Mainz ist ein Paulus-Bistum. Es war Menschen früherer Jahrhunderte sehr wichtig, ihre Ortskirche, so auch hier in Mainz, in die Verbindung zu den Aposteln zu stellen. 1Natürlich stecken dahinter auch machtpolitische Fragen. Mainz ist ein Paulus-Bistum, insofern bestimmte Traditionen behaupten, Paulus habe seinen Schüler Creszenz nach Mainz geschickt, um hier in der obergermanischen Metropole das Evangelium zu verkünden.
Während Trier und Köln sich darum streiten, ob der Petrusschüler Maternus zuerst in ihrer Diözese Bischof gewesen sei, ist für die Mainzer die Sache klar. Creszenz wird direkt von Paulus entsandt, so dass die Bedeutung des Mainzer Bistums damit sichergestellt war (und ist). Ich selbst wäre nach nicht ganz sicheren Zählungen der 129. Nachfolger des hl. Märtyrerbischofs Creszenz, der sein Grab im Zahlbachtal gefunden haben soll. Dass eine Kölner Tradition den Bischof Creszenz auch für sich beansprucht, können wir gnädig als vergeblichen Versuch verbuchen, sich dann auch noch in die paulinische Linie zu stellen, nachdem die petrinische Linie zumindest umstritten war. Kurzum: Mainz ist ein Paulus-Bistum. Wenn ich heute an diesem Tage auf diesen Ursprung blicke, dann scheint mir dies jenseits aller historischen und machtpolitischen Themen zwischen den Bistümern gar kein schlechtes Fundament für heute zu sein. Seit meinem Studium und meiner Promotion fasziniert mich dieser Apostel. Mit seiner Theologie werde ich nicht an ein Ende kommen, es gibt immer neuer Facetten zu entdecken. Und ich reibe mich an ihm. Nicht nur, weil er in seinem „ersten Leben“ die Gemeinden der Jesusbewegung verfolgt hat. Darin zeigt sich ein Fanatismus, der manches über seinen Charakter sagt. In der Begegnung mit dem Auferstandenen scheint sich dieser Charakter irgendwie auch „veredelt“ zu haben, denn aus dem Verfolger und Fanatiker wird der Theologe der „Freiheit in Christus“, der Apostel, der aus Liebe zu Christus brennt, streitet, Gemeinden gründet, und ohne Ruhe durch die antike Welt reist, um Christus bekannt zu machen und die Gemeinden zu stärken.
Seine Liebe zu Christus fasziniert. Christus ist für ihn keine Erinnerung, sondern lebendige Person, ja, er ist von ihm ergriffen. „Ich bin tief ergriffen“ – so sagen wir manchmal. Das können Begegnungen mit Menschen sein, die mich beeindrucken, das können Erlebnisse in der Natur sein, die mich überwältigen oder auch das Hören großartiger Musik. Etwas oder jemand hat mich tief ergriffen. Oft hinterlassen solche Erfahrungen tiefe Spuren, die mein Leben noch lange prägen. Solche Erfahrungen können verändern, sie begleiten manchmal ein Leben lang. Es kann sogar dazu kommen, dass jemand aufgrund einer solchen ergreifenden Erfahrung sein Leben total verändert. Ergreifende Erfahrungen kann man wie einen persönlichen Schatz mit sich tragen. Paulus sagt: Ich bin von Christus ergriffen. Tatsächlich hat er eine tief ergreifende Erfahrung gemacht. Vor Damaskus, als er Christen verfolgen und gefangen nehmen will, spricht Christus zu ihm. Wir wissen nicht, was da genau geschehen ist, aber es war eine tief ergreifende, ihn ganz verändernde Erfahrung. Er, der seine ganze Hoffnung auf das Gesetz und die genaue Einhaltung von Geboten richtete, wird derjenige, der ganz auf Gottes Gnade setzt. Wir lernen von ihm, dass Gott nicht auf Leistung schaut, sondern schenken will. Damit verändert Paulus sein bisheriges religiöses Denken. Er nennt den Grund: Christus hat ihn so sehr ergriffen, dass nicht mehr „ich lebe, sondern Christus in mir“ (Gal 2,20). Was aber ist das für ein Christus, der in ihm lebt? Er ist ganz Hingabe, ganz Liebe, ganz Barmherzigkeit, ganz Gnade. Wer Gott so erfahren hat, muss sein Leben ganz anders leben als vorher. Wir sehen es bei Paulus. Wer ergriffen ist, wird dies auf andere ausstrahlen. Es gibt keinen Satz in den Briefen des Apostels, der einfach nur Phrase oder fromme Floskel ist. Alles lebt aus dieser Erfahrung der lebendigen Gegenwart Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen. Wir suchen heute nach einer Verkündigung und Sprache, die Menschen überzeugen kann. Von Paulus lernen wir, dass glaubwürdiges Reden nicht primär aus einer Methodenkompetenz erwachsen wird, auch nicht nur durch die Modernisierung von Sprache und Begriffen. Natürlich müssen Predigten, muss die gesamte Verkündigung verständlich sein, sowohl Verstand als auch Herz ergreifen können. Am wichtigsten scheint es aber doch zu sein, dass Menschen den Eindruck gewinnen, dass da jemand steht, der aus Erfahrung redet, der ergriffen ist, der brennt. Und zwar nicht für eine Sache, sondern für eine lebendige Person.
Bereits seinerzeit haben sich Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinden an diesem Paulus gerieben. Die einen wollten nicht anerkennen, dass er sich zu Recht als Apostel bezeichnet, sie führten den Apostel-Titel als Erbrecht. Paulus lässt sich von derartigen Leuten nicht die „Butter vom Brot“ nehmen. Die anderen halten ihn in seiner Theologie der Freiheit vom Gesetz und der Beschneidung für einen Verräter. Paulus passt nicht in das Schema von „konservativ“ oder „progressiv“. Er vertritt das, was er vor seinem Gewissen als richtig erkannt hat; in dem einen Fall verschreckt er die „Konservativen“, in seinem klaren Bekenntnis zu Christus als dem Auferstandenen verschreckt er die Zweifler oder Spötter. Wer sich über die Konflikte in der heutigen Kirche entsetzt, möge die Briefe des Paulus lesen. Viele entstehen nur vor dem Hintergrund heftig ausgetragener Konflikte. Und in diesen Streitsituationen kann Paulus sehr scharf werden. Wenn ich etwa den 1. Korintherbrief aufschlage, geht es um Parteiungen in der Gemeinde. Personen setzen sich an Christi Stelle. Schon damals geht es um das Ego Einzelner. Ich verhehle nicht, dass ich Paulus für seine Klarheit bewundere, denn derartige Szenen landen bei mir regelmäßig auf dem Schreibtisch. Paulus erinnert uns bis heute daran, dass es um Christus und seine Verkündigung geht. Auch in der Kirche heute gibt es immer wieder Menschen mit einer hohen Eigendrehung, wie ein Freund von mir einmal zusammenfasste. Paulus ändert die Perspektive: von der Egozentrik zur Christozentrik. Das sollten wir bei unseren vielen Konflikten immer wieder als Prüfmaßstab ansetzen.
Wir ringen heute um Freiheit, auch in der Kirche. Freiheit ist für Paulus selbstverständlich keine Beliebigkeit. Freiheit ist das Bewusstsein und der tiefe Glaube, dass uns nichts trennen kann von der Liebe Christi, weder Tod noch Leben, keine selbsternannten Mächte dieser Welt. Freiheit entsteht, wo der Mensch dem Geist Raum gibt und ihn nicht hinter Mauern versteckt. Insofern ist christliche Freiheit auch ein Angebot an die Welt außerhalb der Kirchenmauern. Die christliche Freiheit des Paulus hat keine Angst, sich der „Welt“ zu stellen. Paulus hat keine Angst vor dem Ringen um die Wahrheit. Er liebt seine Gemeinden, die sich nicht nur aus den Gebildeten und Vornehmen zusammensetzen. Er hätte – glaube ich – große Freude an unserer sozialpastoralen Ausrichtung im Bistum Mainz, und er würde uns Druck machen, Glaube und Handeln immer mehr zusammen zu führen. Viele Formen von Bequemlichkeit oder Mittelmaß hätte er uns mit dem Hinweis auf den Gekreuzigten deutlich vorgehalten.
Mainz ist ein Paulus-Bistum, und Paulus ist tatsächlich nicht nur ein faszinierender, sondern auch ein unbequemer Ursprung. Wir sollten uns mit ihm beschäftigen. Aber er ist auch ein Fürbitter, der uns ermutigt. Wir werden heute Herrn Hans-Jürgen Dörr als Seelsorgedezernent verabschieden, ein Mainzer „Urgestein“. Nach der Eucharistiefeier werden wir ihn würdigen. Aber wenigstens das möchte ich als Dank an dieser Stelle sagen. Ich glaube, der Apostel hat viel Freude an Herrn Dörr. Denn wir verabschieden einen Menschen, der für seinen Glauben, der für Christus brennt. Diese Begeisterung durften wir in den vielen Jahren erleben. Und das Feuer möge weiterbrennen. Wir verabschieden einen Menschen mit einer klaren Haltung, einem Gespür für die Menschen und die Situation von Gesellschaft und Kirche. Dem neuen Dezernenten Winfried Reininger wünschen wir ebenfalls diese paulinische Begeisterung und das Feuer des Geistes.
Über Paulus gäbe es unendlich mehr zu sagen. Wir müssen zum Ende kommen. Einmal predigt Paulus so lange, dass ein junger Mann einschläft und aus dem Fenster fällt (Apg 20,7-12). Darin soll er selbst im Paulus-Bistum Mainz kein Vorbild sein.
1Dazu Wilfried Wilhelmy (Hg.), Von Bonifatius zum Naumburger Meister. Meisterwerke des bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz 1, Regensburg 2020, 47-55.