Mainz. Die österliche Bußzeit lade die Menschen dazu ein, „Menschen der Gerechtigkeit“ zu werden. Das sagte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf beim Gottesdienst am Nachmittag des Aschermittwoch, 22. Februar, im Mainzer Dom. Dies bedeute, „Menschen der Gewaltfreiheit in Reden, Denken und Tun zu werden, Versöhnung zu üben, Unrecht zu sehen und zu benennen, und nach Möglichkeit zu verändern, das Kreisen um sich selbst zu beenden und die Perspektive eines anderen Menschen schätzen zu lernen“, sagte Kohlgraf.
„Christus selbst ist uns ein gutes Vorbild und ein guter Wegbegleiter auf diesem Weg der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist nicht bequem, denn sie zwingt Menschen, sich der ungerechten Wirklichkeit zu stellen. Sie fordert Umkehr und Veränderung.“
Bischof Kohlgraf hatte darauf hingewiesen, dass auch Menschen in der Kirche manchmal nur auf ihr eigenes Recht blicken. Und weiter: „Dieses Recht wird lautstark eingefordert. Dass es berechtigte andere Perspektiven geben könnte, gerät aus dem Blick. Gerechtigkeit bedeutet dann, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können und damit im Verständnis und der Wertschätzung anderer zu wachsen. Jesus fordert im Evangelium sogar die größere Gerechtigkeit. Es geht um mehr im Glauben als ein Abhaken äußerlich befolgter Vorschriften. Vielmehr sollen die Menschen in der Nachfolge Jesu lernen, ein radikales, vom Herzen kommendes Bedachtsein auf das Wohl des Mitmenschen zu lernen und zu leben. Das ist die größere Gerechtigkeit im Reich Gottes. Die Österliche Bußzeit lädt uns zur Gerechtigkeit ein, zu einer größeren Gerechtigkeit.“
Weiter sagte Kohlgraf: „Christliche Versöhnung heißt ja nicht Vertuschung und den Mantel des Schweigens decken über das Unrecht. Gerechtigkeit heißt, Unrecht klar zu benennen, Täter zur Verantwortung zu ziehen, den Opfern von Gewalt und Terror menschenmöglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Bibel beschreibt so immer wieder das Gericht Gottes. Gott ist barmherzig, das gehört zur biblischen Botschaft. Aber Barmherzigkeit ist nicht Wegschauen und Ignorieren des Unrechts, sondern Gottes Fähigkeit, Tätern und Opfern der Geschichte gleichermaßen gerecht zu werden. Gott zeigt uns: Zur Gerechtigkeit gehört, Unrecht zu benennen und die Betroffenen des Unrechts in den Blick zu nehmen. Das gilt für Unrecht im Großen und im Persönlichen.“
Mit Blick auf die anstehende Veröffentlichung des unabhängigen Aufklärungsprojektes „Erfahren.Verstehen.Vorsorgen“ (EVV) sagte Bischof Kohlgraf: „Am 3. März 2023 wird Rechtsanwalt Ulrich Weber die Studie zum Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bistum Mainz veröffentlichen. Auch als Bischof und als Leitung des Bistums werden wir die Ergebnisse erst am 3. März zur Kenntnis bekommen. Am 8. März werden wir dazu Stellung nehmen, weil wir den umfangreichen Text lesen müssen. Es ist ein Schritt der Aufarbeitung massiven Unrechts. Viele Menschen haben eine Seite der Kirche erlebt, die unerträglich ist. Leben und Glauben wurden zerstört. Gerechtigkeit heißt für sie: Wir stellen uns ihren Erfahrungen. Die Studie ist bewusst keine juristische. Rechtsanwalt Weber hat vorwiegend mit Betroffenen gesprochen und mit Menschen, die etwas wissen. Unrecht ist auf verschiedenen Ebenen geschehen, das es jetzt endlich anzuschauen gilt. Für uns im Bistum bedeutet dies Umkehr. Es bedeutet konkrete, konsequente und transparente Schritte der Aufarbeitung und Veränderung, der Intervention und Prävention. Da sind wir bereits wichtige Schritte gegangen und werden weitergehen.“ Und weiter: „Gerechtigkeit heißt für mich als Bischof und für die Bistumsleitung, diese Gerechtigkeit einzufordern und dafür einzustehen. Diesen Weg werden wir weitergehen.“ Kirche werde sich nur erneuern, „wenn wir Gerechtigkeit zulassen und gestalten, in der Kirche, in der Gesellschaft und im eigenen Leben“, betonte der Bischof.
Kohlgraf feierte den Gottesdienst, in dem auch das Aschenkreuz ausgeteilt wurde, gemeinsam mit Domdekan Henning Priesel und Domkapitular Jürgen Nabbefeld. Musikalisch gestaltet wurde der Gottesdienst durch den Mainzer Domchor und Leitung von Domkapellmeister Karsten Storck und Domorganist Professor Daniel Beckmann an der Mainzer Domorgel.
Bereits am Morgen hatte der Mainzer Weihbischof und Generalvikar, Dr. Udo Markus Bentz, einen Gottesdienst zu Aschermittwoch im Mainzer Dom gefeiert. In seiner Predigt hatte er darauf hingewiesen, dass die Vorstellung der EVV-Studie in der kommenden Woche „vor allem aber und zuerst ein Anspruch und eine Herausforderung an unsere gemeinsame Bereitschaft zur Umkehr sein“ werde. Und weiter: „Umkehr hat zur Bedingung und setzt voraus, dass wir anerkennen, was war; dass wir wahrnehmen und aushalten, was nicht gut sondern falsch war; was vielleicht gute Absicht und dennoch Versagen mit verheerenden Folgen war. In welchen Ambivalenzen menschliches Handeln steckt. Das aber setzt voraus, dass wir uns eingestehen, wo wir selbst blinde Flecken hatten und vielleicht bis heute haben.“
Wörtlich sagte Weihbischof Bentz: „Umkehr ist also weit mehr als ein innerer Gesinnungswandel. Ob wir wirklich umkehren, wird man daran messen, was sich tatsächlich ändert. Deswegen schauen wir nicht nur zurück. Entscheidend ist, wie wir nach vorne schauen und weitergehen! Was wir hier im Blick auf die EVV-Studie betrachten, das ist die geistliche Dynamik einer jeden Umkehr, ob persönlich oder gemeinsam als Institution. Die Vorstellung der EVV-Studie wird uns auf einen solchen Weg der Umkehr schicken. Die ‚Hausaufgaben‘, die sich aus dem Blick in den Abgrund ergeben und die innere Haltungsänderung wird uns die Studie nicht abnehmen. Das wird unser Weg sein - weit über die österliche Bußzeit hinaus.“