„Ich bitte alle, die Türen aufzumachen und aufzubrechen“

Pontifikalamt zum Pfingstfest mit Bischof Kohlgraf im Mainzer Dom

Mainz, 9.6.2019: Bischof Peter Kohlgraf rief dazu auf, für den Pastoralen Weg die Türen aufzumachen und aufzubrechen. (c) Bistum Mainz / Matschak
Datum:
So. 9. Juni 2019
Von:
am (MBN)

Mainz. Anlässlich des Pfingstfestes am Sonntag, 9. Juni, hat der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf gemeinsam mit dem Mainzer Domstift ein Pontifikalamt gefeiert. Der Gottesdienst stand im Zeichen des Pastoralen Weges des Bistums Mainz und bildete eine Brücke zu dem Workshoptag, der vor einer Woche, am Samstag, 1. Juni, stattgefunden hatte. 300 Menschen waren an diesem Tag nach Mainz gekommen, um sich austauschen und ihre Perspektiven und Überlegungen zum Pastoralen Weg einzubringen.

Mainz, 9.6.2019: Der Gottesdienst zu Pfingsten sei der

Im Gottesdienst wurden Fürbitten verlesen, die während des Workshoptags im „Raum der Stille“ von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufgeschrieben worden waren. Auch die Pfarreien im Bistum Mainz waren eingeladen, diese Bitten in ihren Pfingstgottesdiensten zu verlesen. Darüber hinaus ist bei einer Kreativ-Aktion beim Workshoptag („Meine Farbe für den Pastoralen Weg“) ein farbiges Mosaik entstanden, das nun Titelbild für ein Gebetsbild für den Pastoralen Weg ist. Das Gebetsbild wurde im Mainzer Dom verteilt und an die Pfarreien in der Diözese versendet. Die Gemeinden waren ebenfalls eingeladen, in den Pfingstgottesdiensten dieses Gebet zu beten.

Musikalisch gestaltet wurde der Pfingstgottesdienst durch den Mainzer Domchor, den Domkammerchor und die Mainzer Dombläser unter Leitung von Domkapellmeister Karsten Storck sowie durch eine Musikband unter der Leitung von Thomas Gabriel, Hainstadt.

Predigt von Bischof Kohlgraf

Bischof Kohlgraf hat im Gottesdienst zum Pfingstfest eine Predigt zum Pastoralen Weg des Bistums Mainz gehalten. Im Folgenden dokumentieren wir den Wortlaut der Predigt des Mainzer Bischofs:

„Alle waren zusammen am selben Ort“ – so beginnt die Pfingstgeschichte. Eigentlich läuft alles rund. Jesus ist von den Toten auferstanden, dieser Glaube führt die Jünger zusammen. Sie haben sogar schon begonnen, die Gemeinde zu organisieren. Im Kapitel vorher wird von der Wahl des Apostels Matthias erzählt. Das heißt, wir haben eine Gemeinde vor uns, die sich versammelt, die betet, die ihre Leitungsämter vorweisen kann, und die aus der Erfahrung lebt, dass Jesus auferstanden ist. Sie hat einen festen Ort, an dem sie sich trifft, die Gruppe gibt den Jüngern Halt und die Erfahrung einer engen Gemeinschaft im Glauben. Es sind wenige, aber sie sind immerhin die Auserwählten, die, welche Jesus gefolgt sind und die jetzt in seiner Gegenwart leben. Vielleicht erzählen sie sich immer wieder von den guten alten Zeiten, als sie mit Jesus unterwegs waren. Welche großartigen Gespräche führten sie damals, wie großartig waren die Wunder, die Jesus wirkte, und nun die Auferstehung! Sie verharren „einmütig im Gebet“.

Aber worum beten sie? Vielleicht ist ihr Gebet eine Kontaktaufnahme mit dem Auferstandenen, es ist ein ruhiges Verharren in seiner Gegenwart. Ob die Gruppe der Jüngerinnen und Jünger sorglos in den Tag gelebt hat? Wir wissen es nicht, aber wir spüren, trotz der geordneten Abläufe, dass eine Initialzündung fehlt. Eine glaubende, betende Kirche, die Jesus in ihrer Mitte weiß, die ihre Gemeinschaft genießt, die von den guten früheren Zeiten redet, die sich organisiert – ich erkenne auch unsere Kirche und unsere Gemeinden darin wieder.

Offenbar ist das noch nicht die Art von Kirche, die der Auferstandene sich vorstellt. Da kommt plötzlich die Initialzündung: wie ein Brausen, ein Feuer, ein Sturm. Ich erinnere mich an ein Bildwort des Papstes: Jesus klopft von innen an die Türen unserer Kirche, damit wir ihn endlich herauskommen lassen. Dieser Aufbruch ist nicht organisiert, sondern wird in den Jüngerinnen und Jüngern vom Geist Gottes selbst bewirkt. Man hat nicht den Eindruck, dass den Jüngern etwas anderes übrigbleibt, als sich bewegen zu lassen. Was ihnen wohl durch den Kopf gegangen ist, in diesem Augenblick? „Endlich bewegt sich etwas?“ oder: „Es war gerade so schön?“ oder: „Was soll das denn jetzt“? oder „Großartig, was wir hier spüren!“ oder vielleicht auch Angst: „Was geschieht mit uns?“. Eines können wir sicher sagen: Sie spüren, dass da etwas Neues beginnt, eine neue Form von Gemeinschaft, eine andere, größere Art von Kirche als die, die sie machen, planen, organisieren können. Es beginnt ein Weg, dessen Ende nicht absehbar ist, aber an dessen Beginn sie wohl spüren, dass sie zu diesem Weg bewegt werden, nicht aus eigenem Antrieb, sondern vom Geist Gottes selbst, der brennt, der stürmt, der bewegt.

Finden wir uns in den wenigen Jüngerinnen und Jüngern von damals wieder? Wie damals befinden wir uns am Anfang eines Aufbruchs aus der Sicherheit des geschlossenen Raumes, der bekannten Gruppe, der Gemütlichkeit, die wir uns über die vergangenen Jahre und Jahrzehnte eingerichtet haben, scheinbar gute und manchmal wirklich gute Jahre und Situationen. Wir spüren vielleicht weniger das Wehen des Geistes, als die Notwendigkeit, auf die Zeichen der Zeit zu reagieren. Ein Theologe (Marie Dominique Chenu OP) hat aber diese „Zeichen der Zeit“ als eine „Tatsache, die etwas offenbart“ bezeichnet, als etwas, das uns zwingt, neu zu sehen, Gewohntes zu durchbrechen. Vielleicht sollten wir die Zeit und ihre Herausforderungen an die Kirche in erster Linie nicht als Zeit des Abbruchs, sondern auch als Zeit des Aufbruchs, der Neuorientierung sehen, in die uns der Geist heute hineinführt. Sicher haben sich die Gläubigen damals wie wir heute auch Sorgen gemacht. Eine Option gibt ihnen der Geist jedoch nicht: die Option, hinter den Türen sitzen zu bleiben und es sich weiter bequem zu machen.

Ich denke an den Workshoptag vergangene Woche zurück. 300 Gläubige haben sich dem Aufbruch gestellt. Ich bin dankbar für so viel Bereitschaft zum Aufbruch, aber auch für den Realismus und die berechtigten Fragen. Es werden viele kleine Aufbrüche folgen, die wir heute noch gar nicht absehen können. Bitten wir den Geist, dass er uns vor der Versuchung bewahrt, uns ängstlich einzuigeln in das Gewohnte allein. Auch vor der Versuchung zu meinen, wenn alles gut organisiert ist, läuft es dann wieder rund. Der Geist bleibt hoffentlich immer für Überraschungen gut. Es wird auch Zeit brauchen zu fragen, die Sorgen zu teilen und auch zu trauern. Aufbruch, Sturm und Feuer lösen auch Schmerzen aus. In den Gesprächen nicht nur letzte Woche war auch dies zu spüren. Aber ich meine, dass viele Menschen auch spüren: Eine Kirche, die nur gut verwaltet, organisiert und rund läuft, muss zusehen, dass sie keine „geist“-lose Kirche wird.

Auf jede und jeden ließ sich eine Feuerzunge nieder. Die Apostelgeschichte überliefert die Erfahrung einer Gemeinde, in der jeder und jede eine Geistesgabe einbringen kann. Alle Getauften sind „Geistliche“, nicht nur die sakramental geweihten Diakone, Priester und Bischöfe. Längst hat sich dieses Bewusstsein noch nicht durchgesetzt. Der Apostel Paulus sieht das Amt des Leiters einer Gemeinde als ein Charisma im Zusammenspiel mit den anderen. Dieses Bewusstsein gilt es neu zu entwickeln und zu vertiefen. Beim Workshoptag wurde dieser Auftrag als die größte Herausforderung herausgestellt: Verantwortung teilen als Neuentdeckung eines biblischen Gemeindeverständnisses. Auch heute sind Menschen der Bewegung Maria 2.0 hier, die deutlich die Anliegen zahlreicher Gläubigen einbringen mit der Forderung, sie ernst zu nehmen und es nicht bei Worten zu belassen. Hauptamtliche und Priester fragen daneben nach ihrer zukünftigen Rolle.

Wir werden auf dem Pastoralen Weg auch über Modelle geteilter Leitung reden und sicher auch Wege finden, die für uns passen. Ich kann alle nur bitten, sich dem offenen Gespräch darüber zu stellen und dem Geist etwas zuzutrauen und den Bruder und die Schwester im Glauben als Trägerin oder Träger des Geistes zu sehen und zu behandeln. Vielleicht entdecken wir längst verschüttete Dienste in den Gemeinden wieder, die wir in den Paulusbriefen finden: Lehrerinnen und Lehrer, Prophetinnen und Propheten, Menschen, die heilen können. Ein Bild von Kirche und Gemeinde scheint mir in keinem Fall zukunftsträchtig zu sein. Das Bild einer Kirche, die ausschließlich aus Haupt und Füßen besteht, aus Leitung und „Fußvolk“. Manchmal ist die Kirche zu einem Gebilde mutiert, „das statt aus verschiedenen Gliedern praktisch nur noch aus zweien besteht: aus dem Haupt, von dem alle Lebensregungen ausgehen und das Recht und Pflicht hat zu gebieten, und aus den Füßen, die dazu da sind, zu dienen und zu gehorchen“.  Nein, damals wie heute lässt sich der Geist auf jede und jeden von ihnen nieder.

„Jeder hörte sie in seiner Sprache reden.“ Natürlich ist dies ein starkes Bekenntnis zu einer Weltkirche, die alle Grenzen überwindet. Wir dürfen auf unserem Pastoralen Weg die verschiedenen Gemeinden und Kirchorte zusammendenken und ins Gespräch bringen, die unterschiedlichen Sprachen und Erfahrungen. Tatsächlich gehören zu unserem Bistum 25 Prozent Gläubige anderer Muttersprache. Einander in den Blick zu nehmen, zu verstehen, Gemeinschaft zu bilden statt zu isolieren, ist unser Weg aller Gemeinden und Kirchorte. Dieser Satz ist ein starkes Bekenntnis zur Fähigkeit des Geistes Gottes, Menschen zu einem Zeugnis und einer Sprache zu befähigen, die verstanden werden und die Menschen zusammenbringen, anstatt Mauern zu errichten. Glauben teilen geht nur, indem wir Leben teilen.

Nicht erst beim Workshoptag haben wir angefangen, darüber nachzudenken, was das konkret heißen muss. Glauben teilen ist ein Beziehungsgeschehen, keine Einbahnstraße, so hieß es in einer Gesprächsgruppe. Der Pastorale Weg ist erst in zweiter Linie ein Strukturprozess, das will ich erneut betonen. In erster Linie ist er die gemeinsame Suche nach guten, auch neuen Begegnungsformen mit den vielen Menschen unserer Zeit. Es geht um Evangelisierung, das heißt um das Bemühen, die Lebenswelt unserer Zeit durch das gelebte und bezeugte Evangelium zu durchdringen. Zu diesem Ziel müssen die Jünger in Jerusalem den engen Kreis aufbrechen und weiten. Es geht um Zeugnis, Beziehung, Sendung = Mission. Dafür müssen wir die Themen und Fragen der Menschen kennen und zu unseren machen (vgl. Gaudium et Spes 1). Es gibt eine Karikatur, die zwei Figuren nebeneinander zeigt. Die eine sagt: „Jesus ist die Antwort“, die andere: „Ja, aber was war die Frage?“ So darf kirchliche Kommunikation nicht aussehen. Die Fragen neu zu hören, um Jesus als Antwort anbieten zu können, darin sehe ich das vorrangige Ziel des Pastoralen Weges. Wir dürfen nicht, auch wenn die Themen zeitlich parallel laufen, das Zweite zum Ersten machen. 

Schließlich habe ich eine große Hoffnung: In den letzten Monaten haben mich immer wieder Menschen angesprochen und von „meinem“ Pastoralen Weg gesprochen, also vom Pastoralen Weg als dem Weg des Bischofs. Wenn wir es schaffen, von „unserem“ Pastoralen Weg zu reden und ihn auch zu unserem Herzensanliegen zu machen, kann es gelingen. Ich bitte alle, in Glauben und Vertrauen die Türen aufzumachen und aufzubrechen. In allem möge uns der Heilige Geist bewegen, motivieren und leiten.