„Wie sollen wir uns künftig erinnern?“

Bischof Peter Kohlgraf beim Podium „Wie sollen wir uns künftig erinnern?“ in Darmstadt (c) Bistum Mainz/Hoffmann
Datum:
Fr. 5. Sept. 2025
Von:
hoff (MBN)

Darmstadt. „Wie sollen wir uns künftig erinnern?“ – diese Frage stand im Zentrum einer Podiumsdiskussion, die am Freitag, 5. September, im Offenen Haus in Darmstadt stattfand. An der Diskussion beteiligten sich der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf, Professorin Christine Gundermann von der Universität Köln, Professor Michael Kißener von der Universität Mainz, sowie Professor Raphael von der Universität Trier. Die Moderation übernahm Dr. Andreas Linsenmann, Co-Leiter der Akademie des Bistums Mainz. Es ging unter anderem um die Frage nach der Erinnerung an die Schoah und die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg in einer Zeit, in der die Ära der Zeitzeugen allmählich zu Ende geht.

Bischof Peter Kohlgraf zur Diskussion „Wie sollen wir uns künftig erinnern?“ in Darmstadt (c) Bistum Mainz/Hoffmann

„Erinnerung ist nicht ausschließlich ein Rückblick in die Geschichte, sie ist auch Verantwortung für die Gegenwart“, sagte Bischof Kohlgraf. Es gehe darum, Opfern eine Stimme zu geben, Verantwortung zu übernehmen, und im dritten Schritt auch Versöhnung anzustreben. „Versöhnung kann man jedoch nicht einfordern. Wenn sie geschieht, ist es ein Geschenk, das Einsicht und Reue auf Seiten der Täter voraussetzt“, sagte Kohlgraf. Als Beispiele nannte er einzelne Initiativen der Aussöhnung zwischen Franzosen und Deutschen, oder die Versöhnungs-Initiative polnischer Bischöfe nach dem Zweiten Weltkrieg.

Professorin Christine Gundermann bei der Podiumsdiskussion „Wie sollen wir uns künftig erinnern?“ in Darmstadt (c) Bistum Mainz/Hoffmann

Professor Lutz Raphael, Senior-Forschungsprofessor und ehemaliger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, wies auf die Problematik voreiliger Versöhnung hin. Oft werde die Frage der Versöhnung zu früh gestellt. „Zur Versöhnung gehört erst einmal Reue. Versöhnung kommt dann später.“ Gleichzeitig hob Raphael hervor: „Die katholische und die evangelische Kirche verfügen über einen großen Fundus an Ritualen und Formen, mit denen man Erinnerung bearbeiten kann.“ Allerdings dürfe man diesen Fundus nicht dazu nutzen, um den Tätern zu vergeben, bevor sie ihre Taten überhaupt bereuten. Kohlgraf stimmte zu: „Versöhnung kann nicht vom Täter eingefordert werden. Es sind Gnadenstunden, die man nicht künstlich erzeugen kann.“

 

Christine Gundermann, Professorin mit einem Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte und Public History an der Universität zu Köln, sprach über ihre Erfahrungen mit deutsch-niederländischen Aussöhnungs-Prozessen: „Es gab Situationen, in denen der Versöhnungsversuch vor Sühne und Reue erfolgen sollte“. Dieses Phänomen bezeichnete sie als „Missbrauch des christlichen Moralkodex“.

Auditorium der Podiumsdiskussion „Wie sollen wir uns künftig erinnern?“ in Darmstadt (c) Bistum Mainz/Hoffmann

Professor Michael Kißener, der einen Lehrstuhl für Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz innehat, sagte im Hinblick auf das voranschreiten der Zeit, die seit der Herrschaft der Nationalsozialisten vergangen ist: „Man kommt zunehmend an bestimmte Grenzen der kollektiven Erinnerung.“ Er attestierte der Kirche, dass sie „viel zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur“ beitragen könne.

 

Gundermann sprach von Deutschland als „Erinnerungsweltmeister“ im Hinblick auf die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Sie mahnte: „Man sollte aufhören, Erinnerungsgemeinschaft ausschließlich auf nationaler Ebene zu denken. Erinnerung bedeutet immer Arbeit und Wandel. Und diese Arbeit kann auf lokaler Ebene oft besser stattfinden, als ausschließlich auf nationaler Ebene.“ Kißener betonte: „Bestimmte Dinge sind gesamtgesellschaftlich nicht verhandelbar. Dazu zählen etwa der Rechtsstaat und das Gedenken an den Holocaust. Ansonsten gehöre in einer Demokratie aber auch eine dialogische Form des Aushandelns dazu, wie Erinnerung stattfinden soll.“

 

Bischof Kohlgraf sprach über die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Diese geschehe auch auf lokaler Ebene. „Da entsteht vor Ort ein Diskurs darüber, wie zum Beispiel mit dem Vermächtnis eines Pfarrers umgegangen werden soll, der ein Täter war. Die Erinnerung zu tilgen löst das Problem oft nicht. Es müssen Formen überlegt werden, wie dem Geschehenen gedacht werden kann, unter Einbeziehung der Betroffenen. Diese Auseinandersetzung muss vor Ort geschehen, weil sie die Menschen vor Ort betrifft. Das wird nicht von der Bistumsleitung verordnet.“

Grußwort von der Bevollmächtigten Rieth

Die Bevollmächtigte des Generalvikars, Ordinariatsdirektorin Stephanie Rieth, bei der Tagung „Nach der Ära der Zeitzeugen“ in Darmstadt (c) Bistum Mainz/Nichtweiß

Der Podiumsdiskussion ging eine Tagung voraus, auf der die Bevollmächtigte des Generalvikars, Ordinariatsdirektorin Stephanie Rieth, ein Grußwort sprach. Darin zeigte sie Parallelen auf zwischen dem Erinnern an die Schoah und der Aufarbeitung sexueller Gewalt in der katholischen Kirche. Sie sagte: „Erinnerungsarbeit bedeutet: Wir hören die Stimmen der Betroffenen – auch dann, wenn es unbequem wird. Wir widerstehen der Versuchung, uns zu distanzieren. Wir lassen uns von ihrer Wahrheit berühren.“ Erinnerungsarbeit bedeute: „dass wir dies nicht nur um der Vergangenheit willen tun. Wir tun es, weil Erinnerung uns verändert – und weil nur veränderte Strukturen verhindern, dass Unrecht wieder geschieht.“ Ihr Fazit: „So verstanden ist Erinnerung nicht Last, sondern Chance. Sie ist der Weg zu einer Kirche, die glaubwürdig sein will. Und am Ende geht es auch bei der Erinnerungskultur zur Shoah immer um Glaubwürdigkeit: einer Gesellschaft, einer Demokratie.“

 

Die Tagung wurde organisiert von Dr. Andreas Linsenmann, Co-Direktor der Akademie des Bistums Mainz, Dr. Annette Wiesheu, Studienleiterin der Akademie des Bistums Mainz, PD Dr. Thomas Brockmann, Leiter des Dom- und Diözesanarchivs Mainz, sowie Dr. Christoph Krauß von der Geschäftsstelle Weltkirche/Gerechtigkeit und Frieden im Bistum Mainz.  

 

Hinweis: Informationen und Veranstaltungen unter bistummainz.de/bildung/akademie