiche Akribie und Sensibilität, die sie oft bei Künstler beobachtet habe. Joachim Hake, Akademiedirektor Berlin, berichtete von seiner Erfahrung, dass bei Begegnungen von Künstlern und Kirche oft ein schöpferischer Prozess in Gang gesetzt werde. Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Berlin, wies darauf hin, dass die Kirche Künstlern Räume anbieten könne, wo sie ihre Werke in einer anderen Art und Weise als beispielsweise in einem Museum präsentieren könnten. Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident a. D., Speyer, unterstrich, dass die Autonomie und Freiheit des Künstlers diesen nicht vor seinem Respekt vor der Religion entbinde. Es brauche ein „Mindestmaß an Respekt" vor dem, was Menschen heilig ist. Moderiert wurde die Gesprächsrunde von Professor Sternberg.
In seinem Abschlussvortrag „Kultur in Begegnung mit Kirche - Kirche in Begegnung mit Kultur" betonte Kardinal Lehmann, dass der Dialog zwischen Glaube und Kultur „jetzt und künftig zum Grundauftrag der Kirche gehört". „Man darf diese Aufgabe des Dialogs nicht einfach dem Zufall überlassen. So sehr man dafür im Raum der Kirche geeignete Persönlichkeiten braucht, so sehr bedarf es gerade auch angesichts mancher Fremdheit zwischen Glaube und Kultur einer unentwegten und beständigen Vermittlung. Diese muss sich ihre Foren schaffen, die zum Dialog führen", sagte er. Als Orte der Begegnung zwischen Kultur und Glaube nannte Lehmann unter anderem Stiftungen, die Kirchlichen Akademien oder die kirchliche Erwachsenenbildung.
Der Kardinal wies darauf hin, dass die Kirchen der zweitgrößte Kulturförderer in Deutschland seien. „In der Tat finden die kulturorientierten Veranstaltungen der Kirchen, vor allem einschließlich von Kunst und Musik, ein großes Interesse und werden in der Kirche vielleicht immer noch in ihrer auch missionarischen Bedeutung unterschätzt", betonte er. Lehmann sprach sich dafür aus, dass die Kirche auch weiterhin an Kulturschaffende Aufträge vergibt. „War die Kirche früher in einem sehr umfassenden Sinne Mäzen, so darf sie heute bei bescheideneren Mitteln nicht auf Auftragsarbeiten verzichten. Sie muss dabei auch den Mut haben, an anerkannte Künstler heranzutreten, die in ihrem bisherigen Werk vielleicht wenig oder kaum christliche Themen gestaltet haben. Die Glasfenster von Gerhard Richter im Kölner Dom sind nur ein Beispiel", sagte er.
Die Kirche müsse in dem Dialog zwischen Glaube und Kultur aufmerksam bleiben, „damit sie verborgene oder bisher wenig genutzte Anknüpfungspunkte für den Glauben nicht verkennt, weil ihr manches vielleicht kühn, provozierend und sogar ärgerlich erscheint". Die Kunst könne „die Erfahrung des Menschlichen im Raum der Kirche fördern und vertiefen". „Wer hier bei großen künstlerischen Leistungen den Weg des Menschlichen nicht mitgeht und zu früh den Dialog abbricht, verkürzt nicht selten wichtige Dimensionen des Menschseins und raubt so auch dem Christlichen die Kraft zur Durchdringung der Welt und der Kultur", sagte der Kardinal.
Im Rahmen der Tagung sprach außerdem Professor Wassilowsky zum Thema „Theologie für die Welt - Karl Rahners Beitrag zum Zweiten Vatikanischen Konzil und seine Interpretation"; Professor Pesch referierte über die „Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils im Blick auf die Glaubens- und Kirchenkrise". Zudem bereicherte Dr. Martin Posselt vom Bayerischen Rundfunk die Tagung mit vier Filmausschnitten über das Zweite Vatikanische Konzil. Zu Beginn hatten Professor Reifenberg und Regine Möbius, Vizepräsidentin des Deutschen Kulturrates, Berlin, die Anwesenden begrüßt.
Hinweis: Die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Bistums Mainz hat eine Internetseite zum Zweiten Vatikanischen Konzil mit zahlreichen Fotos, Texten und Veranstaltungshinweisen veröffentlicht: www.bistum-mainz.de/konzil