Gnade als Heilmittel

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf bei der Priesterweihe 2024 Hoher Dom zu Mainz, Samstag, 06. Juli 2024, 9.30 Uhr

Titelbild Gnade (c) Walter Mückstein
Datum:
Sa. 6. Juli 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Christus ist oft ohnmächtig, wenn wir uns ihm verweigern und ihn nicht erfahrbar machen. Vor allem menschlichen Tun steht jedoch die Gnade. Sie ist das entscheidende Heilmittel gegen jede selbstgemachte Überforderung, gegen jeden menschlichen moralischen und spirituellen Perfektionismus und gegen das Selbstbild der eigenen Unentbehrlichkeit. In dieser seltsamen Spannung vollzieht sich die Nachfolge, auch der priesterliche Dienst. Tun Sie, was Sie können, aber verfallen Sie nicht in Selbstüberschätzung. 

„Meine Gnade genügt dir; denn die Kraft wird in der Schwachheit vollendet.“ (2 Kor 12,9)

Lieber Weihekandidat Lukas Tyczka, liebe Festgemeinde,

In diesem Leitwort, das Sie sich gewählt haben, steckt wirklich der Schlüssel für ein gelingendes und anspruchsvolles christliches und priesterliches Lebenskonzept. Gnade, Charis (griech.), ist ein biblisches Schlüsselwort, erst recht ein Schlüsselwort der neutestamentlichen Verkündigung. Paulus, aus dessen 2. Korintherbrief das Zitat entnommen ist, ist der Hauptzeuge der Gnade. Seine Theologie hat er nicht in einsamen Stunden am Studiertisch entwickelt, sondern er hat sie am eigenen Leib erfahren. Er spricht aus Erfahrung. Aus dem Verfolger wird der Missionar, weil ihm Christus begegnet ist. Er lernt in dieser Begegnung vor den Toren von Damaskus, dass seine Rettung und seine Berufung nicht auf Leistung beruhen, sondern dass Christus ihn aus Gnade erwählt hat, dass er sich Gottes Liebe und Anerkennung nicht verdienen muss, ja nicht einmal verdienen kann, sondern dass er und die Menschen, die sich diesem Glauben anschließen, aus Gnade gerettet sind.

Der Glaube an die Berufung aus Gnade ist die eigentliche Grundlage für eine besondere Berufung in einen kirchlichen Dienst. Weder ich noch Sie stehen hier, weil wir besonders gute oder moralisch herausragende Menschen sind, sondern weil wir gerufen sind in den Dienst des größeren Gottes, der uns zutraut, sein Evangelium weiter zu geben. Wir und Sie haben wohl keine vergleichbare Lebens- und Glaubenserfahrung wie der Apostel Paulus gemacht. Aber hoffentlich ist das Evangelium nicht nur eine schlaue und gut ausgedachte Theorie für uns, sondern Lebenswirklichkeit und Erfahrung. Ich denke an ein berühmtes Zitat des Theologen Karl Rahner: „Der Christ von morgen wird ein Mystiker sein, oder er wird gar nicht mehr sein.“ Das heißt, er (oder sie) wird jemand sein, der Gott erfahren hat, oder er wird aufhören, Christ zu sein. Jemand muss Erfahrungen im Glauben machen, er muss erfahren, wie schön es sein kann, an Gott zu glauben, wie gut es ist, zu einer Glaubensgemeinschaft zu gehören, dann wird er sich für den Glauben interessieren, dann wird er Christ sein können. Wenn das Christentum nur noch Institution ist, ein Sammelbecken gut ausgedachter Theorien, dann bleibt es nicht aus, dass Menschen der Kirche und dem Christentum den Rücken kehren, dass es nach und nach uninteressant wird. Priester und andere Gläubige in einem besonderen Dienst sollen nicht belehren, sondern bezeugen, woraus und aus welchen Quellen sie leben. Aus der Gnade leben heißt demnach, aus den Quellen zu schöpfen, die Gott uns anbietet. Priester und andere Gläubige bedürfen der Sakramente, des Wortes Gottes, der Erfahrung der Glaubensgemeinschaft der Kirche, dies sind die Quellen unseres Glaubens. Wie Paulus müssen wir uns die Liebe und Zuwendung Gottes nicht verdienen. Bereits im Neuen Testament beginnt der Streit darüber, welche Bedeutung dann der Mensch hat. Nimmt die ausschließliche Betonung der Gnade die Rolle des Menschen ernst? Dieser Streit zieht sich durch die Jahrhunderte. Der Glaubende muss sich die Liebe Gottes nicht durch Werke und Leistung verdienen, das ist sicher. Aber er ist nicht berufen, um die Hände in den Schoß zu legen. Jeder und jede in der Nachfolge Jesu ist gerufen, in Tat und Wort zu bezeugen, was die eigene Glaubenserfahrung ist. Nur reden allein genügt nicht, es wird immer auch darum gehen müssen, das Evangelium Wirklichkeit werden zu lassen.

Als ich mich an der Universität Münster habilitierte, bin ich gerne in die dortige Ludgeri-Kirche gegangen. Dort hängt ein besonderes Kreuz. Man sieht dort einen Gekreuzigten ohne Arme. Im zweiten Weltkrieg hat Christus bei einem Bombenangriff beide Arme verloren. Wenn man vor diesem Kreuz betet, rührt es einen schon an. Normalerweise sieht man die Arme ja weit ausgebreitet, so, als würde er uns an sich ziehen, als würde er alle Menschen berühren und umarmen wollen. Das kann er bei diesem Kreuz nicht. Unter diesem Kreuz steht folgendes Gebet aus dem 14. Jahrhundert: „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun. Er hat keine Füße, nur unsere Füße, um Menschen auf seinen Weg zu führen. Christus hat keine Lippen, nur unsere Lippen, um Menschen von ihm zu erzählen.
Er hat keine Hilfe, nur unsere Hilfe, um Menschen an seine Seite zu bringen.“ Natürlich kann man diesen Text auch falsch verstehen. Gott hat immer mehr Macht und Möglichkeiten als wir Menschen.

Aber schauen wir uns die Evangelien genauer an. Jesus gibt seinen Jüngern den Auftrag, das Reich Gottes, das Werk Jesu in der Welt gegenwärtig zu machen. Wie er aus Liebe das Kreuz trägt. Er will nicht ohne uns Menschen wirken. Wir sind seine Hände, die Gutes tun, seine Füße, die anderen das Evangelium bringen, seine Lippen, durch die er die frohe Botschaft verkündet. Christus ist oft ohnmächtig, wenn wir uns ihm verweigern und ihn nicht erfahrbar machen. Vor allem menschlichen Tun steht jedoch die Gnade. Sie ist das entscheidende Heilmittel gegen jede selbstgemachte Überforderung, gegen jeden menschlichen moralischen und spirituellen Perfektionismus und gegen das Selbstbild der eigenen Unentbehrlichkeit. In dieser seltsamen Spannung vollzieht sich die Nachfolge, auch der priesterliche Dienst. Tun Sie, was Sie können, aber verfallen Sie nicht in Selbstüberschätzung. Papst Franziskus hat einmal scherzhaft gesagt: „Unsere Friedhöfe sind voll von Menschen, die sich für unentbehrlich hielten.“ Und dennoch nicht die Hände in den Schoß zu legen, das bedeutet leben in der Gnade. Wer in der Gnade lebt, hat auch eine Gnadengabe, ein „Charisma“. Das Kennzeichen einer Gnadengabe ist immer, dass sie der Gemeinschaft dient, nicht nur der eigenen geistlichen Verwirklichung.

Lieber Weihekandidat, vergessen Sie bitte nie diesen Auftrag zum Aufbau des Leibes Christi. Diejenigen in einem besonderen Dienst haben ihr Charisma, um die Charismen der anderen Gläubigen zu fördern, auch sie entdecken zu helfen. Es gibt Formen von Seelsorge, die die Charismen anderer unterdrücken, so dass sie nicht zum Zuge kommen. Jedes Charisma ist Teil des Ganzen und muss der Gemeinschaft dienen, der Einheit und der Vielfalt. Der Priester ist auch nicht zwangsläufig der Kopf des Leibes, manchmal muss er die Hand sein, die zupackt, manchmal der Fuß, der weitergeht, manchmal auch das Herz, das für die Gemeinschaft schlägt. Gnade, Charis, ist der Bibel zufolge keine Herablassung Gottes zum Menschen, sondern Begegnung und Zuwendung. Christus ist die Person, die für die Gnade steht. Gnade ist Begegnung. Ich bitte Sie, jeden Tag diese Gnade in der Begegnung mit Christus zu leben in den Sakramenten, im Gebet, aber auch in der Begegnung mit den Menschen, den Schwestern und Brüdern. Bringen Sie sich als Person ganz ein in die Nachfolge und den Dienst, und nehmen Sie sich gleichzeitig zurück, denn niemand von uns ist selbst Gegenstand der Verkündigung. Wir sind im Auftrag eines Größeren unterwegs. „Meine Gnade genügt dir; denn die Kraft wird in der Schwachheit vollendet.“ – Ich wünsche Ihnen die Erfahrung, die auch der Apostel Paulus machen durfte. Trauen Sie sich etwas zu, weil Gott Ihnen etwas zutraut. Aber vergessen Sie nicht, dass er Ihnen in jedem anderen Menschen begegnet. Dazu wünsche ich Ihnen Gottes Segen und Begleitung, aber auch den Menschen, zu denen Sie gesandt sind.