Das Hirtenwort trägt den Titel „Kirche - wohin gehst du? Eine Orientierung zur Diskussion um den Weg nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil“. Es wird am ersten Fastensonntag, 1. März, in allen Gottesdiensten im Bistum Mainz verlesen, sowie in den Vorabendmessen am Samstag, 28. Februar.
Weiter schreibt Lehmann: „Es gehört ja zum Grundauftrag eines Papstes, dass er gerade mitten in Gefährdungen der Einheit die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenhält und die Einheit zurückgewinnt, wo sie verletzt ist. Dies darf selbstverständlich nicht unter einer Preisgabe verbindlicher Gemeinsamkeit geschehen. Aber es ehrt jeden Papst, wenn er leidenschaftlich und auf allen legitimen Wegen den Verlust an Gemeinschaft verhindert und in die Irre gegangene Mitglieder wieder zurückzugewinnen bestrebt ist.“
Es sei geradezu „absurd“, die Treue von Papst Benedikt XVI. zum ganzen Zweiten Vatikanischen Konzil anzuzweifeln, „wo er doch einer der wenigen noch lebenden Konzilstheologen ist und auch in der Zeit nach dem Konzil sich immer zum recht verstandenen Vatikanum II bekannte“, betont Lehmann. Wörtlich heißt es weiter: „Ganz zu schweigen von den Vorwürfen einer unklaren Stellung zum Antisemitismus und zur Leugnung des Holocaust. Die unsäglichen Äußerungen eines der führenden Vertreter der Pius-Bruderschaft, Bischof Williamson, haben mit dem Kern des bisher beschriebenen Konfliktes in der Kirche nichts zu tun. Das Zusammentreffen der beiden Dinge - die Aufhebung der Exkommunikation und das Bekanntwerden der Holocaust-Leugnung durch Bischof Williamson - war besonders unglücklich. Die Haltung der Päpste und gerade auch von Papst Benedikt XVI. gegen jede Form von Antisemitismus war immer schon eindeutig. Sie ist auch in den letzten Wochen über jeden Zweifel erhaben.“
Mit der Aufhebung der Exkommunikation habe der Papst seinen Mut gezeigt und „einen Schritt des äußersten Entgegenkommens gewagt“, hebt Lehmann hervor. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Aufhebung der Exkommunikation nicht mit einer Rehabilitierung zu verwechseln sei und auch keineswegs eine Wiederaufnahme in die Kirche bedeute. „Es ist ein Schritt, der sehr verletzlich macht, wenn die Angesprochenen eine solche extreme Geste nicht annehmen.“ Weiter schreibt der Kardinal: „Hier kann ich in manchen Worten und im Verhalten der sogenannten Pius-Brüder nur eine Beleidigung und höhnische Zurückweisung dieser Einladung des Papstes sehen. Ich erinnere an Aussagen, dass dies alles nicht genüge. Rom müsse nun weitergehen und Buße tun. Man lasse nicht ab von den radikalen Bedenken gegenüber dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Indem man Bischof Williamson bei der geforderten Zurücknahme der Leugnung des Holocaust eine längere Frist zugestand, trieb man dieses unmögliche Verhalten weiter auf die Spitze.“
Kardinal Lehmann betont, dass er in der gesamten Auseinandersetzung nie die Haltung des Papstes selbst kritisiert habe, sondern ihn in dem, was er in Sorge um die Einheit der Kirche getan hat, in Schutz genommen habe. Und weiter: „Wohl aber habe ich bedauert, dass das Management der Kurie im Umgang mit der Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb der Kirche nicht besser im Stande war, den Papst selbst mit seinen Absichten zu schützen, rasch auf Missdeutungen zu reagieren und in solchen Konflikten zuverlässig die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Kritik, die inzwischen von vielen geteilt wird, halte ich aufrecht, auch wenn ich mich dazu hier und auch in einer größeren Öffentlichkeit nicht weiter äußern will. Ich habe eine jahrzehntelange Erfahrung, um dies behaupten zu können.“
Mit der Aufhebung der Exkommunikation habe auch eine „heftige Diskussion“ über die Gültigkeit des Zweiten Vatikanischen Konzils begonnen. Dazu schreibt Lehmann: „Es besteht kein Zweifel, dass das Zweite Vatikanische Konzil uns eine erneuerte und vertiefte Vision der Kirche geschenkt hat. Dass diesem Verständnis auch die überzeugende Verwirklichung folgt, ist immer noch eine Aufgabe, und zwar für alle. Wenn die Kirche den ihr vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorgezeichneten Weg geht, vor allem wenn sie ihn mutig und folgerichtig geht, wird sie nichts von ihrer bisherigen großen Tradition verlieren. Im Gegenteil. Die Kirche wird ihr Katholischsein voller und lebendiger ausprägen, als es oft in den vergangenen Jahrhunderten möglich war. Ein tieferes Verständnis des Konzils ist eine große Aufgabe der Theologie und der Verkündigung. Die Kirche wird gerade so mehr als bisher das ganze Evangelium für den ganzen Menschen in der ganzen Welt und mit ganzer Kraft bezeugen. Daran haben wir alle Anteil.“
Lehmann bittet die Gläubigen darum, „bei der Beurteilung dieser Vorgänge nicht kurzsichtig zu werden und Schlagworten zu verfallen“. Und weiter: „Ich danke allen, die in diesen Wochen inmitten aller Aufgeregtheiten Ruhe und Gelassenheit bewahrt haben und die keine übereilten Maßnahmen, wie zum Beispiel einen Kirchenaustritt, ergriffen haben. Diejenigen, die dies jedoch bereits getan haben, kann ich nur bitten, ihren Entschluss zu überdenken und wieder zurückzukehren.“
In einem historischen Rückblick bezeichnet Lehmann die kritische Öffnung zur Moderne und die erhöhte Dialogfähigkeit mit der Welt durch das Zweite Vatikanische Konzil als „zweifellos notwendig“. Allerdings sei die Aufnahme der Konzilsbeschlüsse unter anderem durch den gesellschaftlichen Wandel Ende der 1960er-Jahre „zum Teil empfindlich gestört“ worden. In diesem Zusammenhang sei es 1969 auch zur Bildung der „Priesterbruderschaft St. Pius X.“ um den französischen Missions-Erzbischof Lefebvre gekommen. Über die Priesterbruderschaft schreibt Lehmann: „Diese lose Gemeinschaft bildete einen Kreis von Menschen, die nicht nur mit der kirchlichen Entwicklung unzufrieden waren, sondern auch nicht selten mit gewissen traditionellen kulturellen, gesellschaftlichen und auch politischen Strömungen verflochten waren. Der Streit ging nicht nur um liturgische Reformen, vor allem um die Reform der Messe, sondern er erstreckte sich auch auf die Verneinung und Verweigerung gegenüber anderen Konzilsaussagen: vor allem zur Kollegialität der Bischöfe, wodurch man die päpstliche Autorität gefährdet sah; zur Ökumene, in deren Bemühungen man einen Verrat an der Wahrheit erblickte; zur erklärten Religionsfreiheit, die man als Aufgabe des eigenen Wahrheitsanspruchs und als Förderung religiöser Gleichgültigkeit verstand, sowie überhaupt zur Zuwendung zur Moderne, die als Verrat der Distanz zur ‚Welt’ erschien. Diese Themen blieben in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch oft eher im Hintergrund.“
Hinweis: Der Text dieses Hirtenwortes kann auch im Internet heruntergeladen werden unter www.bistum-mainz.de/kardinal