Gauck: Öffnung der Stasi-Archive ist Zeichen großer Reife unserer Nation

Wormser Kreuzganggespräch mit Joachim Gauck / Abschluss der diesjährigen Reihe

CAPPABIANCA--GAUCK (c) Bistum Mainz / Matschak (Ersteller: Bistum Mainz / Matschak)
Datum:
Do. 30. Okt. 2008
Von:
am (MBN)
Worms. Das Öffnen der Archive der Staatssicherheit der DDR hat Joachim Gauck als „Zeichen großer Reife unserer Nation“ bezeichnet.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Opfer der Nazis oft wie Bettler vor den verschlossenen Toren der Archive, weil man meinte, die Persönlichkeitsrechte der Täter mehr schützen zu müssen als die der Opfer. Mit der Öffnung der Stasi-Archive muten wir den Tätern jetzt mehr zu als den Opfern", sagte Gauck beim dritten Kreuzganggespräch am Dienstag, 28. Oktober, im Dominikanerkloster St. Paulus in Worms. Die Reihe Kreuzganggespräche im Oktober stand unter der Überschrift „Lebenswenden" und wurde von Pater Max Cappabianca moderiert. Zu dem Gespräch mit Joachim Gauck waren rund 250 Besucher in die Kirche St. Paulus gekommen.

Der heute 68-jährige Gauck stammt aus Rostock und studierte dort evangelische Theologie. Später arbeitete er dort als Pastor. In der Zeit der Wende war er Mitglied und Sprecher des Neuen Forums Rostock. Von März 1990 bis zur Wiedervereinigung im Oktober desselben Jahres war Gauck Abgeordneter der Volkskammer. Danach war er von 1990 bis 2000 „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" und Leiter der nach ihm benannten „Gauck-Behörde", die die Stasi-Unterlagen verwaltet. Er ist heute Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.".

Gauck erteilte gleichzeitig der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Zeit der DDR eine klare Absage: „Ein Schlussstrich ist unmoralisch, da er die besser stellt, die früher oben waren, und die schlechter, die früher unten waren", sagte er. Ein Schlussstrich funktioniere vielleicht eine kurze Zeit. Aber die Konflikte brächen irgendwann wieder auf, was am Beispiel der Aufarbeitung der Nazizeit nachvollzogen werden könne. „Wir neigen dazu, uns an das zu erinnern, was uns nicht belastet", sagte Gauck. Aber vor allem in der Politik müsse auch an das erinnert werden, was schmerzhaft war. Die Wahrheit rufe oft Konflikte hervor, betonte er. Aber nur mit Hilfe der Wahrheit, die er als „Lebenselixier in allen Bereichen" bezeichnete, sei es möglich, eine Krise zu bewältigen. „Mit Wahrheit ist Vergebung möglich", sagte Gauck.

„Nur wenige haben in der DDR ein autonomes Leben geführt"

Gauck berichtete auch über die Zeit der so genannten „Wende" in der DDR im Sommer und Herbst 1989: „Die Christen in der DDR haben massiv daran mitgewirkt, dass es zu einer wirklichen, echten Wende kam", sagte er. Gleichwohl sei es in DDR sehr schwierig gewesen, sich als Christ zu behaupten. In einem diktatorischen System wie der DDR, wo Angst, Unterordnung und Anpassung herrschte, habe es nur wenige gegeben, denen es gelungen sei, ein autonomes Leben zu führen. „Solche Systeme gibt es, weil es uns gibt. Denn die Verführung sich anzupassen, ist groß. Und nach und nach bekommt die Unterwerfung unter ein System wie das der DDR eine innere Logik", sagte Gauck. Dass es zu der Revolution in der DDR gekommen sei, habe er von den Ostdeutschen aufgrund der vielen Jahre der Anpassung „nicht mehr erwartet".

Er rief die Zuhörer eindringlich dazu auf, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. „Als autonome Bürger sollten wir die Gesellschaft mitgestalten", sagte er. „Ich fürchte mich vor der Rückverwandlung des Bürgers in den Konsumenten." Er bezeichnete beispielsweise die Möglichkeit, sich als Bürger an Wahlen zu beteiligen, als „keine Selbstverständlichkeit". „Ich habe mit 50 Jahren erstmals frei wählen können. Beim Verlassen des Wahllokals habe ich feuchte Augen gehabt", erzählte Gauck. Auch heute sei es nach wie vor wichtig, sich von der „Herrschaft der Angst" zu befreien: „Wir sollten uns nicht vor den Götzen der Zeit verbeugen", betonte er. „Unsere Seele belohnt es nicht, wenn wir es uns zu einfach machen. Aber wir werden belohnt, wenn wir das machen, was in uns schlummert", hob Gauck hervor.