Predigt in der Martinusvesper Hoher Dom zu Mainz, Sonntag, 16. November 2025, 17:00 Uhr :Nähe zu den Menschen ist keine Methode sondern eine Haltung

Mit dem heiligen Martin haben wir ein gutes Vorbild für kirchliches Handeln heute. Nicht erst seit der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) ist uns die Realität bewusst: Für viele Menschen spielt Gott keine Rolle mehr und sie stellen sich auch nicht die Frage nach ihm. Einen Sinn des Lebens suchen sie ebenso wenig. Die Bindung an die Kirche ist sehr zerbrechlich und das Vertrauen in sie ist häufig gering. Es ist verständlich, dass die erste Frage der Verantwortlichen lautet: „Wie können wir das Vertrauen wiedergewinnen? Wie können wir Anknüpfungspunkte an die Fragen der Menschen von heute finden? Wie können wir die Abwärtsbewegung stoppen?”
Vor 60 Jahren hat das II. Vatikanische Konzil seine Konstitution Gaudium et Spes veröffentlicht. Die Kirche wollte nicht mehr mit festen Antworten kommen, gleichgültig, was die Menschen fragen. Sie wollte die Freuden und Hoffnungen, die Trauer und die Ängste der Menschen von heute wahrnehmen. Was so banal klingt, ist ein bedeutender Perspektivenwechsel. Die Kirche wollte zunächst die Wirklichkeit wahrnehmen, die Themen und Fragen hören, bevor sie Antworten gibt.
Im Rahmen eines Studientags der Vollversammlung der deutschen Bischöfe im September haben wir uns mit der KMU-Studie beschäftigt und versucht, sie in Vorträgen und Gesprächen für uns zu verstehen. Ein zentrales Thema war die Versuchung, als Kirche einer bestimmten Marktlogik zu folgen. Dann merkt man, dass andere Anbieter moderner, aktueller und anschlussfähiger sind. Das ist vielleicht eine ernsthafte Versuchung, der wir erliegen können. Die Nähe zu den Themen der Menschen unserer Zeit ist jedoch keine Methode, sondern eine echte Haltung – sofern wir das Konzil ernst nehmen. Es geht nicht darum, Anschlüsse zu suchen und diese dann umzusetzen, sondern das Evangelium glaubwürdig zu leben: als Haltung und mit echtem Interesse an den Themen der Welt und der Menschen. Wir dürfen sie nicht als Vehikel nutzen, um unsere Botschaft loszuwerden und die Situation der Kirche zu retten. Haben wir dieses wirkliche Interesse oder entwickeln wir nur Methoden? Ein Blick in das Evangelium ist notwendig, denn am Handeln Jesu wird deutlich, dass es ihm nicht um Institutionen geht und er nicht zur Selbstbestätigung handelt. Er nimmt den einzelnen Menschen in seiner Suche nach Heil ernst und spricht gleichzeitig nicht alles heilig, was im Menschen ist. Von Jesus kann die Kirche, die analog zu ihm Sakrament ist, alles Notwendige für das eigene Handeln lernen, ohne dass dies in eindeutige Konzepte, unveränderliche Positionen und Methoden gegossen werden dürfte. Wenn wir nicht nur Methoden entwickeln, sondern personale Begegnung ermöglichen, ist das genau das Gegenteil einstudierter Methoden.
Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft sprengt jeden binnenkirchlichen Blickwinkel und jedes allein auf die Kirche reduziertes Erlösungsverständnis. Im Vollzug der Gottesherrschaft kann man nicht mehr legitim unterscheiden zwischen Welt- und Heilsdienst, denn das Heil Gottes verwirklicht sich vollständig in den Abläufen dieser Welt und betrachtet den Menschen nicht nur im Hinblick auf seine „Heilsbedürfnisse“. Die Herrschaft des Bösen wird gebrochen, Jesus sieht den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen (Lk 10,18). Das Böse erfährt Jesus aber nicht nur im enggefassten Bereich der Sünde, sondern in allen Formen von Armut, Ausgrenzung, Marginalisierung von Menschen. Jesus wendet sich den Menschen im Dunkeln zu, den Deklassierten und Benachteiligten, seien es Zöllner, Dirnen, Kranke oder Unreine[1]. Jesus erfährt das Wachsen des Reiches Gottes nicht in einer heilen Gemeindewelt, sondern beschreibt es als universales Geschehen. Gott beginnt zu herrschen – „alles in allem“. Die Kirche dient dabei als Werkzeug und Mittel, um Gottes Herrschaft wie ein Licht oder einen Sauerteig in die Welt hineinzutragen. Die Kirche will die Welt verändern, indem sie dem Reich Gottes zum Wachstum verhilft. Das kann aber nur gelingen, wenn es ihr nicht um das Eigeninteresse oder die eigene kleine Gemeindewelt geht.
Dieses Pastoralverständnis stellt wichtige Fragen an die Praxis der Kirche. Sie kann Not wenden, wenn sie wirkliches Interesse für die Menschen mitbringt und selbstlos handelt, ohne Hintergedanken oder Profilierungssucht. Das ist mit der Behauptung gemeint, dass Pastoral keine Methode ist, um etwas zu erreichen. Auch das Hineingehen in fremde Milieus oder Lebenswelten geschieht nicht aus Eigennutz, der schon darin bestehen kann, sich dort nützlich machen zu wollen.
Wenn jemand Menschen mit der Kirche und dem Evangelium in Berührung bringen möchte, dann, um ihnen in ihrer individuellen Not zu helfen und ihnen die Erfahrung der Zuwendung Jesu zu ermöglichen. Diese können Menschen nach dem Selbstverständnis der Kirche nirgends so sakramental konkret erfahren wie in der Gemeinschaft der Glaubenden. Auf dem Studientag haben wir uns kritisch mit der Marktlogik befasst, also dem Versuch, menschliche Fragen lediglich als Ansatzpunkte für die eigene Botschaft zu nutzen. Echtes Interesse und Verstehen wollen bedeutet etwas anderes. In einem Gebet der Diözese Eisenstadt heißt es im Hinblick auf den heiligen Martin entsprechend:
„Heiliger Martin, dein Leben wolltest du in Schlichtheit, Einfachheit und Stille leben.
Als Mönch wolltest du leben.
Ohne Pomp und Prunk, ganz Gott und deinem Nächsten zugewandt.
Ob Kranke, Arme oder Suchende — sie alle haben unter deinem Mantel Platz
gefunden.
Schutz, Zuflucht und Heimat hast du vielen gegeben.
Deine Liebe und Zuwendung haben sie erfahren.
Viel hat dein Weg von dir verlangt.
Dass du aus deinem Elternhaus gingst.
Dass du die Strapazen und Gefahren von weiten Reisen auf dich nahmst.
Dass du dich für deine Gegner eingesetzt hast.
Dass du den Auftrag, Bischof zu werden, annahmst.
Dass du in den Menschen immer deinen Nächsten sahst.
Dass du dich immer wieder für das Gute entschiedest.
In vielen Ländern und Sprachen war dein Name bekannt.
Du gingst deinen Weg mutig und aufrecht, warst standhaft und fest
in deinem Auftrag und Glauben, dem Glauben an den dreieinigen Gott.“
Das Leben des Heiligen ist keine Methode, kein Versuch, einfach nur Anknüpfungspunkte zu finden. Es war echtes Interesse am Wort Gottes, am Leben Jesu, an der Situation und den Themen der Menschen.
Die Kirche versteht sich als Zeichen und Werkzeug, als Sakrament. Ein Zeichen muss als solches erkennbar sein. Daher braucht es nicht in erster Linie Belehrungen, sondern Zeuginnen und Zeugen, Menschen, die hören und dann wiederum von ihrer Hoffnung Zeugnis geben. Natürlich brauchen wir auch Konzepte, Strategien und Methoden der Pastoral. Aber sie selbst sind noch nicht die Verkündigung. Die erste Voraussetzung ist das Hinschauen und Hinhören auf Gottes Wort, seinen Willen sowie die Themen der Menschen. Dabei verändern wir uns möglicherweise auch. Zu Recht werden die Menschen misstrauisch, wenn wir ihre Themen nur als Aufhänger nehmen für unseren Erhalt und unsere Botschaften. Der heilige Martin ermutigt uns, nicht in erster Linie Methoden zu suchen, sondern uns erfüllen zu lassen vom Evangelium, echtes Interesse an Menschen und der Welt zu haben. Zeugnis eines Lebens kann dann Fragen auslösen, muss es aber nicht. Martin ist ein Glaubender, der lebt, was er bekennt. Und das überzeugt Menschen bis heute. Menschen ernst nehmen, Gott ernst nehmen – nicht als Methode, sondern als eigenes Lebensprogramm. Möge der heilige Martin uns darin begleiten, motivieren und unterstützen.
[1] Ebd. 20.