„Im Schatten der Erinnerung: Schandtaten und Verbrechen im Westen“

Ansprache von Bischof Peter Kohlgraf bei der Eröffnung der Ausstellung aus Anlass des Gedenktags an die Opfer des Nationalsozialismus in der Evangelischen Christuskirche Mainz

Ausstellung Gedenktag 27. Januar (c) Bistum Mainz / Blum
Datum:
Sa. 27. Jan. 2018
Von:
Anette Schermuly
Die Opfer stehen im Mittelpunkt. Ihrer zu gedenken und sich von der Erinnerung an sie berühren zu lassen, das ist auch der – vielleicht hilflose – Versuch, ihnen ein Stück ihrer Würde zurückzugeben, die ihnen genommen wurde.

Sehr geehrter Herr Pfarrer Warneck,
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrter Herr Präses Dr. Oelschläger,
Meine Damen und Herren,

haben Sie vielen Dank, dass Sie mich als den neuen Bischof von Mainz zu dieser Ausstellungseröffnung eingeladen haben, und Sie mir die Gelegenheit geben, hier zu sprechen. Ihr Anliegen, den Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar zu begehen, ist auch mir ein großes Anliegen. Ich bin sehr dankbar, dass die Arbeitsgruppe „Gedenktag 27. Januar“ es jedes Jahr in ökumenischer Zusammenarbeit übernimmt, dem Gedenken an die Opfer der NS-Zeit in unseren Kirchen Raum zu geben: Mit einem Ökumenischen Gottesdienst am kommenden Sonntag, mit dem wir unser Gedenken im Gebet vor Gott bringen und mit dieser Ausstellung, die wir heute hier eröffnen und die – wie die Ausstellungen der vergangenen Jahre – dazu auffordert, sich exemplarisch mit einem konkreten Aspekt der nationalsozialistischen Verbrechen auseinanderzusetzen.

Die aktuelle Ausstellung rückt die Besatzung in den Benelux-Staaten in den Fokus – und holt sie „aus dem Schatten der Erinnerung“, wie es im Titel heißt. Insbesondere die NS-Verbrechen im Osten sind im öffentlichen Bewusstsein präsent. Über die Schrecken der Besatzung in den sog. kleinen Ländern im Westen wissen wir viel weniger. Die Ausstellung dokumentiert umfassend die Geschehnisse, die Gewalttaten und Verbrechen der deutschen Besatzung in den Benelux-Ländern. Und sie stellt heraus, dass Belgier, Luxemburger und Niederländer lange darauf warten mussten, dass das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, in Deutschland wahrgenommen und anerkannt wird. Die Anerkennung erlittenen Unrechts aber ist Voraussetzung dafür, dass ein Neuanfang in Beziehungen möglich wird, vielleicht sogar Versöhnung. 

Bei einem ersten Blick auf die Ausstellung sind mir vor allem die Bezüge zu unserer Stadt und zu unserer Region ins Auge gefallen. Genannt werden die Außenlager des KZ Hinzert in und um Mainz, in denen auch Menschen aus den besetzten Benelux-Staaten festgehalten wurden und zu Tode kamen. Das sind bekannte Namen, die Orte liegen direkt vor unserer Haustür. Sie führen uns vor Augen, dass – wie es im Ausstellungstext heißt – "sich mit der Errichtung eines dichten Netzes von KZ-Außenlagern (...) die NS-Herrschaft von der Peripherie dorthin zurück [fraß], woher sie gekommen war: in das Zentrum der deutschen Gesellschaft". Ich lese das als Mahnung daran, dass Unrecht nicht in der Ferne geschah und geschieht, sondern in unserer Nachbarschaft. Es erwächst aus unserer Mitte, aus unseren Einstellungen und Haltungen. Auch der Hinweis der Ausstellung auf die Gedenkstätte für den niederländischen Karmeliterpater Titus Brandsma und seinen belgischen Ordensbruder Raphael in der Mainzer Karmeliterkirche spricht mich besonders an. Titus Brandsma, Theologie-Professor in Nimwegen, ein entschiedener Gegner der Nazis, wurde 1942 verhaftet, ins KZ Dachau verschleppt und dort ermordet. Sein Beispiel lässt an die vielen Christinnen und Christen denken, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Wahrung der Menschenwürde einsetzen. Zugleich führt es schmerzlich vor Augen, dass nicht sehr viele Christinnen und Christen, dass nicht sehr viele Kirchenmänner den Mut aufbrachten, laut gegen die Verfolgung und Vernichtung ihrer jüdischen Mitmenschen die Stimme zu erheben; dass auch heute die Botschaft des Evangeliums uns Christinnen und Christen oft nicht mutiger macht als andere.

Es geht bei den Veranstaltungen zum 27. Januar – und damit auch bei dieser Ausstellung – nicht allein um die rückblickende Beschäftigung mit der Vergangenheit. Es geht vielmehr darum, sich der Geschehnisse und insbesondere der Opfer zu erinnern. Erinnern – das heißt für mich: sich berühren zu lassen, sich zu fragen, was all dies mit mir und mit uns heute zu tun hat; und sich bewusst zu machen, dass aus den furchtbaren Geschehnissen der Vergangenheit eine Verantwortung für die Gegenwart erwächst. „Das Gegenteil von Gleichgültigkeit ist Erinnerung“[1] formuliert ein Buchtitel in Anlehnung an Elie Wiesel.

Der 27. Januar ist der "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus". Die Opfer stehen im Mittelpunkt. Ihrer zu gedenken und sich von der Erinnerung an sie berühren zu lassen, das ist auch der – vielleicht hilflose – Versuch, ihnen ein Stück ihrer Würde zurückzugeben, die ihnen genommen wurde. Mir ist es bei diesem Gedenken an die Opfer besonders wichtig, sie nicht nur in ihrer Opferrolle wahrzunehmen, sondern als Menschen, die – obgleich sie ihr Leben nicht leben konnten – doch ihre Spuren in unserer Welt hinterlassen haben; die manchmal in Situationen unsagbaren Leidens sich Menschlichkeit bewahren konnten und vielleicht sogar ihren Glauben an Gott. Ich will die niederländisch-jüdische Lehrerin und Schriftstellerin Etty Hillesum zu Wort kommen lassen, die auch in der Ausstellung erwähnt wird. Im Alter von knapp 30 Jahren wurde sie 1943 nach Auschwitz deportiert und mit ihren Eltern und ihren Brüdern ermordet. Etty Hillesum hat in den Jahren der Besatzung der Niederlande ein Tagebuch geführt, das gerettet und veröffentlicht wurde. Aus dem Lager Westerbork, einer „Zwischenstation“ vor der Deportation nach Osten, gelingt es ihr, an ihre Freunde eine Botschaft der Lebensbejahung und der Versöhnung zu senden: Ich zitiere aus einem Brief von Etty Hillesum:

Das Elend ist wirklich groß, und dennoch laufe ich oft am späten Abend, wenn der Tag hinter mir in die Tiefe versunken ist, mit federnden Schritten am Stacheldraht entlang, und dann quillt es immer wieder aus dem Herz herauf […]: Das Leben ist etwas Herrliches und Großes, wir müssen später eine ganz neue Welt aufbauen – und jedem weiteren Verbrechen, jeder weiteren Grausamkeit müssen wir ein weiteres Stückchen Liebe und Güte gegenüberstellen, das wir in uns selbst erobern müssen […]. Und wenn wir diese Zeit unversehrt überleben, körperlich und seelisch unversehrt, aber vor allem seelisch, ohne Verbitterung, ohne Haß, dann haben wir auch das Recht, nach dem Krieg ein Wort mitzureden.[2]

Wenn wir uns an Menschen wie Etty Hillesum erinnern, dann lassen wir sie heute „ein Wort mitreden“.


[1] Boschki, Reinhold / Mensink, Dagmar (Hg): Das Gegenteil von Gleichgültigkeit ist Erinnerung. Versuche zu Elie Wiesel, Mainz 1995.

[2] Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Hg. und eingeleitet von J. G. Gaarlandt. Aus dem Niederländischen von Maria Csollány, Reinbek 1985, S. 209, zitiert nach: Eichmann-Leutenegger, Beatrice: Ein denkendes Herz in Amsterdam. Zum 100. Geburtstag von Etty Hillesum (1914-1943). In: Stimmen der Zeit 1/2014, S. 3-13.