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Predigt im Pontifikalamt zur Delegiertenversammlung Deutscher Caritasverband am 14. Oktober 2025, 19.00 Uhr im Hohen Dom zu Mainz:Mitbauen an einer Welt mit Herz

Bischof Peter Kohlgraf
„Dilexi te“ – so heißt der vor wenigen Tagen veröffentlichte Text von Papst Leo XIV.: „Ich habe dir meine Liebe zugewandt.“ Er schließt an die Botschaft von Papst Franziskus nicht nur vom Titel her nahtlos an. Sein Blick geht besonders auf die Armen dieser Welt, denen sich unser Herz öffnen muss. Papst Leo spricht einen Mentalitätswechsel an. Im Grunde benennt er die Probleme einer Welt ohne Herz: Menschen suchen zu oft ihr Glück in Wohlstand, Ansammlung von Reichtum und Luxus. Christinnen und Christen sollen der Welt ihr Herz geben, damit es zu gerechten und menschenwürdigen Lebensverhältnissen kommen kann.
Datum:
Di. 14. Okt. 2025
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

„Dilexit nos“ – so lautet der Titel der letzten Enzyklika von Papst Franziskus. Er erinnerte uns an die Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus gezeigt hat: einzigartig und unüberbietbar. Viele sagten, der Papst habe uns mit diesem Text sein geistliches Testament vermacht. Tatsächlich ist er kurz nach der Veröffentlichung gestorben. Ich muss gestehen, dass ich zunächst an die Frage dachte: Wie passt eine Betrachtung zur Herz‑Jesu-Verehrung in Zeiten, in denen es an so vielen Stellen brennt – Kriege, eine Atmosphäre von Gewalt und Hass, die zunehmende Polarisierung in Kirche und Gesellschaft? Und dann dieses Thema? Dennoch kann ich nicht leugnen, dass mir die Herz‑Jesu‑Verehrung etwas bedeutet: Am Herz‑Jesu‑Fest 1993 wurde ich zum Priester geweiht. Doch liefert dieses Thema heute Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit, oder ist es lediglich ein religiöser „Zuckerguss“?

In einem Kommentar las ich dann einen Satz, der für mich ein Schlüssel zum Verständnis des Textes wurde: der Papst habe die Christinnen und Christen ermutigen wollen, der Welt, wie sie ist, das Herz wiederzugeben. Das scheint mir auch die Botschaft für diesen Gottesdienst zu sein. Wir erinnern uns an unseren Auftrag, der Welt das Herz wiederzugeben. Gott selbst verändert zunächst den Menschen. Der Heilige Geist Gottes gibt dem Menschen sein Herz zurück.

In einem alten Film wird von zwei armen Männern erzählt, die aufgrund ihrer Gutmütigkeit im Leben nicht weiterkommen. Immer wieder geben sie das, was sie besitzen, weg. Selbst gehen sie leer aus. Eine Erfahrung, die viele machen: der Gute ist der Dumme. Wenn ich an andere denke, gehe ich selbst leer aus. Der eine von den beiden kommt nun eines Tages auf den Gedanken, seine Seele zu verkaufen. Von diesem Tag an gelingt ihm alles. Er steigt auf, wird reicher und reicher, kommt zu hohen Ehren und stirbt als Konsul, reichlich mit Geld und Gut ausgestattet. Als er seine Seele, sein Herz, verkauft hatte, gab es keine Rücksicht mehr, keine Menschlichkeit, keinen Skrupel. Alles wird dem Gewinn, dem Erfolg untergeordnet. Der Mensch zählt nicht mehr. Wer keine Seele, kein Herz, mehr hat, ist in den Augen der Welt oft ein Großer, aber im Grunde nur noch eine Fassade: ohne menschliches Inneres mehr, alles ist leerer Schein. Menschen geben ihre Seele, ihr Herz, hin, wenn sie nur noch auf Kosten anderer leben.

Ich glaube, dass jeder von uns in gewisser Weise zu dieser Lebenshaltung neigt. Jeder Mensch hat Bereiche in seinem Leben, in denen er Gefahr läuft, seelenlos zu werden – seine Seele, das heißt seine Menschlichkeit, zugunsten scheinbar großer Ziele oder anderer Lebensinhalte zu verkaufen. Das sind die Momente, in denen ich nur noch an mich selbst denke, in denen ich vor anderen mehr sein möchte, als ich wirklich bin, in denen ich eine Fassade errichte oder mich auf Kosten anderer verwirkliche.

Gott gibt mir meine Seele, mein Herz, zurück. Er lässt mich wieder menschlich werden, er zeigt mir, was in meinem Leben wirklich wichtig ist. Dass es möglicherweise besser ist, klein zu bleiben, aber ehrlich und menschlich. Gott gibt unserer Welt die Seele zurück. Wo Menschen mit dem Geist Gottes nichts zu tun haben wollen, zählt die Menschlichkeit nicht. Da ist Trennung, Abgrenzung, Gewinnstreben, am Ende Krieg und Gewalt.

Als der Heilige Geist an Pfingsten auf die Jünger und auf die Menschen herabkommt, verstehen sie sich. Die Menschen aus den fernsten Erdteilen, sie alle sind vereinigt im Lobe Gottes. So entsteht die Kirche: die erste wirkliche globale Gemeinschaft durch den Geist Gottes. In der Kirche bin ich zu Hause, egal, wo ich herkomme. In der Kirche darf es keine Fremden geben. So gibt die Kirche der Welt ihre Seele zurück. Papst Franziskus hat uns dazu gemahnt, der Welt das Herz zurückzugeben. Ich nehme dieses geistliche Testament mittlerweile sehr ernst.

„Dilexi te“ – so heißt der vor wenigen Tagen veröffentlichte Text von Papst Leo XIV.: „Ich habe dir meine Liebe zugewandt.“ Er schließt an die Botschaft von Papst Franziskus nicht nur vom Titel her nahtlos an. Sein Blick geht besonders auf die Armen dieser Welt, denen sich unser Herz öffnen muss. Papst Leo spricht einen Mentalitätswechsel an. Im Grunde benennt er die Probleme einer Welt ohne Herz: Menschen suchen zu oft ihr Glück in Wohlstand, Ansammlung von Reichtum und Luxus. Christinnen und Christen sollen der Welt ihr Herz geben, damit es zu gerechten und menschenwürdigen Lebensverhältnissen kommen kann. Gott selbst nimmt Partei für die Armen dieser Welt. Jesus selbst steht an der Seite der Armen, er öffnet besonders ihnen sein Herz. Der Einsatz für die Armen geschieht auf zweierlei Weise.

Die eine ist die Barmherzigkeit. Sie fragt nicht nach Schuld oder den Gründen für die Armut eines Menschen, sie wendet sich jedem zu und versucht der Not abzuhelfen. Diese Barmherzigkeit wird es immer geben müssen, ohne Barmherzigkeit wird die Welt herzlos werden. Mitleid gilt den Menschen in all ihren Notlagen – in materieller wie geistiger Armut, in Krankheit und Gefangenschaft, in den Migrationsbewegungen unserer Zeit, in der Bildungsarmut; es gilt den Geringsten unter uns.

Die andere Weise ist das Bemühen um Gerechtigkeit. Der Welt ihr Herz zurückzugeben bedeutet immer auch, sich für gerechte Strukturen einzusetzen. Papst Leo erinnert in diesem Zusammenhang an die katholische Soziallehre: Es geht darum, Strukturen der Sünde und der Ungerechtigkeit zu erkennen und zu überwinden. Als Papst Franziskus den Satz prägte: „Diese Wirtschaft tötet“, wurde er vielfach kritisiert – von manchen als naiv lächerlich gemacht.

Papst Leo greift den Satz „Diese Wirtschaft tötet“ auf – als Mahnung, dass wirtschaftliches Handeln ohne Menschlichkeit zerstörerisch wirkt. Nicht überall gilt das Gesetz der sozialen Marktwirtschaft, das der katholischen Soziallehre zugrunde liegt. Es muss der Stachel gesetzt werden, der bewusst macht, dass weltweit andere Gesetze gelten.

Es gibt auch im Blick auf unser Land und unsere Gesellschaft den berechtigten Hinweis, dass Geld die Moral am Ende überwindet. Zu viele Menschen bleiben auch hierzulande auf der Strecke. In diesem Bemühen um gerechte Strukturen dürfen die Armen nicht nur Objekte der Barmherzigkeit sein, sie sind Subjekte des Miteinanders. Mir bleibt nicht erspart, daran zu erinnern, dass sie dies auch in der Kirche weitgehend nicht sind. Barmherzigkeit und das Bemühen um Gerechtigkeit sind Grundbedingungen, der Welt das Herz wiederzugeben.

Wir feiern diesen Gottesdienst im Mainzer Dom. Ich habe in anderem Zusammenhang schon einmal auf ein Faktum hingewiesen, das ich heute gerne wiederhole. In einer der Seitenkapellen des Mainzer Doms liegt einer meiner großen Vorgänger begraben: Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Er war Bischof von Mainz zwischen 1850 und 1877. Bereits nach seiner Priesterweihe als Kaplan in Beckum zeigte er ein hohes Interesse an der sozialen Frage. Armut, Krankheit, mangelnde Bildung, eine Politik, die sich nicht an der Menschenwürde, sondern am Profit orientierte, und viele andere Gründe wurden von ihm bald als Ursachen für das Leid vieler Menschen beschrieben. Dass er sich auch als Politiker in der Nationalversammlung engagierte, wäre heute nicht mehr möglich. Er vertrat eine für seine Zeit typische Auffassung von der engen Verbindung zwischen Staat und Kirche. Hintergrund seines Selbstverständnisses war natürlich auch der Kulturkampf, der kirchliche Vertreter aus jeder politischen Stellungnahme heraushalten wollte. Nach einer Predigt in Kevelaer wurde er wegen Verstoßes gegen diese sogenannten „Kanzelparagraphen“ zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Kirche sollte sich um das Seelenheil sorgen, staatliche Angelegenheiten habe sie nicht zu erörtern. In seinen Jahren als Bischof wandte er sich verstärkt der Arbeiterfrage zu und erinnerte die Besitzenden an die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, das durch die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwohl auch zum sozialen Zusammenhalt und zum allgemeinen Frieden beitrage. Als Bischof blieb er lange in Mainz, sein Ruf auf die großen Bischofsstühle Freiburg, Breslau und Köln scheiterten am Einspruch der Regierenden. Für Mainz war dies ein Segen. Viele soziale Einrichtungen tragen bis heute seinen Namen, er hat sich einen guten Ruf erworben als Arbeiterbischof und als einer der Gründungsväter der Katholischen Soziallehre.

Zwar gibt es heute weder einen Kanzelparagraphen noch einen Kulturkampf. Doch den Hinweis, die Kirche und der Bischof sollten sich auf ihr Kerngeschäft – die Seelsorge und das Seelenheil – beschränken, höre ich seit Jahren immer wieder. Manchmal bereitet es mir Freude, gerade der Nachfolger dieses Bischofs zu sein. Und über den Vorwurf, der Bischof von Mainz und sein Bistum seien linksradikal, wird Bischof Ketteler im Himmel sicher noch lächeln.

Er hat die Seelsorge nicht vernachlässigt und gleichzeitig konnte er die soziale Seite des Evangeliums nicht verschweigen. Auch Papst Franziskus und heute Papst Leo werden sich ähnlichen Vorwürfen aussetzen müssen. Wenn der Grund für die Kritik darin besteht, dass sich die Kirche an die Seite der Armen stellt, werden wir dies gut aushalten können.

Heute feiern wir als Kirche, als Caritas. Wir lassen uns an unsere Aufgabe erinnern, der Welt das Herz wiederzugeben, für Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gleichermaßen einzutreten. Und wir werden uns nicht scheuen, den politischen Anspruch des Evangeliums zu benennen. Wir ermahnen nicht nur andere, wir schauen auch auf unsere Möglichkeiten und Grenzen. Aber wir wollen mitbauen an einer Welt mit Herz. Dazu möge Gott unsere Arbeit segnen.