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Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Gottesdienst im Rahmen des Empfangs am Vorabend zum Tag der Arbeit, 30. April 2025, 18.00 Uhr :„DRINGEND GESUCHT und nicht gefunden! Arbeitsmarkt zwischen (Fach-)Kräftemangel und Erwerbslosigkeit“

Fachkräftemangel
In einer der Seitenkapellen des Mainzer Doms liegt einer meiner großen Vorgänger begraben: Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Er war Bischof von Mainz zwischen 1850 und 1877. Bereits als Kaplan in Beckum nach seiner Priesterweihe zeigte er ein hohes Interesse an der sozialen Frage. Armut, Krankheit, mangelnde Bildung, eine Politik, die sich nicht an der Menschenwürde, sondern am Profit orientierte, und viele andere Gründe wurden von ihm bald als Ursachen für das Leid vieler Menschen beschrieben.
Datum:
Mi. 30. Apr. 2025
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Dass er sich auch als Politiker in der Nationalversammlung engagierte, wäre heute nicht mehr möglich, er hatte eine seiner Zeit geschuldete Auffassung von der engen Verbindung von Staat und Kirche. Hintergrund war natürlich auch der Kulturkampf, der kirchliche Vertreter aus jeder politischen Stellungnahme heraushalten wollte. Nach einer Predigt in Kevelaer wurde er wegen Verstoßes gegen dieses sogenannten „Kanzelparagraphen“ zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Kirche sollte sich um das Seelenheil sorgen, staatliche Angelegenheiten habe sie nicht zu erörtern.

In seinen Jahren als Bischof wandte er sich verstärkt der Arbeiterfrage zu und erinnerte die Besitzenden an die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, das durch die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwohl auch zum sozialen Zusammenhalt und zum allgemeinen Frieden beitrage. Als Bischof blieb er lange in Mainz, sein Ruf auf die großen Bischofsstühle Freiburg, Breslau und Köln scheiterten am Einspruch der Regierenden. Für Mainz war dies ein Segen. Viele soziale Einrichtungen tragen bis heute seinen Namen, er hat sich einen guten Ruf erworben als Arbeiterbischof und als einer der Gründungsväter der Katholischen Soziallehre. Zwar gibt es heute keinen Kanzelparagraphen mehr, auch keinen Kulturkampf. Aber den Hinweis, die Kirche und der Bischof sollten sich auf ihr Kerngeschäft, die Seelsorge und das Seelenheil konzentrieren, höre ich seit Jahren immer wieder. Es macht mir manchmal Freude, Nachfolger gerade dieses Bischofs zu sein. Und über den Vorwurf, der Bischof von Mainz und sein Bistum seien linksradikal, wird er im Himmel sicher noch lächeln. Er hat die Seelsorge nicht vernachlässigt und gleichzeitig konnte er die soziale Seite des Evangeliums nicht verschweigen.

Heute schauen wir auf eine seltsame Spannung: Wir schauen auf die Notwendigkeit der auch internationalen Gewinnung von Fachkräften, ohne die unsere Gesellschaft nicht funktionieren könnte. Und wir schauen auf die vielen Armen, deren Armut sich auch in der Erwerbslosigkeit verfestigt. Ja, wir brauchen Fachkräfte. Selbst in den erhitzten Debatten über Migration wird dies anerkannt. Ich will jedoch „Wasser in den Wein gießen“. Das Recht auf Prüfung einer Möglichkeit auf Asyl kann nicht nur auf der wirtschaftlichen Nützlichkeit von Menschen beruhen. Damit spreche ich nicht einer unkontrollierten und gesetzesfreien Migration das Wort, die Politik steht vor einer schwierigen und verantwortungsvollen Aufgabe. Als Kirche sollten wir sie dabei konstruktiv und lösungsorientiert unterstützen. Ich darf aber auch daran erinnern, dass wohl keine Institution so viel für die Integration von Flüchtlingen geleistet hat wie die Kirchen, insbesondere auch mit ihren Ehrenamtlichen in den Gemeinden, in der Caritas, in den Kindertagesstätten und Schulen. Aber Menschenrechte an Nützlichkeit zu koppeln, kann nicht die Lösung sein. Und im Sinne einer internationalen Solidarität und Verantwortung gilt es auch zu bedenken, was es für die entsprechenden Länder bedeutet, wenn wir Fachkräfte gewinnen wollen, die dann dort vor Ort fehlen. Ich spreche nicht als Politiker, aber als Bischof, der einer Weltkirche zugehört, werde ich auch an die internationale Verantwortung gegenüber den Rechten aller Menschen erinnern müssen. Auch international gilt der katholischen Soziallehre zufolge der Vorrang des Gemeinwohls und der Personenwürde vor dem Eigeninteresse.

Wir leben in einem insgesamt wohlhabenden Land, aber es gibt Armut. Wer das leugnet, ist zynisch. Ich erinnere an die Tafeln, die bereits vor gut 20 Jahren 700.000 Menschen mit Lebensmitteln versorgten. Besonders Familien, Kinder und Jugendliche sind betroffen. Vor 18 Jahren hat eine Studie ergeben, dass Kinder aus armen Familien vielfach nicht gesund ernährt werden können. Das wird heute nicht besser sein. Armut geht mit einer fehlenden Perspektive einher – wer einmal arm ist, bleibt arm: „Wer einmal seinen Arbeitsplatz verliert und länger als ein Jahr keine neue Anstellung findet, für den wird eine Rückkehr auf den regulären Arbeitsmarkt immer schwieriger. Die Armutsgefährdung betrifft nicht nur bestimmte Lebensphasen, sondern es ist durchaus ein Risikos zu einer Verfestigung erkennbar.“ 1 Kinder erben die Armut ihrer Eltern, die Bildungschancen sind an die soziale Herkunft gebunden. Der Vorwurf, Erwerbslose würden sich Sozialhilfe erschleichen, ist nicht selten zu hören. Vor Jahren hat eine Studie belegt: Viele der betroffenen Menschen haben sich keine Hilfe erschlichen, über 2 Millionen Menschen haben gar keinen Hilfeantrag gestellt, „aus Unwissenheit, Scham, oder Resignation.“ 2 Kinder sind hierzulande ein Armutsrisiko. Ist das ein überflüssiger politischer Kommentar eines Bischofs oder muss er das nicht erwähnen, wenn die Kirche gleichzeitig an den Wert der Familie für die Gesellschaft erinnert? Arbeitslosigkeit bedeutet Exklusion. Papst Pius XI. nennt die Arbeitslosigkeit eine Geißel für den einzelnen Menschen, aber auch eine Gefahr für den Frieden im Land und weltweit.

Vor einigen Tagen hat sich die Welt von Papst Franziskus verabschiedet. Manchmal mag man ihn belächelt haben, wenn er gegen jeden Trend die Würde aller Menschen betont hat. Ich erlaube mir, ihn etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen.  In seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ schreibt er:

„Jeder Mensch hat das Recht, in Würde zu leben und sich voll zu entwickeln, und kein Land kann dieses Grundrecht verweigern. Jeder Mensch besitzt diese Würde, auch wenn er wenig leistet, auch wenn er mit Einschränkungen geboren oder aufgewachsen ist; denn dies schmälert nicht seine immense Würde als Mensch, die nicht auf den Umständen, sondern auf dem Wert seines Seins beruht. Wenn dieses elementare Prinzip nicht gewahrt wird, gibt es keine Zukunft, weder für die Geschwisterlichkeit noch für das Überleben der Menschheit. Es gibt Gesellschaften, in denen dieses Prinzip nur teilweise gilt. Sie bejahen, dass jeder seine Chancen bekommen muss, dann aber, meinen sie, habe ein jeder alles selbst in der Hand. Aus dieser Sicht hätte es keinen Sinn, »zu investieren, damit diejenigen, die auf der Strecke geblieben sind, die Schwachen oder die weniger Begabten es im Leben zu etwas bringen können«.  Investitionen zugunsten der Schwachen sind möglicherweise nicht rentabel bzw. weniger effizient. Das erfordert einen präsenten und aktiven Staat und zivilgesellschaftliche Institutionen, die über die Freiheit der rein leistungsorientierten Mechanismen bestimmter wirtschaftlicher, politischer oder ideologischer Systeme hinausgehen, weil sie wirklich und in erster Linie auf die Menschen und das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Einige wachsen in Familien mit guten wirtschaftlichen Voraussetzungen auf, erhalten eine solide Ausbildung, sind wohl genährt aufgewachsen oder besitzen von Natur aus bemerkenswerte Fähigkeiten. Sie werden sicherlich keinen aktiven Staat brauchen und nur Freiheit einfordern. Aber offensichtlich gilt das nicht für Menschen mit einer Behinderung, für Menschen aus einem armen Elternhaus, für Menschen mit einem niedrigen Bildungsniveau oder solche, die kaum Chancen auf eine angemessene Behandlung ihrer Krankheiten haben. Wenn die Gesellschaft in erster Linie auf den Kriterien des freien Marktes und der Leistung beruht, ist für sie kein Platz, und Geschwisterlichkeit wird zu einem allenfalls romantischen Ausdruck.“ (107-109)

Arbeiten zu dürfen ist ein Ausdruck von Menschenwürde. Das bedeutet natürlich die Verpflichtung zu menschenwürdigen Arbeitsbedingungen. Sind diese gegeben, dient die Arbeit der Selbstentfaltung, sie lässt den Menschen erfahren, dass er die Welt mitgestalten kann, dass er etwas schaffen kann. Das ist eine Quelle persönlichen Glücks und lässt ihn zum Mitgestalter der Schöpfung werden. Wir wollen nicht nur kritisieren und mahnen. Ich erlebe immer wieder Betriebe und Arbeitgeber, die genau dies leisten. Sie tragen zum Frieden und zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Ich spreche nicht als Politiker, sondern als Bischof.

Liebe Schwestern und Brüder, war das jetzt eine Predigt oder eine politische Stellungnahme? Das lässt sich nicht trennen. Ich glaube an das ewige Leben, das ist meine Hoffnung, die ich gerade in der Osterzeit gerne und mit Überzeugung weitergebe. Aber ich schaue auch auf meinen genannten Vorgänger und zuletzt auf Jesus selbst. Kardinal Joseph Höffner, Erzbischof von Köln, war Sozialethiker. Er ermahnte die Kirche, sich zum Anwalt der Erwerbslosen zu machen, ihnen in allen Lebenslagen zu helfen, die Stimme zu erheben und praktisch zu helfen. 3 Das ist keine linke Politik, das ist das Evangelium, dem ich mich verpflichtet weiß.

 

Es gilt das gesprochene Wort

1 Reinhard Marx, Das Kapital, München 2008, 100.

2 Ebd. 101.

Kardinal Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer 1983, 163.