Wenn Gott Mensch wird, dann ist Gott nicht einfach eine schöne Idee

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf
im Pontifikalamt zum Hochfest Erscheinung des Herrn 
Dom zu Mainz, 6. Januar 2021

Baum (c) pixabay.com
Datum:
Mi. 6. Jan. 2021
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Das könnte unsere Kinder verunsichern: Vor einigen Jahren zog eine Autofirma einen Werbespot zurück, weil dort thematisiert wurde, dass es den Weihnachtsmann nicht gebe. Die Begründung lautete: Wenn die Kinder das erfahren, könnte diese Mitteilung sie verunsichern. Es gibt auch Verunsicherung für Erwachsene. Etwas später wollte ein großes Kino in London vor einer Filmpremiere einen Kurzfilm zeigen, in dem das Vater unser gebetet wird. Der Film wurde zurückgezogen, weil ein Gebet die Kinobesucher irritieren könnte.

Ein Journalist schreibt in einer Zeitungsbeilage, er habe die Hoffnung auf eine gute Weihnachtspredigt aufgegeben. Jahr für Jahr dieselbe Watte, in die die Zuhörer in den Weihnachtsgottesdiensten gepackt würden. Nichts Aufrüttelndes, nichts Irritierendes mehr. Das heißt doch: Eine gute Predigt an Weihnachten darf den Versuch wagen, Orientierung zu geben, Denkweisen und Verhaltensweisen anzufragen, ja, zu irritieren.

Das fängt mit der Kernbotschaft des Weihnachtsfestes an. Wie eine Floskel mutet sie doch mittlerweile vielen an. Gott wird Mensch. Wir hören das, freuen uns, und gehen beruhigt nach Hause. Als die ersten christlichen Missionare auszogen, war diese Botschaft den Gebildeten der damaligen Zeit kaum vermittelbar. Denn dieser Gedanke hatte Konsequenzen: Wenn Gott Mensch wird, dann ist Gott nicht einfach eine schöne Idee. Je konkreter er mir aber nahe kommt, desto konkreter muss ich reagieren. Wenn er sein Sternenzelt verlässt, muss ich Position beziehen. Einen Gott, den ich denken kann, der dann Gedanke bleibt, ja, der ist berechenbar, kontrollierbar. Den Gott der Denker und Philosophen kann jeder am Ende nach seinen eigenen Prinzipien gestalten. Das konnten die Menschen akzeptieren, und einen solchen Gott akzeptieren viele Menschen bis heute: Er ist weder zum Fürchten noch zum Verlieben.

Ich kann ja einmal ernsthaft versuchen, wirklich zu glauben, was wir hier feiern, beten, singen: Gott wird Mensch. Manche glauben, dass sie dies glauben – und dann bleibt es dabei. Für das Leben hat es keine Bedeutung. Wenn ich dies aber wirklich glaube, ist es dann nicht beunruhigend, irritierend? Gott wird ein Mensch, wie ich ein Mensch bin, mit allem, was dazugehört, Hunger und Durst, Freude und Leid, Hoffnung und Angst, und den Fragen, dem Suchen. Christen glauben, dass er dies aus Liebe macht. Irritiert es mich noch, dass ich so geliebt bin? Was hieße es denn konkret, wenn ich dies glaube: dass ich von meinem ersten Atemzug total geliebt bin, mit all dem, was mich ausmacht? Dieser Gott, der seinen Sohn sendet, ist ja auch mein Schöpfer, so bekennen wir als Christen. So unendlich groß und dann so unglaublich nahe. Diesen Gott kann ich nicht nach dem Gottesdienst abhaken und einen guten Mann sein lassen.

Die drei Weisen aus dem Morgenland stehen für diese Ahnung, dass der Glaube an einen menschgewordenen Gott das Ende der religiösen Gemütlichkeit sein kann. Sie stehen für die vielen Menschen, die sich wachrütteln lassen, die wach bleiben, auf der Suche nach einem Gott, der ihnen Richtung und Ziel gibt. Es sind Menschen, die keine Angst vor dem Aufbruch haben, die nicht Gott nach ihrem Bild machen, sondern sich überraschen lassen von dem großen Gott, der die Sterne lenkt und doch ganz klein wird in diesem Kind. Sie haben wohl lange geahnt, dass in ihrem Leben Großes möglich ist und geschehen kann. Solche wachen, aufbruchbereiten Menschen braucht es heute wie damals.

In unserem Evangelium ist es erstaunlicherweise gerade der dubiose König Herodes, der ahnt, dass die Geburt in Bethlehem im besten Fall eine Anfrage an seine Herrschaft sein könnte. Er ist zutiefst verunsichert. Die Schriftgelehrten stöbern in ihren Schriften, aber ihr Wissen bleibt ohne Konsequenzen. Erschüttern lassen sie sich nicht mehr, denn sie können Gott ja in die Karten schauen. Herodes war ein gewaltbereiter Herrscher, seine Zeitgenossen kennen ihn als machtgierig, charakterlos und skrupellos. Und dieser Mann hat Angst vor einem kleinen Kind. Er wird verunsichert durch die Geburt eines Kindes. Christus entlarvt die ganze Armseligkeit dieser Art menschlicher Macht und Gewalt. Mancher Herrscher wirkt in der Geschichte bis heute lächerlich, vergleicht man ihn mit diesem Kind und seiner Art der Herrschaft über andere. In dem Sinne dürfen und müssen wir auch kirchliche Machtansprüche in dieser Zeit neu an dem Kind in der Krippe ausrichten. Möge uns die Weihnachtsbotschaft irritieren.

Aufbruch, Irritation, Verunsicherung: Dies sind kaum Begriffe, die Menschen mit Weihnachten verbinden. Dennoch sind sie eine starke Ouvertüre für die Botschaft Jesu und sein gesamtes Lebenszeugnis. Die „Herodes“ dieser Welt brauchen die Erschütterung, ebenso wie die Schriftgelehrten der Kirche. Und es braucht viele Menschen, die den Himmel beobachten und sich auf den Weg des Glaubens rufen lassen. Ein wenig Irritation kann auch für unsere Zeit die Grundlage für Neues bieten.