„Lobpreiset all zu dieser Zeit, wo Sonn und Jahr sich wendet“ – so heißt es in einem Lied zum Jahreswechsel (GL 258). Tatsächlich berührt ein Jahreswechsel viele Menschen auch emotional. Sie schauen zurück und gehen mit mehr oder weniger optimistischen Gefühlen in das neue Jahr. Am Ende eines Jahres schauen wir zurück: Vielleicht war es ein gutes Jahr mit schönen Begegnungen, vielleicht hat sich manches gut entwickelt. Kinder sind in die Familie hineingeboren worden, Menschen haben sich gefunden, beruflich sind wir weiter gekommen. Dann gilt es Danke zu sagen, auch für die alltäglichen Lebensbedingungen, die wir oft für selbstverständlich halten. Vielleicht mussten wir uns aber auch von lieben Menschen verabschieden, und die Trauer hält uns gefangen, es lief nicht alles rund, manches ist nicht abgeschlossen. Dann können wir als glaubende Menschen die Hände und das Herz öffnen und uns dem liebenden Gott anvertrauen. Wir sind eingeladen, unser Leben Gott hinzuhalten.
Natürlich schaue ich als Bischof von Mainz mit Ihnen zurück in ein bewegtes Jahr. In unserem Bistum haben wir uns auf den „Pastoralen Weg“ gemacht. In den Dekanaten haben viele Menschen begonnen, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen. Veränderungen bereiten auch Sorgen. Und natürlich stehen Veränderungen an. Niemand geht die kommenden Wege einfach aus einer Laune heraus. Gesellschaft und Kirche verändern sich. In deutlichen Worten hat dies vor wenigen Tagen Papst Franziskus formuliert. In einer Pressemeldung heißt es:
„Von der Situation des Christentums zeichnete der Papst ein nüchternes Bild. ‚Wir haben keine christliche Leitkultur, es gibt keine mehr! Wir sind heute nicht mehr die einzigen, die Kultur prägen, und wir sind weder die ersten noch die, denen am meisten Gehör geschenkt wird‘, sagte er. "Der Glaube, vor allem in Europa, aber auch im Großteil des Westens, stellt keine selbstverständliche Voraussetzung des allgemeinen Lebens mehr dar", so Franziskus. (…) Erneut forderte der Papst von der Kirche einen verstärkten Dienst an Armen, Ausgegrenzten und besonders Migranten. Sie stellten „einen Schrei in der Wüste unserer Menschheit“ dar. Es gehe um „Brüder und Schwestern“, die von der globalisierten Gesellschaft ausgesondert würden. Die Kirche müsse Zeugnis dafür geben, „dass es für Gott niemanden gibt, der fremd oder ausgeschlossen ist“. Das Mittelmeer sei für „zu viele zu einem Friedhof geworden“.[1]
Dass wir als Kirche nicht mehr die bestimmende Kultur sind, ist noch nicht überall wirklich angekommen. Natürlich hängt der Pastorale Weg auch damit zusammen. Nicht nur die Zahl der Hauptamtlichen wird sich verändern, nicht nur die finanziellen und räumlichen Ressourcen, sondern auch die Zahl der aktiven Gläubigen und die Art ihres Engagements. Zu Recht erinnert uns der Papst an die Notwendigkeit der Evangelisierung, die darauf basiert, dass alle Getauften ihren Glauben leben und bezeugen. Auf dem Pastoralen Weg soll es darum gehen, im Rahmen der in Zukunft verfügbaren Möglichkeiten danach zu suchen, wie wir als Kirche und Gemeinde die Schönheit des Glaubens bezeugen können. Im vergangenen Jahr haben Weihbischof Bentz und ich verschiedene Dekanate visitiert, es hat viele Gespräche gegeben und wir müssen im Gespräch bleiben. Neben manchen Fragen sind uns viele Menschen begegnet, die sich außerordentlich für den Glauben, das Evangelium, die Kirche und andere Menschen engagieren. Ihnen wollen wir heute von Herzen Danke sagen und Respekt bezeugen. In der heutigen Situation ist es nicht einfach, sein Christsein öffentlich zu leben und zu bekennen. In diesem Jahr haben viele Menschen unsere Kirche verlassen. Das lässt mich nicht gleichgültig. Es steht uns nicht an, hier ein Urteil zu sprechen. Gott allein kennt das Herz des Menschen. Ich will nur sagen: Es bleibt ein Schmerz, dass es uns als Kirche nicht gelungen ist zu zeigen, dass wir als Gemeinschaft des Glaubens und der Weitergabe eines „Lebens in Fülle“ (Joh 10,10) berufen sind. Wir überlegen im Bistum Mainz, wie wir mit den Vielen, die bei uns bleiben, guten Kontakt halten können. Niemand ist uns gleichgültig. Ich hoffe als Bischof, dass wir Wege finden, dass dies nicht nur schöne Worte bleiben.
Der Papst spricht die politischen Themen an, die auch uns als Kirche bewegen. Der Dienst an den Armen ist auch für uns ein zentrales Thema. Der um sich greifende Populismus mit seinen einfachen und oft menschenverachtenden Antworten macht uns Sorge. In Deutschland macht sich ein zunehmender Antisemitismus breit. Ich erinnere an den grausamen Anschlag in Halle. Wenn in unseren Texten immer wieder die Gläubigen des Judentums als unsere älteren Schwestern und Brüder angesprochen werden, muss dies in unserem Miteinander und einer aktiven Mitsorge gelebt werden. Seit kurzem bin ich Präsident der deutschen Sektion der katholischen Friedensbewegung pax christi und nehme wahr, dass Aufrüstung, Waffenhandel und kriegerische Tendenzen „Urständ“ feiern. Als Christinnen und Christen müssen wir alles tun, um bereits in der Erziehung, in der Jugendarbeit und anderen Feldern an der Versöhnungskompetenz zu arbeiten. Die katholischen Hilfswerke haben nicht umsonst die Sorge um den Frieden als ihr verbindendes Anliegen für 2020 formuliert. Viele besonders junge Menschen gehen für den Erhalt der Schöpfung auf die Straße, ein Anliegen, das wir als Kirche voll und ganz teilen.
Im Bistum Mainz beschäftigt uns weiter der Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und Schutzbedürftigen durch Kleriker und kirchliche Mitarbeiter und dessen Aufarbeitung. In diesem Jahr hat Rechtsanwalt Weber seine Arbeit aufgenommen, die Vorfälle und die systemischen Hintergründe unserem Bistum aufzuklären. Er arbeitet unabhängig, d.h. ich als Bischof, der Generalvikar und andere aus der Leitung des Bistums nehmen keinen Einfluss und werden am Abschluss seiner Arbeit die Ergebnisse vorgestellt bekommen. Ich bitte alle, die von Missbrauchstaten und dem Umgang damit wissen, sich an ihn zu wenden. Daneben arbeiten verschiedene, auch extern besetzte Gruppen, an den notwendigen Themen der Aufarbeitung. Zum 1. Januar 2020 werden alle Bistümer in Deutschland einheitliche Leitlinien und Kriterien einer Präventionsordnung als Bistumsgesetz erlassen, so dass in ganz Deutschland einheitliche Regelungen gelten. Wir bleiben an dem Thema intensiv dran, und werden bald auch konkret informieren, wie der Stand der Arbeiten bei uns im Bistum ist.
Vor dem Hintergrund des Missbrauchs in der Katholischen Kirche sind die Vorbereitungen zum „Synodalen Weg“ der Katholischen Kirche in Deutschland getroffen, Ende Januar wird die erste Synodalversammlung in Frankfurt stattfinden. Niemand kann sagen, wie dieser Weg endet. Aber dass wir miteinander reden müssen, bestreiten nur die wenigsten. Und die Themen sind keine spezifisch deutschen Themen: die Frage der Macht und der geteilten Verantwortung, eine dem Evangelium gemäße und menschengerechte Sexualmoral, die Glaube und Vernunft zusammenbringt, das Thema der priesterlichen Lebensform und auch das Anliegen, über die Rolle der Frauen in den Diensten und Ämtern der Kirche zu sprechen. Diese Themen drängen viele, und der Druck kommt natürlich auch bei mir an. Es geht um eine glaubwürdige Gestalt der Kirche, und damit auch um die Weitergabe des Glaubens. Ich bitte, den kommenden Weg mit Gebet zu begleiten und die Möglichkeiten zu nutzen, sich aktiv zu beteiligen. Allerdings sage ich auch deutlich: Wir dürfen den „Erfolg“ nicht allein davon abhängig machen, dass sich die eigene Meinung am Ende zeitnah durchsetzt. Manche Wege brauchen lange Zeit, für manche Frage braucht es dann auch die weltkirchliche Konsensfindung und Meinungsbildung. Es mag nach wenig klingen, aber für mich ist es ein Erfolg, wenn alle Gläubigen miteinander beten und diskutieren, nach dem Willen Gottes für unsere Zeit fragen, und wir dann natürlich konkret das umsetzen, was derzeit schon umzusetzen ist. Auch in den Fragen des Synodalen Weges ist noch nicht unbedingt angekommen, dass es nicht einfach nur darum geht, alten Wein in neue Schläuche, sondern neuen Wein in neue Schläuche zu füllen. Es geht nicht nur um eine schöne neue Verpackung. Ich bete darum, dass wir herausfinden, was dieses Bild meint, das Jesus bereits so im Evangelium sagt (vgl. Mk 2,21f.)
Ja, die Kirche verändert sich, und es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass wir nicht wissen, welche Form am Ende steht. Wer nach den Zeichen der Zeit fragt und dem, was Gott uns wohl sagen will, ist kein Opportunist und hechelt nicht dem Zeitgeist hinterher. Schwarzmalerei allein hilft aber ebenfalls nicht. Zu viele wissen jetzt schon, dass es so nicht gehen kann. Mir schrieb ein alter Priester dieser Tage, dass ihn die manchmal hysterischen Debatten nicht beunruhigen: Wir lebten in Gottes Welt und in seiner Kirche. Jemand anderes erinnerte mich an Papst Johannes XXIII., der zur Eröffnung des II. Vatikanums schrieb: „Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstünde.“ Auch Jesus warnt vor selbsternannten Unheilspropheten, die es auch in unserer Kirche zur Genüge gibt. Von allen wünsche ich mir, dass wir zuerst lernen, uns zu verändern, bevor wir anderen Moral predigen und urteilen.
So gehe ich mit Vertrauen in die oft noch unklare Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Kirche. Auch wie sich mein persönliches Leben entwickelt, weiß ich nicht. Und das geht wohl den meisten so am heutigen Abend. Aber wir legen unser Leben in seine Hände, an dem Punkt, an dem Sonn und Jahr sich wendet. Es ist seine Welt, seine Zeit und unser Leben liegt auch in seiner Hand. Der Herr hat Tag und Jahr geschenkt (Gl 258,1). Das glaube ich fest und so will ich in ein neues Jahr gehen.
[1] https://www.katholisch.de/artikel/23999-papst-will-tiefgreifende-reformen-keine-christliche-leitkultur-mehr (21.12.2019).