Predigt zum Pontifikalrequiem zu Allerseelen im Hohen Dom zu Mainz am 2. November 2025:Bei Gott ist niemand vergessen
Dieses Psalmengebet führt uns gut in die Feier dieses Allerseelentages. Jeder Mensch ist einmalig vor Gott. Er kennt ihn bis ins Letzte, er hat den Menschen tief in sein Herz hineingenommen, so könnte man es im Bild sagen. Und selbst in der dunkelsten Situation hält Gott jeden Menschen fest in seiner Hand.
Eine der wichtigsten Dienste der Kirche ist das Gedenken an die Verstorbenen, und natürlich immer auch der Dienst an den Lebenden. Gedenken ist eines der zentralen Worte der Bibel. In den Festen, Feiern und den Gottesdiensten gedenkt das Volk Gottes der großen Taten, die Gott an der Welt und den Menschen gewirkt hat. Gedenken ist keine bloße Erinnerung an Vergangenes. Es setzt Gottes Heil gegenwärtig. Er will auch heute das Heil und das Leben für jeden Menschen, den er geschaffen hat. Und in lichtvollen und den dunkelsten Situationen lässt Gott den Menschen auch heute nicht aus seiner Hand, so wie er es in der langen Geschichte mit seinem Volk und jedem Menschen getan hat. Dieses Vertrauen kann glaubende Menschen auch in die Zukunft tragen, bis über den Tod hinaus.
Wenn ich sterbe, bleibe ich einmalig in Gottes Hand. Auch diese Finsternis ist nicht finster für ihn, er erhellt auch das Dunkel des Todes. Es ist christlicher Glaube, dass der Mensch nicht in ein irgendwie geartetes Weiterleben übergeht, sondern auch nach dem Tod einmalig und unverwechselbar bleibt, von Gott beim Namen gerufen und in seine Hand geschrieben. In jeder Hl. Messe gendenken wir der Verstorbenen. Zunächst derjenigen, die mit uns verbunden waren, die wir geliebt haben: Verwandte und Freunde, Menschen, denen wir viel verdanken. Sie bleiben für uns wichtig, sie sind und bleiben uns nahe. Aber das Gedenken geht viel weiter. Auch diejenigen, an die längst niemand mehr denkt, sind bei Gott nicht vergessen, sie bleiben bei ihm lebendig.
Für meinen persönlichen Glauben ist dies wesentlich. Im Leben, im Sterben und im Tod weiß ich mich bei Gott geborgen, von ihm getragen. Unser Totengedenken geht in die Vergangenheit, ist lebendiger Glaube in der Gegenwart und vertraut auf Gottes Treue in der Zukunft.
Wir haben in den vergangenen Monaten gerade in Rheinland-Pfalz über das neue Bestattungsgesetz gesprochen. Neben der Friedhofsbestattung bestehen nun individuellere Formen und Möglichkeiten. Der Friedhof ist ein Ort des Miteinanders von Lebenden und Toten. Wenigstens über einige Jahre besteht die Möglichkeit, auch öffentlich und privat eines verstorbenen Menschen zu gedenken, seinen Namen zu lesen, sich zu erinnern, gegebenenfalls für ihn zu beten. Friedhöfe sind nicht nur religiöse, sondern auch kulturelle Orte, es bleibt eine Verbindung über den Tod hinaus.
In den Herbstferien habe ich einige Tage in Weimar verbracht. Auf dem alten Friedhof begegnen einem dort zahlreiche Grabstätten namhafter Menschen, aus der Goethe-Familie, von Musikern, Dichtern und anderen Persönlichkeiten, nicht zuletzt das Mausoleum mit den Grabstätten von Goethe und Schiller. Geschichte und Persönlichkeiten bleiben lebendig, und das gilt nicht nur für die berühmten Persönlichkeiten. Was wäre dies für ein Kulturverlust, würde man diese Gräber einebnen. Und der Friedhof hat mich zum Nachdenken gebracht: Im Tod werden wirklich alle gleich. Und dennoch bleibt ein Gedenken, ein kurzes Gebet, ein dankbares Erinnern. Menschen nach dem Tod dem Vergessen anheim zu geben, galt in der Geschichte immer als eine der schlimmsten Strafen, die man Menschen antun konnte.
Durch das neue Bestattungsgesetz werden viele Formen des Umgangs mit der Asche eines Verstorbenen ermöglicht. Sie werden individueller und können anonymer werden. Man kann die sterblichen Überreste ganz in das Private geben, und man kann seine Bestattung so regeln, dass keine Form der Erinnerung mehr bleibt. Es ist für mich weniger ein theologisches als ein menschliches Thema. Was steckt dahinter, wenn Menschen keine Erinnerung wollen: Will man nicht zur Last fallen? Dahinter steht möglicherweise ein trauriges menschliches Kapitel. Ist es eine Form der Verbitterung? Das Verlegen des Gedenkens ins rein Private: Was bedeutet es für Trauerprozesse – den Verstorbenen nicht abgeben zu können?
Da derartige Wünsche schriftlich festgelegt werden müssen, kann ich nur ermutigen, im Familien- und Freundeskreis das Thema des Todes und der Erinnerung aus dem Tabu zu holen und darüber zu reden.
Das Bestattungsgesetz und die sich bereits in den letzten Jahrzehnten verändernden Möglichkeiten der letzten Ruhe sind eine Herausforderung an die Kirche, durchaus auch im positiven Sinn. Begleitung von Kranken und Sterbenden und deren Angehörigen wird anspruchsvoller, weil angesichts der verschiedenen Optionen von Abschied, Trauer und Gedenken ein gutes Hinhören und Begleiten aller wichtiger wird. Kirche muss gerade jetzt ein Ort des Gedenkens bleiben. Die Namen der Verstorbenen dürfen gerade in den Kirchen und ihren Gottesdiensten nicht vergessen sein, weil alle in Gottes Hand bleiben.
Ich habe in meinen Jahren als Priester Menschen kennengelernt, die in großer Treue die Gemeinde bei Beerdigungen repräsentiert haben. Das halte ich für einen großartigen Dienst der Nächstenliebe und Würdigung über den Tod hinaus. Vielleicht könnte man mancherorts auch diesen Dienst wiederbeleben. Bei Gott ist niemand vergessen.
Wie ist es mit den Toten, deren Leben schwierig und schuldbeladen war? Wir beten zwar für alle Verstorbenen, aber wir sprechen nicht jeden heilig. Es gehört zum Kern meines Glaubens, dass Gott Gerechtigkeit schaffen wird. Meine Aufgabe ist nicht die eines Richters. Doch auch das gehört heute zum kirchlichen Auftrag: eine angemessene Erinnerungskultur zu ermöglichen und zu begleiten – auch im Hinblick auf Täter des Bösen.
Heute gedenken wir aller Verstorbenen. Niemand ist vergessen, alle sollen ihren Platz finden, den Gott ihnen zugedacht hat. Wir gedenken und wir beten für sie. Denn jeder Mensch geht auch mit seiner Schuld und dem Unvollendeten vor Gottes Angesicht.
Für die Verstorbenen bete ich mit den Worten des Psalms, aber es ist auch mein ganz persönliches Glaubensbekenntnis: „HERR, du hast mich erforscht und kennst mich. Wenn ich hinaufstiege zum Himmel - dort bist du; wenn ich mich lagerte in der Unterwelt - siehe, da bist du. Nähme ich die Flügel des Morgenrots, ließe ich mich nieder am Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich ergreifen.“ Auch ich werde nie vergessen sein. (Psalm 139, 1.8-10)
Es gilt das gesprochene Wort.
