Mainz. Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf hat den Gottesdienst an Pfingstsonntag, 31. Mai, im Mainzer Dom gefeiert. Die musikalische Gestaltung dieser Messe erfolgte erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie wieder in einem etwas größeren Rahmen. Der Mainzer Domkapellmeister, Professor Karsten Storck, hatte für den Gottesdienst vier freischaffende Musiker eingeladen, die aufgrund der geltenden Beschränkungen derzeit nahezu keinerlei Auftrittsmöglichkeiten haben. Die vier Streicher führten bei dem Gottesdienst zusammen mit fünf Sängern unter Leitung von Domkapellmeister Storck während des Pfingstgottesdienstes Auszüge aus der Spatzenmesse von Wolfgang Amadeus Mozart auf. Außerdem spielte der Mainzer Domorganist, Professor Daniel Beckmann, an der Domorgel. Im Folgenden dokumentieren wir den Wortlaut der Predigt von Bischof Kohlgraf:
Sie, liebe Schwestern und Brüder, sind „Geistliche“. Oft wurde dieser Ehrentitel ausschließlich für die geweihten Diakone, Priester und Bischöfe verwendet. Aber bereits das Neue Testament erinnert an die Geistesgaben aller Gläubigen als dem großen Schatz der Kirche und der Welt. Die Getauften sind geweiht zu einem heiligen Priestertum, sie sind Trägerinnen und Träger des Geistes, berufen, geistliche Menschen zu sein.
Das ist ein großes Wort und eine große Würde: geistlich leben, geistlich sein. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was das bedeutet. Leicht ist es, Ungeist zu erkennen. Oder Menschen, die wenig Heiligen Geist verbreiten. Auch Geistlosigkeit kann sich verbreiten und die Welt durchdringen. Jeden Tag erreichen uns Nachrichten, aus denen ein derartiger Ungeist spricht. Wo dies der Fall ist, sind Beziehungen gestört, wird Unfrieden gesät, setzt sich irgendjemand als das Zentrum dieser Erde in Szene. Geistliche Menschen hingegen sind Menschen, die Brücken zu anderen bauen, die ein „Klima der Menschenfreundlichkeit“ schaffen. Geistliche Menschen sind selbstbewusst, sehen sich aber als Menschen in Beziehung zu anderen. Charismen, Geistesgaben, bauen stets auf. Bischof Egon Kapellari[1] stellt fest, dass die Geistesgaben, die Charismen, das Mittel dazu sind, das Evangelium „charmant“, d.h. gewinnend werden zu lassen. Geistesgaben – Charismen – Christen und Christinnen als charmante, gewinnende Menschen. Dieses Wortspiel lässt ahnen, was ein geistlicher Mensch ist: jemand, der das Evangelium liebenswert konkret werden lässt. Das wird jeder und jede auf je eigene Art tun, denn es gibt so viele Zugänge zum Geist Gottes, zum Wort des Evangeliums, und der Geist wird sich immer auch der natürlichen Gaben eines Menschen bedienen.
Glaube, der gewinnend ist, darum geht es im geistlichen Leben als getaufter Mensch. Bei aller Unterschiedlichkeit der Gaben eines einzelnen scheinen mir aber bestimmte Grundhaltungen wichtig zu sein, damit Glaube überzeugend für andere werden kann.
Der geistliche Mensch hat sein Fundament in Gott und ist gleichermaßen menschenliebend. Religion kann viele Gesichter annehmen, auch die Fratze von Gewalt und Intoleranz. Ein fanatischer, menschenverachtender Glaube ist nicht im Sinne des Evangeliums. Natürlich, die Zeiten einer gewaltsamen Mission durch das Christentum sind vorbei. Aber auch in unserer Welt müssen wir auch als Kirche immer wieder daran erinnern, dass Gottes- und Nächstenliebe zwei Seiten einer Medaille sind, dass ein Gottesdienst ohne Liebe zum Menschen wertlos bleibt. Ich nehme in unserer Kirche verschiedene Seiten wahr. Zum einen gibt es diejenigen, die sehr stark den diakonischen Aspekt leben. Sie setzen sich dafür ein, dass es anderen gut geht. Dieses Tun ist ein Ausdruck auch des Gottesdienstes im Alltag. Viele holen die Kraft dazu aus dem Gebet. Zum anderen melden sich gerade auch in diesen Tagen Menschen zu Wort, denen der Gottesdienst und die Sakramente unverzichtbare Quellen ihres Lebens sind. Wir spüren, dass dies nicht zu Lasten anderer gehen kann. Immer wieder müssen Gottes- und Nächstenliebe verbunden werden und in Beziehung zueinander bleiben. Charmant ist der Glaube dann, wenn dieser Zusammenhang erfahrbar wird. Ein auf irgendeine Art fanatischer Glaube ist weder charmant noch geistlich.
Der geistliche Mensch hat ein kindliches Vertrauen in Gott und sucht gleichzeitig nach einem reifen und reflektierten Glauben. Gerne bete ich die Psalmen, darunter auch starke Sätze des Vertrauens: Herr, in deine Hände lege ich mein Leben (Ps 31,6), der Herr ist mein Hirte (Ps 23), wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter, so ist meine Seele in mir (Ps 131). Ich bete mit den Worten Jesu zu unserem „Abba, „Vater“ – und darf mich ganz in seinen Händen wissen. Dieses kindliche Vertrauen hilft mir unendlich. Ich habe Menschen kennen gelernt, die einen solchen Glauben gelebt haben und auch in einem solchen Glauben gestorben sind. Dieses kindliche Vertrauen muss im Laufe eines Lebens immer mehr in einen erwachsenen Glauben eingebunden werden. Nicht selten schleichen sich auch in die christliche Frömmigkeit beinahe magische Vorstellungen oder auch Aberglauben. Menschen sind oft nicht sprachfähig oder in der Lage zu formulieren, was sie glauben. Das wird in unserer Zeit immer wichtiger werden: Glauben und Vernunft zusammen zu führen, begründen zu können. Christinnen und Christen sind in Gottes Hand, und er hat sie mit Vernunft begabt. Soll unser Glaube charmant sein, dürfen dies nicht zwei Welten sein. Wir stellen Fragen, suchen nach Antworten, tun dies mit Verstand und Herz: das ist geistliches Leben. Geistliche Menschen sind Menschen, die aus dem Gebet leben, und dies mit einer tiefen Aufmerksamkeit für die Themen der Zeit und der Gegenwart verbinden. Dabei gehen sie nicht in der Gegenwart auf, sie lernen, die Geister zu unterscheiden, ob sie aus Gott sind. Geistliche Menschen leben aus dem langen Atem der gelebten und lebendigen Tradition, aber sie erstarren nicht in Formeln und Gewohnheiten. Sie verstehen sich als lebendige Glieder einer vom Geist begleiteten Geschichte. Andere Menschen können so spüren, dass Christinnen und Christen aus Wurzeln leben, die ihnen geschenkt sind, sie aber auch Expertinnen und Experten sind für die Themen und Zeichen der Zeit. So wird der Glaube charmant – das Leben bleibt geistlich.
Ein geistliches Leben führen Menschen, die im Glauben Heimat haben und dennoch auf dem Weg und beweglich bleiben. Gerade die Gaben des Geistes Gottes bewirken, dass der Mensch scheinbar sichere und bequeme Räume verlässt und sich in Bewegung bringen lässt. Wir haben uns vor einem Jahr als Bistum endgültig auf den „Pastoralen Weg“ gemacht. Vieles ist in dieser Zeit entstanden, viele Fragen sind aufgetaucht, erste wichtige Schritte sind wir gegangen. Derzeit geht es anders als geplant. Vor einem Jahr habe ich die Frage in den Raum gestellt: Haben wir als Kirche ein Gespür dafür entwickelt haben, was die Botschaft des Evangeliums für unsere Zeit ist? Und haben wir ein Gespür für das, was die Menschen brauchen? Dies war eine geistliche Frage – und sie bleibt es. Die derzeitige Situation der Unsicherheit und der Bedrängnis macht uns vielleicht noch einmal sensibler dafür, dass dies keine rhetorische Frage war. Wir spüren in diesen Tagen sowohl unsere Charismen als auch unsere Schwächen. Vielleicht führt die Situation jetzt auch den „Pastoralen Weg“ in eine nicht geplante Tiefe, wenn es eben jetzt nicht mehr vorrangig um Strukturen gehen kann, sondern die Frage existenziell wird: Was haben wir denn anzubieten, jetzt in dieser Zeit und Stunde?
Vorgestanzte Antworten helfen nicht, und Gemeindestrukturen werden auf den höchstens zweiten Platz verwiesen. Es geht jetzt immer mehr um die Frage: Was ist denn die Frohe Botschaft, für die wir stehen? Im Glauben Heimat haben, sich anfragen und bewegen lassen, das macht Glauben charmant und steht für ein geistliches Leben. Der „Pastorale Weg“ muss ein geistlicher Weg bleiben, ein Weg, auf dem Glaube immer mehr die charmante, die gewinnende Seite des Evangeliums aufleuchten lässt. Mit Martin Luther sollten wir uns immer wieder die zentrale geistliche Frage stellen, inwieweit unser Tun und Reden „Christum treibet“.
Wir sind Geistliche, Trägerinnen und Träger von Geistesgaben, die den Glauben charmant machen, die Brücken schlagen zwischen Gott und seiner Welt. Ich wünsche allen, und besonders auch unserem Bistum einen solchen frohen, begeisternden und überzeugend liebenswürdigen Glauben.
[1] Egon Kapellari, Zu Pfingsten in Jerusalem. Ein Bischof schreibt zur Firmung, Wien, Graz, Klagenfurt 2010, 84f.