„Darum möchte authentische Religion immer auch den Menschen von falschen Autoritäten, Magie und Aberglauben befreien und zu seiner eigenen Verantwortung führen.“ Wegen des großen Interesses wurde die Vorlesung auch ins Foyer des Gebäudes übertragen. Der Titel der Vorlesungsreihe lautet: „Weltreligionen - Verstehen, Verständigung, Verantwortung“.
Lehmanns Auftaktreferat stand unter der Überschrift „Rückkehr der Religion? Von der Ambivalenz eines zeitdiagnostischen Schlagwortes“. An den kommenden Dienstagabenden werden insgesamt neun Gastredner die großen Religionen und ihre Rolle in der Gegenwart thematisieren. Die Abschlussvorlesung mit Kardinal Lehmann am Dienstag, 7. Juli, steht unter der Überschrift „Notwendigkeit, Risiken und Kriterien für den interreligiösen Dialog heute und in Zukunft“. Die Vorlesungen mit anschließendem Kolloquium finden jeweils von 18.15 bis etwa 20.00 Uhr im Hörsaal RW 1 (Neubau Recht und Wirtschaft) auf dem Campus der Universität Mainz statt. Errichtet wurde die Stiftung „Johannes Gutenberg-Stiftungs-professur“ von der Vereinigung „Freunde der Universität Mainz“ aus Anlass des 600. Geburtstags von Johannes Gutenberg im Jahr 2000.
Religion müsse außerdem den rechten Gebrauch von Freiheit einüben, da Freiheit „in ihrer Zügellosigkeit und Willkür für alle schädlich werden kann“, sagte der Kardinal. Bei aller Notwendigkeit von Orientierung und Weisung dürfe Religion „nicht zur Unmündigkeit und zum Verlust personaler Verantwortung führen“, hob Lehmann hervor. „Die eigene Kritik- und Denkfähigkeit muss gefördert und vertieft werden.“
Es sei Aufgabe einer Religion, „dem einzelnen Menschen und den religiösen Gemeinschaften zum Finden eines unverlierbaren Lebenssinnes und zu seiner letzten Geborgenheit zu verhelfen“. Und weiter: „Sie möchte die Annahme und das Bestehen der Grundrisiken des menschlichen Lebens ermöglichen, wie sie in Armut und Not, Krankheit und Leid sowie in der Schuld und im Tod auf den Menschen zukommen. Die Religion soll den Menschen angesichts dieser oft radikalen Lebensgefährdungen vor jeder Verzweiflung bewahren. Sie macht die Menschen darum nicht weltflüchtig, sondern hilft ihnen, die Gefährdungen dieses Lebens zu bestehen und an ihnen nicht zu zerbrechen.“ Religion stehe also „fundamental im Dienst des Menschen und darf sich nicht nur zur Pflege der eigenen Interessen und Ziele zurückziehen“, sagte der Kardinal.
Allerdings gehe es nicht nur darum, „kognitive Orientierungssysteme aufzustellen, „sondern in der Religion geht es immer auch um die praktische Wahrheit, nämlich um die Bewährung der religiösen Überzeugung in der Tat des Lebens“. Weiter sagte er: „Deshalb ist Religion immer auch eine Einheit von Theorie und Praxis, von Erkennen und Handeln, von Frömmigkeit und Nächstenliebe. Für die allermeisten Menschen ist eine Religion nur überzeugend, wenn beide Dimensionen zur Deckung kommen und auf diese Weise verstärkte Evidenz erhalten. Religion spricht darum auch Herz und Sinne an, birgt viele emotional-affektive Elemente."
Auch die missionarische Sendung gehöre zu einer Religion, „wenn und solange sie überzeugt ist, dass sie ihre Orientierung, die den eigenen Mitgliedern und Anhängern kostbar und wertvoll ist, auch anderen zu ihrem Nutzen weitergeben möchte“. Sobald die missionarische Sendung jedoch in irgendeiner Weise mit Gewalt verbunden werde, „ist nicht nur die Würde und Freiheit des Menschen, sondern ist auch die Religion zerstört“. Daher sei das Gewaltproblem in jeder Religion von „elementarer Bedeutung“. Wörtlich sagte der Kardinal: „Wer seine Überzeugungen mit Macht und Gewalt durchsetzen möchte, scheidet sich selbst aus jedem verantwortungsvollen Dialog der Religionen untereinander aus. Hier muss sich jede Religion prüfen, wie weit ihr Gottesbild mit dem Ideal einer gewalttätigen Durchsetzung von Glaubensüberzeugungen oder Interessen einhergeht.“
Zu den Voraussetzungen eines Dialogs der Religionen gehöre die theoretische und praktische Frage der Religionsfreiheit „und dies im Sinne der negativen und positiven Religionsfreiheit“, machte Lehmann deutlich. „Die Anerkennung der Religionsfreiheit als Menschenrecht ist ein Prüfstein dafür, ob eine Religion sich den Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens unter heutigen Bedingungen stellt und auch unterwirft.“
Lehmann forderte, die mit dem Stichwort „Rückkehr der Religion“ bezeichnete neue Aufmerksamkeit für die Religion „sorgfältig und kritisch“ zu analysieren. Die „Rückkehr der Religion“ sei vor allem deshalb „so verblüffend, weil die fortschreitende Säkularisierung als eine entscheidende Signatur unserer Zeit galt“. Es müsse jedoch festgehalten werden, dass „die Destruktion vieler religiöser Gewissheiten im Lauf der Neuzeit“ nicht auch alle Fragen aus der Welt habe schaffen können, auf die religiöse Aussagen eine Antwort gaben. „Religion besteht fort - auch nach ihrem Ende als ‚Trostmittel’ und nach ihrem Ende als metaphysisches Bindeglied der Gesellschaft. Dass die Moderne von der Religion einmal ganz loskommen könnte, gehört zu den Illusionen der Moderne selbst.“
Am Ende seiner Ausführungen machte der Kardinal das Ziel der Vorlesungsreihe deutlich. Wörtlich sagte er: „In einer mehr und mehr vernetzten und globalisierten Welt wollen wir auch andere, fremde Religionen zu verstehen suchen. Das Andere und Fremde schreckt uns dabei nicht ab, ruft auch keine apriorische Abneigung oder Ablehnung hervor. Wir wollen das Fremde verstehen. Vielleicht kann unser eigenes Welt- und Menschenbild dadurch bereichert werden. Insofern geht es wirklich um eine Begegnung mit den Weltreligionen. Wie der Untertitel der Vorlesungsreihe anzeigt, handelt es sich dabei um Verstehen, Verständigung, Verantwortung. Mehr können wir in diesem Rahmen nicht versprechen.“