In der aktuellen Debatte um das „Nihil obstat“ für Pater Ansgar Wucherpfennig SJ, den Rektor der Hochschule Sankt Georgen/Frankfurt, geht es auch um den rechten und angemessenen Umgang mit Texten der Heiligen Schrift und um die Frage, ob es legitim sein kann, mit einzelnen Sätzen eine kirchliche Praxis und Lehre heute zu begründen. Konkret steht die Frage im Raum, ob eine Aussage des Apostels Paulus im Römerbrief (Röm 1,26 f.) über homosexuelle Praxis im „Heidentum“ eine auch heute noch allgemein gültige Aussage sein könne. Paulus zeichnet ein dunkles Szenarium in Judentum und Heidentum, um die Gerechtigkeit aus dem Glauben an Christus umso heller aufstrahlen zu lassen. Eine exegetische Anfrage des Exegeten Pater Ansgar Wucherpfennig SJ scheint diesem jetzt zum Problem geworden zu sein. Ob die Deutung des Neutestamentlers stimmt oder nicht: Als Bischof werbe ich für die Möglichkeit einer wissenschaftlich verantworteten Bibelauslegung, die den Vorgaben des II. Vatikanums entspricht.
Christliche Theologie bewegt sich im Spannungsfeld des Bewahrens und des neuen Verstehens der Offenbarung. Dabei ist nicht auszuschließen, dass das Verständnis der Kirche aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse „reift“ (Dogmatische Konstitution „Dei Verbum“ über die göttliche Offenbarung 12). Um die Heilige Schrift tiefer zu verstehen, ermutigt die Offenbarungskonstitution des II. Vatikanums zu einer vertieften wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Texten, wozu auch eine historisch-kritische Einordnung gehört. Gott redet in der Schrift „durch Menschen nach Menschenart“ (DV 12), in unterschiedlichen Textgattungen, durch Jahrhunderte hindurch vor dem Hintergrund unterschiedlicher historischer Bedingungen und Adressaten. Wer die Bibel einfach so liest, ohne sich dieses christlichen Offenbarungsverständnisses bewusst zu sein, stößt auf große Schwierigkeiten. Er begegnet Stellen, die sich widersprechen, die nachweislich falsch sind, die schwierig und dunkel bleiben, die zeitbedingt heute neu gedacht werden müssten. Das christliche Offenbarungsverständnis, die Bibel sei Gotteswort im wirklichen Menschenwort, und daher aus der Zeit der Entstehung heraus verstehbar, warnt vor einer solchen Bibellektüre. In der wissenschaftlichen Theologie bemühen sich die Theologen um derartige Fragen: Was ist zeitbedingt, wie kann man das Zeitbedingte für den heutigen Menschen fruchtbar machen? Dafür muss man die Geschichte kennen, die Entstehung von Texten, den Hintergrund der Autoren und der Adressaten, und man muss sich auch mit der Wirkungsgeschichte von Texten auseinandersetzen. Dann ist nicht jeder Satz der Heiligen Schrift unveränderliche Wahrheit, zumindest nicht im wörtlich verstandenen Sinn.
Diese Gedanken sind nicht die originellen Einsichten des Bischofs von Mainz, sondern beschäftigen bereits die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte, die sich nicht mit der vordergründigen wörtlichen Interpretation biblischer Texte begnügen. Auch die päpstliche Bibelkommission warnt vor einem unkritischen wörtlichen Textverständnis zahlreicher biblischer Stellen bereits 1993[1]: „Das Grundproblem dieses fundamentalistischen Umgangs mit der Heiligen Schrift besteht darin, dass er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. Er weigert sich zuzugeben, dass das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und unter göttlicher Inspiration von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre. Er sieht nicht, dass das Wort Gottes in einer Sprache und in einem Stil formuliert worden ist, die durch die jeweilige Epoche der Texte bedingt sind. Er schenkt den literarischen Gattungen und der menschlichen Denkart, wie sie in den biblischen Texten vorliegen, keinerlei Beachtung, obschon sie Frucht einer sich über mehrere Zeitepochen erstreckenden Erarbeitung sind.“
Als der Papst vor einigen Wochen ankündigte, den Katechismus hinsichtlich der Bewertung der Todesstrafe zu ändern, gab es bald auch besonders in den USA heftigen Widerspruch: Der Papst könne nicht göttliche Offenbarung verändern, die eben in der Bibel formuliert sei. Wenn jeder Satz direkt wörtlich geoffenbarte unveränderliche Wahrheit wäre, müssten wir aktuell Ehebrecher, Gotteslästerer, Wahrsager, ungehorsame Söhne und Töchter und Menschen, die am Sabbat ihr Auto waschen, steinigen. Der Hase wäre ein Wiederkäuer (Dtn 14,7), und man könnte zahlreiche Beispiele nennen, die unser Leben heute nicht mehr prägen. Religiöse Bildung und theologische Forschung sind notwendig, um das Verständnis der Heiligen Schrift zu retten und sie gegebenenfalls nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. Wissenschaftliche Erkenntnisse muss man mit den Themen der Heiligen Schrift ins Gespräch bringen dürfen, wie es Theologen zu jeder Zeit versucht haben. Als Bischof muss ich nicht jede theologische Meinung teilen, aber wir können die Debatten nicht unterdrücken, da wir nicht ausschließen können, dass sie der Reifung der Erkenntnis in der Kirche helfen.
[1] Päpstliche Bibelkommission, Die Interpretation der Bibel in der Kirche = Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 115 v. 23. April 1993 (5. Auflage 2017), bes. 72f..