Schöpfung ist mehr als verfügbare Natur

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt anlässlich der Erneuerung der Kirchenfenster 
in St. Elisabeth, Darmstadt am 15. Dezember 2019

Datum:
So. 15. Dez. 2019
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Schöpfung als Bewegung, Dynamik, ständiger Prozess, durchflutet vom Licht, so stellen die neuen Fenster von Markus Hau in St. Elisabeth die Schöpfung dar. Mit dem Thema der Schöpfung befinden wir uns mitten in einer existenziellen Debatte und einem zentralen Thema unserer Zeit.

Wie selten zuvor stehen wir vor dem dringenden Anliegen der Bewahrung der Schöpfung, und die warnenden Stimmen werden lauter, die auf die Dringlichkeit einer Veränderung unseres Verhaltens hinweisen. Wir reden dabei nicht abstrakt über die Schöpfung, als hätten wir mit ihr im Grunde genommen nichts zu tun, wir sind Teil von ihr, und die Grundfrage steht im Raum: Lernen wir das Buch der Schöpfung neu zu lesen, und wie wollen wir als Menschen in dieser Schöpfung menschenwürdig leben? Papst Franziskus ermutig in seiner Enzyklika „Laudato si“(LS) dazu, sich zur Beantwortung dieser Frage aller wissenschaftlichen und kulturellen Reichtümer zu bedienen, auch der biblischen Weisheit, die keine altertümlichen Antworten anbietet, sondern hoch aktuell bleibt.

Schöpfung ist mehr als verfügbare Natur. Unsere Fenster stellen dies dar, indem sie das Licht als durchgängiges Motiv der Schöpfung einbinden. Der Papst spricht vom „Geheimnis des Universums“ (LS 76ff.). Schon immer haben sich glaubende Menschen darüber Gedanken gemacht, wieso der große Gott die Schöpfung und uns Menschen ins Dasein ruft. Und die biblische Tradition betont: Es geht nicht um eine Demonstration von Macht, so gewaltig die Schöpfung auch sein mag. Es geht Gott nicht um Selbstbestätigung oder um den Beweis seiner Allmacht. Nein, Gott schafft frei, und schließlich offenkundig aus Liebe: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht erschaffen.“ (Weish 11,24). Der Papst sagt in der ihm eigenen Art: „Jedes Geschöpf ist also Gegenstand der Zärtlichkeit des Vaters, der ihm einen Platz in der Welt zuweist. Sogar das vergängliche Leben des unbedeutendsten Wesens ist Objekt seiner Liebe, und in diesen wenigen Sekunden seiner Existenz umgibt er es mit seinem Wohlwollen.“ (LS 77). Die Heilige Schrift sieht einen Zusammenhang zwischen Licht, Liebe und Leben. Gott schuf die Welt durch sein Wort, und in diesem Wort war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen (vgl. Joh 1,4). Von Anfang an durchströmt das Leben, die Liebe des Vaters die Schöpfung. In den Fenstern sieht man keine einzelnen Lebewesen. Aber wir und jedes einzelne Teil der Schöpfung kann sich umfangen und geborgen wissen in diesem Strom, diesem Licht der Liebe, das alles durchflutet.

Mit der Schöpfung beginnt eine Geschichte der Beziehung und der Freiheit. Nicht nur der Mensch ist freier Beziehungspartner Gottes von Anfang an. Auch die Schöpfung entfaltet sich freiheitlich. Schöpfung ist eine andauernde Geschichte der Beziehung zwischen einem freien und liebenden Gott und einer Schöpfung, der er hilft, sich frei zu entfalten. Die Tradition spricht von einer „creatio continua“, also einer andauernden Schöpfung. Bewusst hat der Künstler wohl nicht einfach die sieben biblischen Schöpfungstage hintereinander gereiht. Diese sieben Tage dauern an, bis heute. Sie greifen ineinander, bis heute schafft Gott aus dem Chaos die Ordnung, er lässt neue Lebensformen entstehen, während andere untergehen oder sich weiterentwickeln. Der Mensch greift, mehr oder weniger verantwortungsvoll, in dieses Schöpfungsgeschehen ein. Freiheit und Mitwirkung an der Schöpfung gilt es zu gestalten. Dabei gilt damals wie heute: Der Mensch ist nicht Gott. Die Ordnung und die Freiheit stehen in Gefahr, wenn der Mensch sich an Gottes Stelle setzt. Die biblische Weisheit erinnert an den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung, das zarte Netz zwischen den Geschöpfen und die Rechte anderer zu schützen. Heute stehen wir vor vielen konkreten Fragen, wieviel Manipulation erlaubt sein könne, um Prozesse der Entwicklung zu beeinflussen. Das gilt etwa in der Medizin, in der Bioethik, der Ökologie und anderen Themenbereichen. Dass der Mensch nicht alles darf, was er kann, ist eine Plattitüde, aber es gilt immer auch, die Begrenzung seiner Freiheit zu akzeptieren, wo es um Rechte und die Würde und die Freiheiten anderer geht. Um das rechte Maß zu finden, hilft der glaubende Blick auf die Welt und die Verantwortung, die wir haben für den Erhalt der Schöpfung und ihre Entfaltungsmöglichkeiten. Der Mensch kann über seine Freiheit nachdenken und sie bewusst gestalten. Der Papst gibt uns ein gutes Leitmotiv: der Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein. Der Mensch müsse sich hüten, Dinge der Schöpfung gegen ihre Ordnung zu gebrauchen. Wir alle gestalten diese Schöpfung mit, ob wir wollen oder nicht. Freiheit gilt es verantwortungsvoll zu gestalten.

Diese Schöpfung wird einst vollendet werden. In den aktuellen Debatten erinnern Weltuntergangsszenarien an endzeitliche biblische Vorstellungen, in denen die Welt einst im Feuer untergehen wird. Unsere Fenster skizzieren die Entwicklung von den dunklen Anfängen bis zur Vollendung am Ende der Zeiten. Die Naturwissenschaften haben uns längst gelehrt, dass unsere kleine Erde nicht unendlich ist und dass auch Universen untergehen werden. Auch in diesem Szenarium bleibt der Glaube: Am Ende stehen die rettende Liebe, eine neue Schöpfung, ein neuer Himmel und eine neue Erde. Tatsächlich kennt die Bibel Hoffnungsbilder, die nicht nur den Glauben formulieren, dass der einzelne Mensch in den Himmel kommt, sondern dass die ganze Schöpfung in Geburtswehen liegt und ihrer Vollendung entgegengeht (Röm 8,22-25). Die Schöpfung ist auch geprägt von Schuld und Sünde. In den ökologischen Themen hören diese christlichen Begriffe auf, reine Theorie zu sein. Es wird nicht alles einfach bis ins Unendliche weiterlaufen, das wussten bereits die Menschen der Bibel. Nur Gott ist ewig. Und in dieser Zeit ereignen sich immer wieder kleine Untergänge und neue Geburten. Auch daran erinnern mich die Fenster. Ich kann sie lesen als einen Blick in die Jahrmilliarden der Geschichte der Schöpfung; ich kann sie aber auch lesen als Hinweis auf das alltägliche Vollendet-Werden und den alltäglichen Neubeginn, den Gott ermöglicht. Am Ende hält Gott alles in seinen guten Händen. Eines Tages erhoffen wir eine Welt ohne Tod und Leid: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“ (Offb 21, 1-5)

Die Fenster sind ein großer Reichtum hier in dieser Kirche. Sie mögen uns immer wieder zur Betrachtung anregen: Wer sind wir? Wie wollen wir leben? Was bedeuten uns Freiheit und Verantwortung? Wie stehen wir zu anderen Gliedern der Schöpfung? Was ist unsere Hoffnung, die uns leben hilft? Ich vermute, dass wir mit den Antworten an kein Ende kommen.