Pohlheim. Die Bevollmächtigte des Generalvikars, Ordinariatsdirektorin Stephanie Rieth, hat die frühere Gemeindereferentin Giselinde Geis von Pohlheim-St. Martin posthum im Namen der Bistumsleitung für ihren Mut beim Aufdecken von Missbrauchsvorwürfen gegen den Gemeindepfarrer gewürdigt. Geis, die 23 Jahre in der Gemeinde tätig war und mittlerweile verstorben ist, war nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe im Jahr 2001 in der Gemeinde teilweise verurteilt und angefeindet worden: „Wir holen heute nach, was bisher unterblieben ist und geben ihr etwas von der Würde zurück, die ihr durch den Umgang mit ihr genommen wurde. Vielleicht kann dies auch ein Trost sein, für die Weggefährten von Frau Geis und die Angehörigen, die heute leider nicht da sein können.“
Rieth sprach bei einem Gottesdienst in St. Martin in Pohlheim am Sonntagvormittag, 25. Februar. Im Anschluss an den Gottesdienst wurde im Pfarrzentrum der Gemeinde eine Gedenktafel in Erinnerung an Giselinde Geis aufgehängt. Stephanie Rieth ist in der Bistumsleitung unter anderem verantwortlich für die Bereiche Intervention, Prävention und Aufarbeitung.
Wörtlich sagte Rieth in ihrer Ansprache: „Nichts beschädigt die Würde des Menschen so sehr, wie sexualisierte Gewalt an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen schutz- oder hilfebedürftigen Menschen. Nichts verleugnet die Rede von der Würde des Menschen so sehr, wie wenn dies gerade durch Menschen geschieht, deren Auftrag es ist, in der Nachfolge Jesu das Evangelium, die frohe Botschaft zu verkünden, in Wort und Tat. Liebe Schwestern und Brüder - das ist in der Vergangenheit an vielen Orten in unserem Bistum geschehen, das ist auch hier in der Gemeinde St. Martin in Pohlheim geschehen. Sie als Gläubige in dieser Gemeinde, aber vor allem die Betroffenen, die von einem Ihrer ehemaligen Gemeindepfarrer missbraucht wurden, haben das Recht, dass ich das auch und gerade als Mitglied der Bistumsleitung im Bistum Mainz so klar und deutlich an dieser Stelle benenne.“
Rieth bezeichnete die Würdigung als „angemessen und überfällig“. Geis habe den Missbrauch nicht nur erkannt, „sondern auch völlig richtig gehandelt und das, was sie wahrgenommen hat, gemeldet. Ihrem Mut, ihrer Courage ist es zu verdanken, dass nicht noch mehr passieren konnte. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass möglicherweise anderen ein schweres Schicksal erspart geblieben ist.“ Und weiter: „Für diesen Einsatz ist sie nicht etwa gelobt worden, nicht auch nur annähernd angemessen behandelt worden. Auch das Bistum hat ihr keine Rückendeckung gewährt. Frau Geis musste nicht zuletzt hier vor Ort erleben: Es kann sehr unbequem sein, Unliebsames mitzuteilen, etwas zu sagen, was sich keiner vorstellen kann und will. Stattdessen war sie für viele diejenige, die der Gemeinde den Pfarrer genommen hat. Sie wurde aus der Chronik der Gemeinde St. Martin in Pohlheim herausgelöscht.“
Rieth machte deutlich, dass auch Pohlheim-St. Martin – so wie alle anderen von einem Missbrauch betroffenen Gemeinden – zu einem sogenannten „Irritierten System“ geworden sei: „Und wenn sich das über Jahre hinzieht, dann überschattet das alles, den Alltag in einer Gemeinde, wirkt überall hinein.“ Manchmal werde dann gefragt, ob man es denn nicht vielleicht besser irgendwann einmal gut sein lassen solle, berichtete Rieth: „Nein, das sage ich ausdrücklich: Schweigen ist keine Alternative. Auch wenn ich weiß, dass das Bistum in der Vergangenheit auch bei Ihnen vor Ort nicht hilfreich war im Umgang mit der Situation und in der Kommunikation auch Fehler gemacht hat. Dafür möchte ich heute um Entschuldigung bitten, verbunden mit der Anmerkung: Kommunikation in diesem Kontext bedeutet oft eine Quadratur des Kreises. Aber: Wichtiges kommt wieder!“
Weiter sagte Rieth: „Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den Menschen danken, die sich davon in Ihrer Gemeinde nicht haben beeindrucken lassen, die hartnäckig geblieben sind, sich immer wieder der Geschichte an diesem Ort gestellt haben und das ins Wort gebracht, zum Thema gemacht haben und auch mit uns, mit mir darüber ins Gespräch gegangen sind. Neben Frau Dr. Rehberg-Schroth möchte ich mich vor allem bei Frau Middelberg und Herrn Fritsche bedanken, die sich in ihrem Einsatz für die Aufklärung und Aufarbeitung an diesem Ort gemeinsam mit Pfarrer Sahm nicht haben beirren lassen.“ Häufig sei es so, dass Pfarreien vom Bistum eine Ansage erwarteten, was in solchen Situationen zu tun sei. So etwas könne jedoch nicht angeordnet werden, betonte Rieth. „Die Entscheidungen müssen den Gegebenheiten vor Ort Rechnung tragen.“ Und es brauche in der Regel einige Zeit, bis tragfähige Lösungen gereift seien.
Die Bevollmächtigte des Generalvikars betonte: „Ihr Einsatz und die Art und Weise, wie wir das nun transparent und öffentlich machen, schafft nicht nur eine gute Form des Erinnerns im Kontext von sexualisierter Gewalt, sondern ist auch ein Versuch, Gerechtigkeit für Betroffene herzustellen und es ist damit auch eine ganz wesentliche Säule der Prävention. Indem wir innerhalb einer Gemeinde und öffentlich so darüber sprechen, zeigen wir: Es gibt bei uns keine Toleranz gegenüber sexualisierter Gewalt an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutz- und Hilfebedürftigen. Diese klare Positionierung sorgt mit dafür, sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche zu verhindern. Sie zeigen damit auch: Es gibt bei uns eine Kultur der Achtsamkeit. Das heißt, wir sind achtsam aufeinander und füreinander. Wir achten auf Grenzen und dass sie eingehalten werden. Wir schaffen hier bei uns sichere Orte, für alle, die sich uns und der Kirche anvertrauen.“
Rieth schenkte der Gemeinde eine „Würdetafel“ des Künstlers Ralf Knoblauch, der Diakon im Erzbistum Köln ist. Anliegen der Würdetafeln ist es „im Sinne einer ‚sozialen Plastik‘ die Botschaft der Würde und gegenseitigen Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit in die Welt tragen“. Und weiter: „Ich lasse Ihnen heute ein solches Würdetäfelchen da, um daran zu erinnern, wie sehr die Würde des Menschen gerade durch sexualisierte Gewalt beschädigt wurde und wird. Möge all unser Handeln in der Aufarbeitung dazu dienen, Betroffenen von sexualisierter Gewalt ein Stück ihrer Würde zurückzugeben.“
Rieth ging auch auf den Evangeliums-Text der Feier, die Verklärung Jesu nach Markus, ein: „Für mich steckt in diesem Evangelium auch eine Mahnung ins Heute: Kein Mensch gehört auf einen Berg oder auf einen Sockel oder auf einen Thron. Noch nicht einmal Jesus selbst hat das für sich in Anspruch genommen. Wenn wir Menschen, die Besonderes wirken, ob das nun Bischöfe, Pfarrer oder andere Amtsträgerinnen und -träger der Kirche sind, oder auch sogenannte Würdenträger im gesellschaftlichen Kontext - wenn wir diese auf einen Sockel heben, dann besteht die Gefahr, dass wir sie unangreifbar machen, unantastbar, sie jeder Kritik entheben, dann kann nicht sein, was nicht sein darf.“
Pfarrer Martin Sahm hatte in seiner Begrüßung gesagt: „Es geht heute um ein positives Erinnern; verbunden mit einer Mahnung an die Zukunft. Für mich ist wichtig voranzustellen, dass ein Gedenkgottesdienst keine Heiligsprechung ist.“ Und weiter: „Heute wollen wir daran erinnern, dass alle Präventionsbemühungen nur leere Worte und Floskeln bleiben, wenn es nicht gelingt, im richtigen Moment auch den Mund aufzumachen.“ Musikalisch gestaltet wurde der Gottesdienst von der Gemeindeband „Laudemus“, die von Giselinde Geis gegründet wurde. Die Band spielte aus dem Fundus des Neuen Geistlichen Liedes zahlreiche „Lieblingslieder“ von Giselinde Geis.