Auf der Suche nach einem "Mehr" im Leben

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf 
beim Pontifikalamt anlässlich des Gottfriedsfestes in Ilbenstadt Basilika Ilbenstadt, 1. September 2019

Datum:
So. 1. Sept. 2019
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Menschen können sich in Gott verlieben. Das kann sich, wie bei dem jungen Mann im Evangelium 
(Lk 18,18-22) darin zeigen, dass ein Mensch spürt, dass der bisherige Weg seines Lebens gut ist, dass aber doch eine Sehnsucht nach einem anderen, vollkommeneren Leben spürbar wird, die einen nicht loslässt.

 Bei vielen Heiligen ist diese zu beobachten. In ihnen erwacht eine tiefe Sehnsucht, die sie unruhig werden lässt, die sie aus Gewohnheiten herausreißen will, die sie auf die Suche nach einem „Mehr“ im Leben suchen lässt. Viele haben so Gott gefunden, und dennoch die Erfahrung gemacht, dass ein Eintauchen in die Wirklichkeit Gottes ein ständiger Suchprozess, eine innere Bewegung bleibt. Vielleicht war dies die innere Situation des jungen Mannes, von dem der Evangelist Lukas erzählt. Eine innere Unruhe, die ihn zu Jesus zieht. Vielleicht hat er erwartet, dass Jesus ihm geistliche Einweisungen in die Möglichkeit gibt, Gott erfahren zu können, gute Erfahrungen zu machen, die ihm wohltun. Die Antwort Jesu wird ihn erschüttert haben: Verkaufe alles, und dann folge mir nach. Leben in Fülle, Liebe zu Gott erscheint hier nicht als gutes Gefühl, sondern als radikale Umkehr der Werte und des Lebens. Wie hätte denn für den jungen Mann die Nachfolge ausgesehen? Dazu hätten gehört: Hinter Jesus hergehen, an ihm Maß nehmen, sein Wort aufnehmen und befolgen. Heimatlos und arm sein. Jesus als Beziehungspartner allen anderen menschlichen Beziehungen vorzuziehen. Einige Verse später bringt es Petrus auf den Punkt: „Siehe, was wir besaßen, haben wir verlassen und sind dir nachgefolgt“(Lk 18, 28). Alles, das heißt konkret: Besitz, Familie, Macht und vieles andere, was in den Augen der Welt wichtig ist. Diese Form der Nachfolge als eine christliche Lebensweise hat die Tradition in den sogenannten „evangelischen Räten“ zusammengefasst. Liebe zu Jesus und seinem Vater kann sich zeigen in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam. Bis heute sind derartige Lebensentscheidungen von Menschen für andere anstößig. Entweder jemand hat sich in Gott verliebt, und er erwartet von ihm die Lebensfülle, oder er ist verrückt geworden. Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam als Räte aus dem Evangelium sind bis heute ein Stachel im Fleisch vieler Menschen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass Menschen so erfüllt leben können. Bis heute aber ist es wichtig, dass Menschen in der Kirche so leben, sonst ginge etwas Wesentliches verloren. In erster Linie sind es die Ordensleute, die so so zu leben versuchen. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass viele Orden sterben. Damit geht aber auch der lebendige Beweis aus der Welt, dass diese Haltungen glücklich machen können, weil sie auf den Gott hinweisen, der alle irdischen Glücksverheißungen übertrifft. Wenn Jesus und viele Heilige Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam vorleben, zeigen sie allen Christinnen und Christen etwas, was für alle wichtig bleibt, auch wenn nicht jeder in eine solche Form der Nachfolge eintreten kann und auch nicht muss.
Armut ist eine Lebensweise, die das „Immer-mehr-haben-wollen“ infrage stellt. Bis heute definieren sich Menschen über Besitz. Wer Geld hat, verfügt auch in unserer Gesellschaft über bessere Bildungschancen, er kann sich eine bessere medizinische Versorgung leisten und vieles andere mehr. Wer Geld hat, ist von vielen anerkannt. Besitz ist zunächst nichts Negatives und Armut ist kein Wert in sich. Dennoch hat Jesus bei den Armen immer wieder eine größere Offenheit für Gottes Wort erlebt. Die Frage ist eben, woran man sein Herz hängt. Ein Problem gibt es dann, wenn das Geld zum Gott wird, das alles Denken und Handeln bestimmt. Wenn wir nicht mehr den Menschen schätzen, sondern seinen Wert vom Besitz abhängig machen. Geld ist für Jesus immer dort ein Thema, wo der Mensch meint, im Besitz letzte Sicherheit finden zu können. Es ist dort Thema, wo es den Menschen hartherzig und lieblos werden lässt, oder dort, wo ein Reicher einen Armen verachtet. Eine gewisse Haltung der Armut steht jedem und jeder Getauften in der Nachfolge Christi gut an. Armut heißt dann: Hänge dich nicht an deinen Besitz, lass dich von ihm nicht besitzen. Behalte deine innere Freiheit, sieh deinen Besitz als Gabe und Aufgabe an. Damit dies nicht leere Worte bleiben, braucht es Menschen, die bewusst in dieser Freiheit leben. Vielleicht wächst eine junge Generation heran, die auf andere Werte setzt.
Ehelosigkeit um der Liebe zu Gott willen – wir wissen, dass heute viele nur noch den Kopf darüber schütteln. Menschliche Liebe ist in der biblischen Tradition etwas Wundervolles. Immer wieder wird sie in der christlichen Tradition als Ort der Erfahrung Gottes beschrieben. Wahre Liebe ist aber die Freude am Dasein des anderen. In vielen Religionen gibt es Menschen, die bewusst auf eine menschliche Partnerschaft und die Familie verzichten. Im Christentum darf es nicht aus einer Verachtung der Leiblichkeit und der Sexualität geschehen, wohl aber als Ausdruck der Bindung an Gott, der die Liebe ist. Franz Kamphaus spricht von einer freien Entscheidung eines Menschen, so zu leben, sich an jemand Größeren zu binden. Wie gesagt: beide Lebensformen (Partnerschaft und freier Verzicht) können Ausdruck eines tiefen Glaubens und der Nachfolge sein. Wenn Menschen so leben, müssen sie in guten und tiefen Freundschaften leben, sie brauchen Beziehungen und tragfähige Netze, und sie brauchen einen lebendigen Glauben, der aus der Liebe Gottes lebt. Der Zölibat gerade des Weltpriesters wird dann zum Problem, wenn der Priester zum Einzelkämpfer wird, wenn er einsam wird und der Glaube erlischt. Deswegen sollten wir nicht oberflächlich nur über Abschaffung dieser biblischen Lebensform sprechen, sondern die Glaubenswege der Priester und Ordensleute begleiten und ihnen zur Seite stehen. Was es für Priester bedeutet, dass ihre Lebensentscheidung von vielen nur noch verächtlich gemacht wird, bekomme ich als Bischof immer wieder mit. Oft vermisse ich die geschwisterliche Unterstützung derer, die so zu leben versuchen. Ich glaube, unserer Kirche würde etwas Wesentliches fehlen, wenn Menschen diese Form der Nachfolge nicht mehr lebten. Damit ist noch nichts gesagt über Freiwilligkeit oder Pflicht. Der Zölibat ist natürlich auch deswegen in vielen Fällen nicht mehr strahlend, weil er abgekoppelt wird von den anderen Räten des Evangeliums. Er darf eben kein bequemes, gesetztes Junggesellentum sein, sondern muss etwas von der unruhigen Suche nach dem größeren Leben ausstrahlen.
Der Gehorsam gegenüber dem Willen Jesu steht gegen den unbändigen Willen zur Macht, von dem jeder Mensch versucht werden kann. Jesus wusste um die Versuchung der Macht, der Teufel führt ihn selbst derart in Versuchung. Menschen nehmen Anstoß an der Macht der Kleriker, also derer, die sich als Jünger Jesu verstehen. Es ist gut, dass wir heute kritisch darüber reden, wie kirchliche Verantwortung gestaltet und gemeinsam getragen werden muss, dass Frauen und Männer gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen. Missbrauch von Macht in jeder Form muss offen angesprochen und wirksam verändert werden. Daher steht jeder in der Kirche unter dem Anspruch Jesu, der gekommen ist, zu dienen, und nicht, sich bedienen zu lassen (Mk 10,45). Mir fällt jedoch auf, dass wir viel über Macht reden und im Innersten nach Macht streben. Hier brauchen wir das kritische Wort Jesu, das unsere inneren Motive in Frage stellt. Das gilt für Kleriker und alle anderen Gläubigen. Gehorsam meint nicht allein, Ruhe zu geben. Vielmehr stehen wir alle vor der Frage, wem wir unser Ohr und unser Herz schenken. Ein Weg des Gehorsams ist das Hören auf Gottes Wort, aber auch das Hören aufeinander. Als Bischof hoffe ich, dass wir auf unseren gemeinsamen Wegen das Hören nicht verlernen und selbst nie so laut werden, dass der andere resigniert zu schweigen beginnt. Hören und Reden sind sinnvollerweise nie Einbahnstraßen.
Gottfried hat nach 1121 sein Leben radikal verändert, und ist Ordensmann geworden. Seine Liebe galt den Armen und Notleidenden. Seine Lebensentscheidung zeigt die Suche nach einer Bindung an jemand Größeren. Man kann sich tatsächlich in Gott verlieben. Bleiben wir unruhig und voll Sehnsucht. Der heilige Gottfried möge uns begleiten und ermutigen.