Wir gehen aus dem alten Jahr in ein neues. Heute Vormittag kam die Nachricht vom Tod des emeritierten Papstes Benedikt, den wir in unser Gebet einschließen. Ich halte es für verfrüht, jetzt ein Lebenswerk zu bewerten. Im Letzten ist das die Sache Gottes selbst. Unser Part ist das Gebet für ihn. Und auch bei allen Fragen, die immer wieder kommen, die Dankbarkeit für sein Wirken in und für die Kirche. Er ist wohl mit großem Vertrauen vor das Angesicht seines Schöpfers getreten, das scheint mir ein gutes Beispiel für christliches Leben und Sterben insgesamt zu sein. Die bedrängenden großen Themen des alten Jahres sind uns schmerzlich bewusst: Krieg, Pandemie, Sorge um die wirtschaftliche Existenz, Sorgen um die Kirche, persönliche Fragen und Unsicherheiten, aber natürlich immer auch hoffnungsvolle Erfahrungen und Momente. Und selten hat mich die Frage so bewegt: Woran glauben wir, worauf hoffen wir? An diesem Abend will ich mit Ihnen dieser Frage nachgehen. Ohne jeden Glauben und ohne jede Hoffnung können Menschen nicht leben, auch wenn sie sich nicht jeden Tag Rechenschaft darüber geben. Woran glauben wir, worauf hoffen wir?
Zunächst steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle der Gottesglaube spielt. Der Blick in Statistiken ist das eine, die persönliche Antwort das andere. Im letzten Jahr ist die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland erstmals unter 50% der Gesamtbevölkerung gesunken. Das sagt aber noch nicht alles über den persönlichen Glauben aus. Es gibt Menschen, die an Gott glauben und nicht in der Kirche sind; es gibt genauso Menschen, die in der Kirche sind, und an kein persönliches Gegenüber glauben, zu dem sie beten können. Glaubensformen und der Glaubensausdruck werden individueller, innerhalb und außerhalb der Kirche. An Engel glauben mehr Menschen als an ein göttliches Du.
Damit haben wir noch nicht über die übrigen christlichen Glaubensinhalte gesprochen, die Teil des christlichen Credo sind. „Wer braucht Gott?“ lautet der Titel eines Interviewbuches mit dem Wiener Erzbischof Kardinal Schönborn. Die Autorin schreibt im Vorwort: „Ich weiß auch nicht, ob es Gott gibt. Für viele ist ein Blick in den Himmel, ein Spaziergang am Meer, ein Sonnenaufgang auf einem Berggipfel, ein Baby am Arm schon Beweis genug. Dabei ist es nicht leicht zu glauben“. Und so empfiehlt ein erfahrener Prediger „Bescheidenheit im Reden von Gott“ und er folgert: „Wir können und dürfen über Gott nicht so reden, als wüssten wir über alles genauestens Bescheid. Es ist geradezu notwendig, dass wir beim Reden über ihn hier und da ins Stottern geraten“. Wir stoßen an die Grenze unseres Wissens über Gott, an die Grenze unserer menschlichen Worte. Dies wohl wissend dürfen wir uns ihm nahen und doch von ihm sprechen. Wir erfahren es doch im Alltag, vielleicht sogar bei uns selbst. Oft genug leben wir, als gäbe es Gott gar nicht, als brauchten wir ihn nicht. Nicht, dass wir ihn leugnen, aber er ist nicht Thema, der Alltag mit seinen Sorgen und Themen hat uns ganz in Beschlag genommen. Ein andermal sind es eher Vorhaltungen oder Fragen. Wo ist denn Gott? Wie kann Gott das zulassen? Ich habe gebetet, aber er hat mich nicht erhört. Im eben genannten Buch fragt die Autorin den Erzbischof: „Was die Menschen ja auch immer wieder interessiert, ist die Frage: Habe ich dadurch (durch den Glauben an Gott) Vorteile?“ Darauf antwortete der Erzbischof: „Da kann man mit Blaise Pascal nur die Wette empfehlen. Lebe einmal, als wäre es so, und dann wirst du sehen, ob es dir Vorteile bringt. Es ist schwer, jemandem zu sagen, dass Schwimmen schön ist, wenn er nicht ins Wasser geht. Irgendwann muss man damit anfangen. ... Und mit der Religion ist es genauso. Man muss sie tun, um zu sehen, ob sie nützlich ist. Im Trockendock kann ich nicht ergründen, ob die Religion hilft“.
Ein Aspekt, vielleicht der wichtigste, fehlt noch in unseren Überlegungen. Ich erinnere mich an eine Prüfungsfrage des Professors an der Universität. Er fragte nach dem Unterschied zwischen biblischem und philosophischem Gottesbild. Der gefragte Student zögerte mit der Antwort, suchte nach Begriffen, und dann gab der Professor selbst die Antwort: „Zum Gott der Bibel kann man beten“. Nicht von Gott, nicht über Gott, sondern zu Gott heißt es zu sprechen. Ich bin davon überzeugt: Wir brauchen ihn und wir werden ihn brauchen. Ich will mir keine Welt vorstellen, in der der Glaube an den menschenfreundlichen Gott der Bibel verschwunden ist. Insofern werden wir alle nach unserer persönlichen Antwort suchen müssen auf die Frage, woran glauben wir, worauf hoffen wir. Die Antwort auf die Gottesfrage ist immer einer persönliche, aber sie wird nie privat bleiben, denn sie hat gesellschaftliche, öffentliche Folgen. Gott wird Mensch, das haben wir in diesen Tagen gefeiert. Gott glaubt offenbar auch an die Möglichkeiten des Menschen, er glaubt an ihn, sein Geschöpf. Ich bitte Sie alle, nach Ihrer persönlichen Antwort zu suchen, und sie beherzt zu geben.
Woran glauben wir, worauf hoffen wir? Verlieren wir auch nicht den Glauben an die guten Fähigkeiten des Menschen. Wir erleben täglich die schrecklichen Folgen menschlichen Handelns, aber wir erleben auch die guten Kräfte. Als Glaubender sehe ich darin die Möglichkeiten des Menschen als Gottes Ebenbild und Gottes Kind. Umso schlimmer sind die Verbrechen, die Menschen einander antun. Ich will aber in diesen Zeiten auf die Kräfte des Guten bauen. Menschen haben bedrückende Monate des Krieges hinter sich, auch wir spüren seine Folgen, manche reden von einem katastrophalen Jahr 2022. Immer wieder erlebe ich aber auch die Fähigkeiten, die Menschen entwickeln, um sich gegenseitig zu unterstützen, zu helfen und einander beizustehen. Wie andere auch, habe ich Patenschaften für vom Tode bedrohte Menschen im Iran übernommen, und das hat nur dann einen Sinn, wenn ich Gott zutraue, Menschen zu Einsicht und Umkehr zu führen. Bei den aktuellen Themen und Diskussionen in der Kirche geht es ja nicht nur um Kontroversen, sondern vielfach zeigt sich dabei auch die Bereitschaft, anstehende Aufgaben zu bewältigen, die sicher nicht nur vergnüglich sind. Wir erleben in diesen Zeiten so viele Haupt- und Ehrenamtliche, die sich einsetzen, und ich will einfach dafür meinen herzlichen Dank sagen. Im Bistum Mainz gehen wir in eine zweite Phase des Pastoralen Weges. Viele Aufgaben sind zu bewältigen. Konflikte werden kommen. Ich bitte Sie herzlich, nie die zentralen Fragen aus dem Blick zu verlieren, was uns eigentlich motiviert und welcher Glaube uns eint. Immer wieder sollten wir uns daran erinnern. Wenn wir uns in operative Fragen verkrallen, müsste einer oder eine die Frage stellen: Welchen Nutzen hat dies für die Verkündigung des Evangeliums? In einer Glaubenszuversicht dürfen wir den Glauben an die guten Möglichkeiten des Menschen nicht verlieren. Auch in der Pandemie haben sich vielfach diese guten Gaben gezeigt. Menschen waren und sind solidarisch, aktuell auch in den neuen Herausforderungen durch Menschen auf der Flucht aus der Ukraine und von anderswo.
Woran glauben wir, worauf hoffen wir? Glauben wir mehr an die Kraft der Waffen oder glauben wir mehr an den Mut zum Frieden? Ich will die Hoffnung auf den Frieden nicht aufgeben. Es ist doch widersinnig, dass Hass die Zukunft von Völkern und Menschen dauerhaft zerstören soll. Natürlich geht es in den jetzigen Zeiten darum, auch in der Ukraine, aber ebenso im Iran und anderenorts Gerechtigkeit herzustellen. Ich will aber die Hoffnung nicht aufgeben, dass Menschen mit Gottes Hilfe in der Lage sind, eine gerechte Weltordnung zu erhoffen und an ihr zu arbeiten. Wenn es den Tyrannen gelingt, die Sehnsucht nach Frieden auszulöschen, haben sie gewonnen.
Woran glauben wir, worauf hoffen wir? Können wir den Glauben an die katholische Kirche noch teilen? Im Bistum Mainz werden wir im Frühjahr 2023, wie andere Bistümer, die Ergebnisse einer unabhängigen Studie zum sexuellen Missbrauch in unserem Bistum erhalten; Rechtsanwalt Ulrich Weber und sein Team erarbeiten sie. Die Studie wird systemische Probleme im Bistum Mainz erhellen. Ich will der Studie nicht vorgreifen, da auch ich die unabhängigen Ergebnisse noch nicht kenne, aber ich ahne: Auch hier bei uns war der Schutz des Systems Kirche im Blick und nicht ausreichend die Situation der Betroffenen. Angenehm wird das nicht werden. Viele Menschen werden dadurch erneut erschüttert, denn natürlich werden Verantwortliche benannt, die in hohem Ansehen stehen. Auch für die Betroffenen wird dies möglicherweise Wunden neu aufreißen. Seitens des Bistums werden wir Hilfen anbieten für die verschiedenen Ebenen. Viele Jahrzehnte, gerade nach dem Zweiten Weltkrieg haben Menschen auf die moralische Kraft der Kirche gesetzt. Das funktioniert nicht mehr so einfach. Wir suchen heute nach Wegen der Glaubwürdigkeit. Denn nicht nur Bischöfe und Priester haben versagt, viele haben das System von Verschweigen und Vertuschen mitgetragen. Heute gilt es, ein transparentes System zu gestalten. Wie schwierig das ist, merken wir immer wieder. Bis in Zeitungsartikel hinein werden alte Kirchenbilder gefestigt, alte Seilschaften gestärkt. Transparenz betrifft viele Ebenen der Kirche und des Bistums, für manche ist dies ein neuer Gedanke. Kirche ist kein Selbstzweck, sie soll uns im Glauben stärken.
Doch bei aller Kritik: Kirche ist mehr als die Probleme. So viele gestalten Kirche mit, und Christus ist gegenwärtig in Wort und Sakrament. Deswegen bleibt die Kirche für mich ein Hoffnungsort. Die innerkirchlichen Konfliktthemen will ich nicht geringschätzen, aber wir dürfen den Kern der christlichen Botschaft nicht aus dem Blick verlieren. Von der Botschaft der Liebe Gottes in Jesus Christus, die mir in den Sakramenten und der Gemeinschaft der Kirche vermittelt wird, würde ich um keinen Preis die Gemeinschaft trennen. Über Entscheidungen anderer Menschen habe ich nicht zu urteilen. Ich sehe die Kirche nicht am Ende, wohl aber auf dem Weg zu einer neuen Gestalt, auch im Bistum Mainz. Sorgen habe ich, Angst nicht. Denn auch hier geht Gott die Wege mit, und mit uns viele Menschen in großem Realismus und Liebe zur Kirche und Welt.
Woran glauben wir, worauf hoffen wir? Möge jeder und jede auch die eigenen Lebensthemen im Blick des Glaubens anschauen. Gott gibt nicht immer einfache Antworten, aber er geht unsere Wege mit. Die persönlichen Freuden, Sorgen und Hoffnungen wollen wir heute Abend Gott anvertrauen. Der jüdische Rabbiner von Berlin hat in einem Beitrag formuliert: Lassen wir die Flüche des vergangenen Jahres hinter uns, beginnen wir ein Jahr des Segens. Und vielleicht war auch 2022 für viele Menschen nicht nur ein Jahr der Katastrophen. Dann gilt es Danke zu sagen und die Haltung der Dankbarkeit in das neue Jahr mitzunehmen. Uns allen wünsche ich ein gesegnetes Jahr 2023.