In seinem Dankwort bezeichnete Lehmann die Auszeichnung als „Zeichen der ökumenischen Ermutigung“. Wörtlich sagte er: „Im Reigen der Feiern zum Reformationsgedenken am 31. Oktober 2017 darf die gerade erfolgte Verleihung der Luther-Medaille zum ersten Mal an einen Katholiken, dazu noch einen Bischof und Kardinal, gewiss als ein außerordentliches, symbolträchtiges Ereignis verstanden werden. Es zeigt allen, dass wir 2016/17 - bei aller Treue zu unserer Herkunft - dieses „Jubiläum“ mit anderen und neuen Akzenten begehen.“ Und weiter: „Ich verstehe deswegen die Verleihung dieses Zeichens als eine kräftige Ermutigung zum beherzten Weitergehen auf unserem Weg zu einer immer größeren Einheit der Kirche Jesu Christi.“ In den rund fünf Jahrzehnten seiner ökumenischen Arbeit habe es Fortschritte und Rückschläge gegeben, berichtete Lehmann. „Aber heute darf ich sagen: Es hat sich gelohnt! Gehen wir mutig, wenn auch nüchtern im Auftrag unseres Herrn und im Vertrauen auf Gottes Geist voran. Dann haben wir auch gute Aussichten. Wir sind es unserer Zeit auch schon seit langem schuldig.“
Am Abend der Preisverleihung hielt Lehmann außerdem die Predigt im Festgottesdienst zum Beginn des Jahres des Reformationsgedenkens im Berliner Dom. Die Predigt steht unter der Überschrift „Gemeinsames Christusfest im Gedenken an die Reformation“. Wir dokumentieren den Text im Folgenden im Wortlaut:
1. Jahrhundert – Luther – Gedächtnisfeiern
Geburtstage vergisst man nicht. So wollen auch wir den Beginn der Reformation, den man in der Regel am 31. Oktober 1517 mit dem berühmten Thesenanschlag Martin Luthers an der Schlosskirche zu Wittenberg ansetzt, im Jahr 2016/17 zu lebendiger Erinnerung bringen. Dieses „Luther-Gedächtnis“ hat man mindestens seit dem Jahr 1617 feierlich begangen. Die einzelnen Jubiläen sind sehr imprägniert von ihrer Zeit. Sie sind darum auch recht verschieden voneinander und offenbaren manche Verstrickungen in die Situation der Zeit und ihren Geist (z.B. 1817, 1917). Diese Gedenktage sind auch lange tief geprägt durch Tendenzen zur polemischen Abgrenzung und zur wechselseitigen Profilierung, früher besonders zwischen Protestanten und Katholiken.
2. Neue Situation 2016/17
Wir sind in einer davon sehr verschiedenen Situation. Unser Gedenkjahr 2016/2017 steht – Gott sei gedankt – unter ganz anderen Voraussetzungen. Das 20. Jahrhundert hat mit allen seinen Erfahrungen von den beiden Weltkriegen mit der Schaffung des Ökumenischen Rates der Kirchen (1948) und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) bei allen verbleibenden Unterschieden ein neues Zu- und Miteinander der Kirchen geschaffen. Dies alles findet auch seinen Ausdruck in vielen Ergebnissen eines reichen ökumenischen Dialogs, besonders in den 50 Jahren der lutherisch-katholischen Gespräche seit dem Beginn mit dem sog. „Malta“-Bericht „Das Evangelium und die Kirche“ (1972). Das informative kleine Buch „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ fasst, mindestens für den lutherisch-katholischen Dialog, die Resultate eines halben Jahrhunderts bis in unsere Tage gut zusammen (2013). Es gibt auch andere Textsammlungen, wie den von Kardinal Kasper veröffentlichten Band „Die Früchte ernten“ (2011).
Schon Jahre zuvor hat der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen im Auftrag der Kirchen in den Jahren 1980-86 die Frage überprüft, ob die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts den heutigen Partner noch treffen. In langwierigen Untersuchungen wurde schließlich festgestellt: „Die Untersuchungen erbringen ein breites Spektrum differenzierter Beurteilungen. In ihrer Gesamtrichtung besagen die Ergebnisse: Eine Reihe von Verwerfungsaussagen beruhte auf Missverständnissen der Gegenposition. Andere treffen Lehre und Praxis der heutigen Partner nicht mehr. Bei wieder anderen haben neue Sacheinsichten zu einem hohen Maß an Verständigung geführt. Bei einigen Verwerfungsaussagen allerdings lässt sich auch heute noch kein Konsens feststellen.“ (Lehrverurteilungen - kirchentrennend? I., 189) Darum ging die Arbeit bis heute weiter.
3. Kirchentrennende Differenzen?
In der Mitte der folgenden, langen, internationalen Bemühungen steht die „Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ als eine „offizielle Feststellung“ des Lutherischen Weltbundes (und inzwischen auch anderer Glaubensgemeinschaften) und der Katholischen Kirche, die am 31.10.1999 in Augsburg feierlich bestätigt und unterzeichnet wurde. Sie hat zum Ergebnis, dass die Lehrverurteilungen der Reformationszeit heute so verstanden werden können, dass die jeweiligen Lehrelemente bei aller bleibenden Verschiedenheit aufeinander offen sind und dass in den Grundwahrheiten der Lehre von der Rechtfertigung kein kirchentrennender Dissens besteht. Es gibt also im Blick auf die Grundwahrheiten der Lehre über die Rechtfertigung eine zwar grundsätzliche, wenn auch nicht vollständige Übereinstimmung (vgl. Nr. 42/43). Wenn man dies von- und zueinander sagen kann, und zwar in der Grundfrage, die in der Epoche der Reformation zur Kirchenspaltung führte, dann ist ein wahrer Meilenstein für das gegenseitige Verhältnis gefunden. Diese „offizielle Feststellung“ bekam und behält als Urteil der Kirchen ihr eigenes Gewicht, auch wenn einzelne – gewiss auch namhafte – Theologen glauben, diesen Konsens in der jetzigen Fassung nicht mittragen zu können, und gewiss auch noch manches zu klären bleibt (z.B. in den Fragen und Problemen „Gerecht und Sünder zugleich?“, Glaube und Werke, Heilsgewissheit).
4. „Christus allein“ – in vierfacher Entfaltung
Wie und wo soll man nun die neu gewonnene Gemeinsamkeit – wenigstens im Ansatz - finden und zur Sprache bringen? Nach den Verlegenheiten, wie sie vor allem bei der Vierten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 1963 in Helsinki sichtbar wurden und z.T. bis in unsere Zeit andauerten, kam Hilfe vor allem von der biblischen Exegese, der neueren Lutherforschung, der systematischen Theologie und den ökumenischen Dialogen: Rechtfertigungslehre – sagen wir vielleicht besser: Rechtfertigungsbotschaft - und Christologie gehören ganz eng zusammen. Man muss zu dieser tragenden Wurzel und grundlegenden Mitte zurückgehen. Anders kann man den Ort und den Sinn von Rechtfertigung nicht gemeinsam finden. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes geschieht schließlich im Tod Jesu Christi am Kreuz (vgl. Röm 3,24). Sie wird uns allein im Glauben geschenkt und nicht durch unsere Leistung und unser Können erworben. Diese neue Gerechtigkeit Gottes wird uns „allein durch den Glauben“ zugänglich. In dem zentralen Passus des Römerbriefes 3,21-31 wird uns dies überreich verkündigt, wobei in relativ wenigen Versen siebenmal (22, 25, 26, 27, 28, 30, 31) der Empfang aus Glauben, nicht durch die Kraft eigenen „Rühmens“ (27) betont wird. Nicht zufällig ist dieses Hauptstück aus dem Römerbrief auch die für den 31.10. vorgesehene Lesung.
Hier entspringen denn auch die sogenannten Exklusivprädikate, also das vierfache „Allein“: „Christus allein“ (solus Christus), „allein aus Gnade“ (sola gratia), „allein durch das Wort“ (solo verbo) und „allein durch den Glauben“ (sola fide). Alles gründet darin, dass Jesus Christus der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist (dazu 1 Tim 2,5). Die anderen „Allein“-Aussagen verdeutlichen nur diesen elementaren Bekenntnisgrundsatz.
5. „Allein durch den Glauben“ in Geschichte und Gegenwart der Kirche
Das Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander war vor allem auch gestört durch die zentrale Formulierung, die Rechtfertigung erfolge „allein durch den Glauben“. Zwar ist man damit Luthers Übersetzung von Röm 3,28 gefolgt. Daraus ergab sich oft eine bittere Polemik. Heute sehen wir hier deutlicher: Gewiss steht im griechischen Urtext das „allein“ (durch den Glauben) nicht wörtlich da. Aber dieses „allein“ gibt den Sinn dieser Aussage durchaus korrekt wieder und verdeutlicht sie. Nicht erst Luther, sondern schon längst vorher haben kirchliche Theologen in der Frühzeit (Ambrosius/Ambrosiaster) der Kirche und im Mittelalter (Bernhard, Thomas von Aquin) so den Text wiedergegeben und verstanden. Daran hat sich kaum jemand gestört. Die nicht selten exklusiv überspitzte und einseitige Überbetonung des „allein“ und in eins, damit die Polemik gegen die „Werke“ in der Reformationszeit und danach haben diesen Streit radikalisiert. Er ist heute so gut wie völlig geklärt. Es gibt Übersetzungen, auch im evangelischen Bereich, mit und ohne das Wörtchen „allein“. Dies ist ein Beispiel für Missverständnisse und ihre Beseitigung bzw. Relativierung. Dies machte den Weg frei für eine tiefere Annäherung. Freilich müssen wir auch heute und künftig über das genauere Verhältnis des Glaubens zu den „Werken“, vor allem zur Beziehung zwischen Glaube und Liebe, gemeinsam nachdenken.
6. „Christusfest“
Wie schon gesagt wurde, geschah eine weitere positive Klärung durch die enge Verbindung zwischen Rechtfertigungsbotschaft und der Person sowie dem Werk Jesu Christi. Dies war selbstverständlich immer bewusst, erhielt aber nun durch die neueren Paulus-Forschungen des 20. Jahrhunderts eine sehr eindeutige Zuspitzung. Dies wurde konzentriert zusammengefasst in einem einfachen Wort. Man wählte, auch für die gottesdienstliche Feier im Reformationsgedenken, als Abkürzung das schlichte Wort „Christusfest“. Das Reformationsjubiläum 2016/2017 wird in einem solchen „Christusfest“ zum ersten Mal unter den Jahrhundertfeiern in ganz hohem Maß ökumenisch geprägt sein. Darin darf man wirklich den entscheidenden Akzent in der 500. Erinnerung an den Reformationsbeginn sehen. Die spirituelle und theologische Bedeutung dieser Akzentuierung muss nun aber über das schon Gesagte hinaus weiter entfaltet werden.
7. „Heilung der Erinnerung“
Dann müssen wir aber auch unsere vergangene und gewiss noch lange nachwirkende Geschichte der Entzweiung sowie der Entfremdung mit neuen Augen betrachten. Dies geht nicht durch unbewusstes Verdrängen und bloßes Vergessen. Darum brauchen wir in Entsprechung zu vielen ähnlichen Initiativen vor allem in der weltweiten Ökumene des letzten Jahrhunderts, besonders in Südafrika, einen Prozess der „Heilung der Erinnerung“. Wir suchen gemeinsam nach Vergebung und Versöhnung als Ausdruck eines neuen Zu- und Miteinanders. Wir bitten Gott und die Menschen um die Kraft zu Vergebung und Versöhnung. Wir wollen uns auch nicht mit dem, was wir bisher erreicht haben, zufrieden geben. Es wurden deshalb ökumenische Buß- und Versöhnungsgottesdienste mit konkreten liturgischen Entwürfen geschaffen. Die „Heilung der Erinnerung“ gehört beim Reformationsgedenken 2016/17 in die Herzmitte der gemeinsamen Veranstaltungen. Dies ist mehr als eine höfliche Entschuldigung.
8. Glaube, der durch Liebe wirkt
Dabei darf es trotz aller Dringlichkeit bei der “Heilung der Erinnerung“ nicht bleiben. Gerade der wiedergewonnene Glaube verbleibt nicht nur bei sich selbst. Rechtfertigung durch den Glauben „allein“ darf nicht missverstanden werden als Rückfall in eine vor allem passive sowie private Innerlichkeit und einen nur auf den Einzelnen gerichteten Gesinnungswandel. Der christliche Glaube unserer Tage muss seine neue Lebendigkeit dadurch erweisen, dass aus dem Geschenk des unverbrauchten Glaubens von Gott her ein weltveränderndes Zeugnis entsteht und wächst, das sich um die Nöte der Zeit sorgt, besonders um die vielen Wunden, die täglich den Menschen in aller Welt geschlagen werden. „Denn in Christus Jesus kommt es darauf an, den Glauben zu haben, der durch die Liebe wirkt.“ (Gal 5,6). Unsere Zeit braucht im Blick auf die Macht von Lüge und Gewalt, Unfrieden und Tod lebensnotwendig zuerst bekehrte und erneuerte Christen. Wir wissen, dass viele bereits Unglaubliches an Einsatz und Hingabe, Mut und Liebe geleistet haben.
Ich glaube jedoch, dass wir noch viel mehr gefordert werden. Die Welt – und mit ihr auch die Kirche - liegt sehr im Argen und braucht wache Christen. „Bedenkt die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf.“ (Röm 13,11). Das Reformationsjubiläum ist eine solche einzigartige Gelegenheit. Ergreifen wir diese Stunde! Nützen wir das vor uns liegende Jahr. Es ist eine einmalige Chance an einem Wendepunkt unserer bisher so schwierigen und belastenden Geschichte.
9. Elementare Herausforderungen heute für alle Christen
Die Worte „Christusfest“ und „Heilung der Erinnerung“ sind keine harmlosen Worte, wie man vielleicht heute bei der Inflation der Jubiläen denken könnte. Sie gehen uns zwar leicht von der Zunge. Sie fordern aber eine radikale Zuwendung zur spirituellen und theologischen Bedeutung der Rechtfertigungsbotschaft. Wir dürfen das Ereignis der Reformation nicht ausdünnen, indem wir sie weitgehend z.B. nur in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung oder gar in ihrer emanzipatorischen Wirkungsgeschichte sehen. Dies hat alles gewiss ein Körnchen Wahrheit, ist aber nicht alles. Die Reformation darf nicht zur bloßen Chiffre werden für die Forderung beständiger Reformen in Kirche und Gesellschaft. Auch ist ein „Christusfest“ kein flaches „Jubel-Trubel-Volksfest“, so sehr eine große Beteiligung mit Freude dazu gehört. Wir müssen den wahren Gott auf dem Antlitz Jesu Christi mit seiner Lebens- und Leidensgeschichte wieder in der ganzen Tiefe entdecken. Dies ist unsere gemeinsame Chance. Gerade die katholischen Christen können wirklich nur in diesem Sinne bedenkenlos mitfeiern. Hoffentlich gelingt dies auch über das Jahr 2017 hinaus.
10. Gebet für die Einheit der Christen
Von einer Sache muss noch unbedingt die Rede sein. Es bleibt das Gebet für die Einheit. Nichts ist wichtiger als die gemeinsame Fürbitte an den Herrn. Der einstige Generalsekretär der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung - eine Wurzel des Weltrates der Kirchen -, Oliver Tomkins, hat es einmal so zur Sprache gebracht: „Selbst angesichts der tiefen Spaltungen…finden die Herzen vieler Christen ihre tiefste Gewissheit, dass der Pfad zur Einheit nicht für immer verschlossen sein wird, in der Tatsache, dass das ernste Gebet in diesem Geiste bereits ein wachsendes Heer in allen Konfessionen vereinigt. Andere Waffen mögen stumpf werden, aber niemand kann die Wirksamkeit dieser Waffe des selbstverleugnenden Gebetes bezweifeln, auch wenn wir ihre Wirkung nicht ermessen können.“ Amen.