„Mir fehlt meine Kirche!“ - so hatte ein Pfarrer vor vierzehn Tagen seine Predigt überschrieben. „Die Kirche hat in dieser Zeit Hunderttausende Menschen allein gelassen. Kranke, Einsame, Alte, Sterbende", so das vernichtende Urteil der ehemaligen thüringischen Ministerpräsidentin Lieberknecht. Die Baumärkte über Ostern offen, die Kirchen geschlossen! Wenn wir uns so entbehrlich machen, können wir im Alltag nicht sagen, wir seien unentbehrlich, so ein Journalist. „Wo seid ihr?“ lautet die vorwurfsvolle Überschrift in der ZEIT in der vergangenen Woche über einer kleinen Sammlung von kontroversen Wahrnehmungen der Kirche in Zeiten von Corona.
Mich überrascht es nicht, dass seit ein paar Wochen über diese grundsätzliche Frage nach der Rolle der Kirche in einer solchen Krisensituation mehr und mehr diskutiert und gestritten wird. Es ist der typische Verlauf einer jeden Krisenbewältigung:
Man vergisst sehr schnell, wie die ersten Tage des Lockdowns Mitte März waren: Die Infektionswelle schwappt auf Deutschland über. Längst sind die Bilder aus China, Norditalien, Spanien bekannt. „Das darf uns nicht passieren!“ Da wurde schnell, ja auch radikal konsequent gehandelt. Das gesamte gesellschaftliche Leben wurde auf ein Minimum reduziert. Verunsicherung, Angst vor dem, was kommen könnte, ein spürbarer Kontrollverlust und damit einhergehend eine hohe Erwartung nach Sicherheit und Risikominimierung - eine gewisse Schockstarre. Das war die gemeinsame beherrschende Grundstimmung nahezu aller in unsrer Gesellschaft. Es ist eine traumatisierende Erfahrung für eine ganze Gesellschaft gewesen. Und es war wie in einer Krisenbewältigung im Leben des Einzelnen so auch in der Krisenbewältigung einer ganzen Gesellschaft: Zunächst ist man wie paralysiert. Zunächst geht nur akute Intervention - keine Zeit für lange Reflexion. Entschiedene, mutige, konsequente und vor allem rasche Intervention war notwendig. Dieses Erleben der ersten Phase der Corona-Krise haben alle geteilt. Erst nachdem die akute Krisenintervention mit den am meisten drängenden Maßnahmen bewältigt war und sich eine erste Entspannung einstellte, gab es Raum grundsätzlicher und tiefer zu reflektieren, besser zu begreifen, was da in der Hektik erster Intervention geschehen war. Es begann das Drängen - und manchmal auch der Wettlauf um die ersten Lockerungen. Es begannen die Diskussionen. Und das ist gut und notwendig, dass wir über die akuten Interventionsmaßnahmen hinaus jetzt mehr und mehr in einen kritischen Diskurs miteinander kommen. Es ist notwendig, dass wir in neuer Weise abwägen und neu werten. Jetzt nach Wochen muss sich jeder der Ambivalenz stellen, dass nämlich grundlegende Werte in solchen Herausforderungen einander unauflöslich widerstreiten und nicht immer gleichermaßen gewahrt werden können: der Schutz des Lebens - die Verantwortung vor allem für diejenigen, deren Gesundheit eh schon geschwächt ist; das Recht auf Unversehrtheit des Leibes aber auch das Recht auf Vergemeinschaftung, der Wert sozialer Bezüge und menschlicher Nähe, das Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit, die aber dort auch an ihre Grenzen stößt, wo die Verantwortung für den Anderen und für das Gemeinwohl beginnt, die Verantwortung gegenüber der Existenzsicherung der Menschen, das Recht auf die Freiheit der Religionsausübung und auch da die Verantwortung, nicht nur Rechte einzufordern sondern die eigenen Rechte mit Verantwortung für das Ganze wahrzunehmen... vieles wäre noch zu nennen.
In einer solchen Situation kommt man nicht umhin, sich gegenseitig zuzugestehen, dass keiner Patentlösungen hat, jeder unterschiedliche Gewichtungen und nach verschiedenen Maßstäben abwägt. Das ist das Kennzeichen und der Wert einer pluralen Gesellschaft. Und man muss sich auch gegenseitig eingestehen, dass man manchmal nur nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ handelt, nachbessert, ausprobiert, neu abwägt und neu entscheidet.... Das erleben wir jetzt. Und da ist es gut, dass es auch diese Grundsatzdiskussionen gibt. Das ist die normale Dynamik jeder Krisenbewältigung. Leider ist das auch die Stunde für manchen Besserwisser. „Danach“ - da sind wir alle klüger...
Und in dieser gesamten Dynamik steht auch die Kirche. Kirche lebt inmitten der Welt mit ihrer Verantwortung für die Welt! Kirche ist nicht die infektionsimmune Insel einiger Träumer und Schwärmer! Auch als Kirche haben wir Verantwortung wahrgenommen. Wir waren nicht weg! Wir waren zwar nicht mehr in gewohnter Weise da. Aber das ging allen so. Das ging dem Papst genauso wie jedem Bischof und Pfarrer, wie jedem Seelsorger und jeder Seelsorgerin und jedem engagierten Christen. Ich könnte sehr viel davon berichten, wie in unserem Bistum neue Wege, Initiativen, andere Formen der Präsenz und Zuwendung, konkrete Hilfen, Zuspruch und Solidarität, aber auch Spiritualität, Gebet und geistliches Leben wiederentdeckt, neu entdeckt und mit anderer Intensität gelebt wurden - und zwar nicht nur in digitalisierter Form! Es gab und gibt eine starke, auch mediale Präsenz. Wenn man jetzt fragt: „Wo seid ihr?“ Dann muss man sich auch die Frage gefallen lassen: „Bist du bereit, genauer hinzuschauen und auch wirklich wahrzunehmen, wo wir sind?“
Ja, es gibt auch bei uns diejenigen, die bequem abgetaucht sind. Ja, es gibt auch bei uns „Versuch und Irrtum“. Es war nicht alles geglückt, was ausprobiert wurde. Ja, es gibt auch blinde Flecken und unbestelltes Feld in unserem seelsorglichen Handeln und in der Weise, wie wir in der Öffentlichkeit präsent sind. Es gibt aber auch ein beeindruckendes Glaubenszeugnis vieler, das unaufdringlich und selbstverständlich abseits der grellen und lauten Öffentlichkeit geschieht.
Genau wie unser Land und unsere Gesellschaft werden wir auch als Kirche „nach Corona“ nicht in die alte Normalität zurückkehren. Es wird sich eine neue, veränderte Normalität einstellen - auch für uns als Kirche. Dazu ermutigt uns das heutige Fest: Der Auferstandene verlässt die Jünger, indem er zum Himmel erhoben wird, aber: um in neuer Weise ihnen nahe zu sein - durch Gottes Geist. In seinen Abschiedsreden im Johannesevangelium sagt Jesus: „Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen“ (Joh 14, 18) Er spricht von einem „anderen Beistand“. Es ist der Geist Gottes, durch den er auf neue Weise uns ganz nahe ist. Und so werden wir auch als Kirche gefordert sein in der vor uns liegenden Zeit, in dieser „veränderten Normalität mit Corona“ den Menschen nahe zu sein: in der vertrauten und in neuer Weise wollen wir mit Gottes Geist für die Menschen Beistand sein.
Daran schließt sich ein weiterer Gedanke zum heutigen Fest an: Die Erhöhung des Auferstandenen zu seinem Vater, die Rückkehr des Sohnes zu seinem Ursprung. Christi Himmelfahrt reißt uns nicht heraus aus unseren „weltlichen Bezügen“ und lässt uns nicht seligkeitstrunken in den Himmel starren. Das Wort des Engels an die Apostel gilt auch uns: „Ihr Männer von Galiläa, was schaut ihr nach oben!“ (Apg 1, 1-11) Wo ist unser Ort? Hier - im Heute - inmitten des Schlamassels, in dem wir gemeinsam mit allen (!) stecken. Und inmitten dieses Schlamassels, dem wir uns nicht entziehen können, haben wir ganz nüchtern einen Auftrag: „Ihr werdet meine Zeugen sein ... bis an die Grenzen der Erde.“
Wir haben aber auch eine Zusage, die uns Halt gibt: „Siehe, ich bin mit Euch alle Tage bis zum Ende der Welt!“ (Mt 28,20) Mit Christi Himmelfahrt verlässt Gott die Welt nicht. Er zieht sich nicht zurück. Sondern: Durch Gottes Geist, der in uns lebt und durch uns wirkt, wirkt Gott selbst inmitten dieser Welt. Wir sind das Medium, durch das Gott wirkt, wenn wir Gottes Geist an uns wirken lassen! Deswegen braucht es gerade jetzt ein „geistliches Leben“ - Formen der Spiritualität, des Gebetes und der Frömmigkeit in den jetzt möglichen, äußeren Rahmenbedingungen: Wir brauchen dieses geistliche Leben, damit Gottes Geist uns in der Krise inneren Halt geben kann. Damit Gottes Geist uns stark machen kann, um die gestellten Aufgaben zu bewältigen und nicht zu resignieren. Damit Gottes Geist uns in Bewegung hält, dass wir uns gerade jetzt nicht bequem zurücklehnen, sondern aufbrechen und die Nähe zu denjenigen suchen, die jetzt unsere Nähe besonders brauchen. Damit Gottes Geist vermag, uns Gelassenheit zu geben, wenn um uns herum orientierungslose Hektik, gezielte Panikmache und krude Verschwörungstheorien um sich greifen. Wer aus dem Evangelium lebt, kann nicht - erst recht als jemand, dem die Verkündigung anvertraut ist - mit Verschwörungstheorien Angst schüren, sondern muss Zeuge des Evangeliums sein: Ich bin wirklich bei euch tatsächlich alle Tage eures Lebens, auch den jetzigen.
Hinter mir liegen harte Wochen anstrengender Arbeit, vieler schwieriger Auseinandersetzungen, Wochen beständig neuen Abwägens und Ringens, wie ich wem gerecht werden kann in dieser Situation. Und ich ahne, was an langfristigen Folgen aus der Corona-Krise auf uns zukommt, die es zu bewältigen gilt. Ich will für mich selbst diese Zusage Jesu als letztes Wort an seine Jünger verinnerlichen: Er ist wirklich bei mir! Und ich möchte Sie ermutigen, dass Sie diese Zusage auch für sich verinnerlichen!
Gerade weil der Auferstandene erhöht wird zum Vater, ist er auf neue Weise durch die ganze Geschichte hindurch bei uns. Vertrauen wir und beten wir um das, was Paulus uns im Epherbrief, in diesem Ausschnitt der heutigen Lesung ins „Stammbuch“ geschrieben: „Der Gott Jesu Christ ... gebe euch den Geist der Weisheit und Offenbarung, damit ihr ihn erkennt. (...) Er erleuchte die Augen Eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr berufen seid...“ Eph 1, 17-23