Rolle der Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft

Podiumsdiskussion mit Bischof Peter Kohlgraf (Mitte) im Wiesbadener Roncalli-Haus (c) Bistum Mainz/Hoffmann
Datum:
Mi. 10. Sept. 2025
Von:
hoff (MBN)

Wiesbaden. „Welchen Beitrag können und wollen die Religionsgemeinschaften für eine gedeihliche Entwicklung unseres Landes (noch) leisten?“ Unter dieser Leitfrage fand am Dienstagabend, 9. September, eine Podiumsdiskussion im Roncalli-Haus Wiesbaden statt. Der Abend wurde veranstaltet von der Academie Kloster Eberbach. Eingeladen waren Vertreterinnen und Vertreter der drei monotheistischen Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam, unter anderen der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. Moderiert wurde die Diskussion von Marcus M. Lübbering, dem Vorsitzenden der Academie.

Bischof Peter Kohlgraf bei seinem Impuls-Vortrag im Wiesbadener Roncalli-Haus (c) Bistum Mainz/Hoffmann

In seinem Impuls zu Beginn der Diskussion ging Bischof Kohlgraf auf die Rolle von Religionen und Religiosität in der Gesellschaft ein, sowie auf den Dialog der Religionen untereinander. Kohlgraf verwies auf den lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, der ein Ende des Krieges in Gaza gefordert hatte. Kohlgraf sagte: „Der Gaza-Krieg ist das Ende des Dialogs der Religionen. Und ich bin froh, dass wir hier heute Abend einen anderen Akzent setzen.“

 

Zum Stellenwert der Religionen in der heutigen Gesellschaft nahm Kohlgraf Bezug zum Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung, sowie zur Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kohlgraf warnte davor, die Bedeutung der Religionen für die Gesellschaft ausschließlich an den Mitgliedszahlen festmachen zu wollen. „Wir dürfen selbstbewusst sein, und unsere Rolle in der Gesellschaft wahrnehmen, auch wenn die Zahlen der Kirchenmitglieder nachlassen“, sagte Kohlgraf. Die Deutsche Bischofskonferenz werde sich im Herbst damit beschäftigten, was der heutige Auftrag der Kirche in der Gesellschaft sei. „Auch Menschen, die nicht glauben, hoffen darauf, dass sie in Krisen unterstützt werden “, nannte Kohlgraf ein Beispiel. Deshalb sollte man sich nicht nur auf den inneren Zirkel derer konzentrieren, die an Gott glaubten. Es gebe zudem laut der Bertelsmann-Studie besonders unter religiösen Menschen ein hohes Maß an sozialem, ehrenamtlichem Engagement. Kohlgrafs Fazit: „Es gehört zu unseren Aufgaben, Gemeinschaft zu stiften, einen Sinn für Transzendenz aufzuzeigen, in der Seelsorge tätig zu sein, Hilfe in Krisen anzubieten und ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement zur Verfügung zu stellen. Das kann die Kirche leisten, und das wird sie auch in Zukunft noch tun.“ Und die Kirche werde sich weiterhin - wo es nötig sei - auch politisch für das Wohl der Menschen einsetzen, so wie es schon Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler getan habe, sagte Bischof Kohlgraf.

Podiumsdiskussion mit Bischof Peter Kohlgraf im Wiesbadener Roncalli-Haus (c) Bistum Mainz/Hoffmann

Nach dem Impuls des Bischofs wurde die Diskussionsrunde eröffnet. Zunächst kam Professor Dr. Yasar Bilgin zu Wort, ein deutscher Kardiologe mit türkischen Wurzeln, der die Türkisch-Deutsche Gesundheitsstiftung gegründet hat und ihr Vorsitzender ist. „Die Frage bleibt, was nach dem Tod kommt. Der scheinbar allwissende Mensch ist gleichzeitig so fragil und zerbrechlich“, sagte Bilgin mit Blick auf seine Erfahrungen als Arzt. „Ich denke, der Glaube wird bestehen bleiben. Aber die Religiosität nimmt ab“, gab Bilgin seine Einschätzung zur Zukunft des Glaubens in der Gesellschaft ab. „Der Glaube gibt uns die Möglichkeit, so zu sein, wie Gott uns gewollt hat“, gab er zu bedenken.

 

Als zentrale Werte des Judentums benannte Dr. Daniel Korn, Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt: „Uns charakterisiert der Wunsch, zu einer friedlichen Welt beizutragen, und der unbedingte Einsatz für das Leben. Das sieht man auch am großen Einsatz für die Freilassung israelischer Geiseln.“ Korn ergänzte: „Eine weitere tragende Säule ist die Bildung als fest verwurzelte Tradition des Judentums.“

 

Die Ethnologin und Professorin Dr. Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, sagte zu der Frage, welche Rolle Glaube und Religion in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung übernehmen könnte: „Je spiritueller eine Religion ist, und je weniger politisch sie agiert, desto einfach ist es, mit anderen Akteuren einer säkularen Gesellschaft zurecht zu kommen. Wenn Religionsgemeinschaften hingegen explizit politische Positionen und Werte vertreten, stoßen sie in einer säkularen Gesellschaft mit deren Normen zusammen und werden mit Religionsfeindlichkeit konfrontiert. Es gilt also, einen Platz in der Kakophonie einer pluralistischen Gesellschaft zu finden.“

 

Dr. Thomas Arnold, Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und vormals Direktor der Akademie des Bistums Dresden-Meißen, prognostizierte, dass es in wenigen Jahrzehnten auch in Westdeutschland kaum noch Kirchenmitglieder geben werde. „Wenn Menschen vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben, dann haben sie auch keinen Bezug mehr zu Religiosität“, sagte er wörtlich. Menschen würden die Frage nach Gott dann gar nicht mehr als Lösungsoption heranziehen. „Wenn Religionsgemeinschaften nicht mehr präsent sind als Menschen, die man kennt, lassen sich Vorurteile viel schwerer abbauen“, nannte er eine der negativen Folgen dieser Entwicklung, die er heute schon im Osten Deutschlands beobachte. Selbst zentrale christliche Symbole wie das Kreuz würden dort nicht mehr von den Menschen verstanden, gab er ein Beispiel.