Wovon lebt der Mensch?

Sankt Martin Dom Mainz (c) Sensum
Sankt Martin Dom Mainz
Datum:
So. 6. März 2022
Von:
Gerhard Trabert

Es mag verwundern, in diesen Tagen an das Lukas-Evangelium zu erinnern: „Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen.“  Es ist wohl eine der schwierigsten aber auch wichtigsten christlichen Herausforderungen.  Es herrscht wieder Krieg in Europa. Ich bin noch voller Eindrücke aufgrund unseres Besuchs, denn mehr war es eigentlich nicht, als wir vor 3 Tagen an der polnisch-ukrainischen Grenze Hilfsgüter abgaben. Ich war schon des Öfteren in Kriegsregionen und habe mich immer gefragt: Worin liegt die Macht des Krieges, dass immer wieder dazu aufgerufen wird. Ich habe vor Jahren meine Gedanken und Erfahrungen zu diesem menschlichen Phänomen in einem Gedicht thematisiert. Der Titel des Gedichtes lautet „Kriegswurzeln“. 

Gedicht "Kriegswurzeln"

Das Gedicht beginnt mit der Feststellung und hinterfragt dies immer wieder, 
dass die Wurzel der Macht des Krieges der Glaube vieler Menschen sei:

dem Tod von Freunden einen Sinn zu geben, ginge nur dadurch, wieder zu töten.

dass Intoleranz eine Tugend ist.

dass die Mächtigen wissen, was sie tun.

dass Leid, Not und Tod nur die anderen trifft.

dass Unterdrückung Freiheit bringen kann.

dass Hass eine Kommunikationsform ist.

dass das Reden vom Frieden ausreicht den Krieg zu verhindern.

dass man nichts gegen den Krieg tun kann.

Und bestimmt gibt es noch sehr viel mehr Gründe und Erklärungen, warum Kriege entfacht werden.

Zum Ende des Gedichtes stelle ich mir und uns allen die Frage:
Und wo sind die Wurzeln der Macht des Friedens?

Eine dieser Wurzeln dürfte genau in dieser Bibelstelle des Lukas-Evangeliums liegen: „Ihr aber sollt eure Feinde lieben und den Menschen Gutes tun.“

Geschichte: IS-Kämpfer

Wie schwierig dies ist, habe ich bei einem Hilfseinsatz in Mossul im Irak selbst erfahren dürfen!

Wir arbeiteten in einem sogenannten Trauma-Stabilization-Point, einer ersten Anlaufstelle für Schwerstverletzte, Soldaten und Zivilisten. Dort wurden immer wieder Kämpfer des Islamischen Staates, die verletzt waren, eingeliefert. Es war für die irakischen Soldaten nicht leicht zu akzeptieren, dass wir auch den Feind medizinisch gleichbehandelt haben. Aber es war zu spüren, dass dieses Verhalten sowohl beim kriegerischen Gegner als auch bei den irakischen Kämpfern etwas auslöste. Den Feind auch als Mensch zu erkennen, die Verletzlichkeit, körperlich und seelisch, ist eben bei allen Menschen vorhanden und dies wiederum zeigt ihre Menschlichkeit auf.

Diese sogenannte Feindesliebe, bedeutet allerdings nicht, und dies ist mir wichtig hervorzuheben, mit dem Tun und Handeln des Feindes einverstanden zu sein. Aber es bedeutet schon im Kern dieser Botschaft, Gewalt nicht mit Gewalt zu begegnen. 

Wovon lebt der Mensch?

Kommen wir zurück zur zentralen Frage des heutigen Gottesdienstes: 
Wovon lebt der Mensch?

Lukas gibt uns einen sehr bedeutsamen Hinweis:

„Gib jedem, der dich um etwas bittet, und fordere nicht zurück, was man dir genommen hat.“ Und dann kommt eine weitere zentrale Botschaft: „Behandelt die Menschen so, wie ihr von ihnen behandelt werden möchtet.“

Ja, dies ist eine zentrale Aussage, die meines Erachtens auch sehr viel mit der Beantwortung der Frage: Wovon lebt der Mensch? zu tun hat. Denn Menschen zu begegnen, so wie wir uns es wünschen, wie man uns begegnen soll, bedeutet Hinschauen. Hinschauen und nicht Wegschauen, nur dann kann ich die Situation des Anderen erkennen und entsprechend handeln bzw. behandeln.

Der Mensch lebt in seinem Inneren, die Seele des Menschen lebt vom Hinschauen. Hinschauen und Stigmatisierung und Diskriminierung und Unrecht, denen Menschen ausgesetzt sind zu erkennen und sich dagegen aufzulehnen, ist elementar für unser aller seelisches bzw. psychisches Überleben.

Wegschauen hält die Glut des Unrechts am Glimmen. Sie bringt uns selbst ins Ungleichgewicht. Die Glut wird dann vom Sauerstoff-Elixier des Ignorierens, des Tolerierens von Benachteiligung und Ausgrenzung weiter entfacht. Aus der Glut wird ein Feuer, aus dem Feuer ein Brand, aus dem Brand eine Feuerwalze die das seelische Leben des Menschen zerstört. Wir Menschen leben von Begegnung, von Beziehung, von Mitgefühl und Empathie aber auch von konkretem praktischen Handeln.

Deshalb dürfen wir nie mehr wegschauen. Aus der tief empfundenen Solidarität und Nächstenliebe für unseren Mitmenschen, aber auch aus der Eigenfürsorge um unser individuelles und persönliches seelisches Leben.

Uneigennützigkeit des Handelns

In diesem Kontext vermitteln die Textstellen des Lukas-Evangeliums auch die Uneigennützigkeit des Handelns als elementare Grundeigenschaft des Helfens. 

Dies geht in unserer leistungsorientierten Gesellschaft immer mehr verloren. Ich tue dann etwas, wenn etwas für mich dabei herausspringt. Wenn es sich lohnt! Was bedeutet aber: Es hat sich gelohnt. Auch hier geht es immer wieder um Entlohnung, um Gewinnstreben und Berechnung im Handeln. Der Evangelist Lukas schreibt dazu: „Und was ist schon dabei, Leuten Geld zu leihen, von denen man genau weiß, dass sie es zurückzahlen?“ Das klingt so unglaublich widersprüchlich in unserer Leistungsgesellschaft. Einfach geben, ohne etwas zurück zu bekommen? Das Evangelium geht noch einen Schritt weiter: „Ist es etwas Besonderes, denen Gutes zu tun, die auch zu euch gut sind?“

Zu diesem eingeforderten Verhalten gehört auch elementar eine Selbstreflektion, ein Schauen in unser Inneres. Dies bedeutet, selbst Verantwortung zu übernehmen und nicht Andere für Leid und Not verantwortlich zu machen, auch nicht Gott.  Hierzu möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen:

Geschichte: Auf der Bank

Zwei Männer sitzen auf einer Bank im Park. Fragt der eine: „Wenn du Gott eine Frage stellen könntest, was würdest du ihn fragen?“ Sagt der andere: „Warum Gott all das Leid auf der Welt zulässt!“ Darauf der Erste: „Und warum machst du es nicht?“ – „Weil ich Angst habe, dass er mich das Gleiche fragt!“

Es geht aber eben auch um die Hinterfragung des eigenen Handelns. 

Deshalb möchte ich Ihnen auch von einem eigenen Fehlverhalten erzählen, in einer Situation, in der ich es nicht vermutet hätte.

Im Juli 2017 habe ich im Rahmen eines medizinischen Hilfseinsatzes in Mossul, im Nordirak als Arzt gearbeitet. Ich hatte Ihnen von meiner Begegnung mit verletzten Kämpfern des Islamischen Staates schon berichtet.

Ein schwerverletzter Zivilist wird mit einem Pick-up Lastwagen in unser Behandlungszentrum gebracht und schnell auf die Untersuchungsliege gehoben. Unser Team untersucht den Patienten und fängt sofort mit den dringend notwendigen Hilfsmaßnahmen an. Ich stehe direkt an der Untersuchungsliege und bemerke, dass dieser schwerverletzte junge irakische Mann mit seiner Hand seitlich meine Hand sucht. Er hat sichtlich Schmerzen, er sucht nach Halt. Seine Hände sind blutverschmiert. Ich bemerke seine Angst, seine Panik und sein Greifen und Suchen nach meiner Hand.  Er packt schließlich in seinem Kampf gegen den Tod, und für das Leben, meine Hand. Zeitgleich registriere ich in diesem Moment, meine Gedanken: „Ich habe noch keine Schutzhandschuhe an, die Hand dieses Menschen ist immer noch blutverschmiert. Könnte ich mich, mit irgendeiner Infektionskrankheit, mit was auch immer, infizieren. Ich muss doch Handeln, etwas machen.“ Ich entziehe mich diesem unmittelbaren Kontakt, dieser Nähe, diesem Versuch eines im Todeskampf sich befindenden Menschen, Halt zu finden. Nähe und Zuwendung, durch einen anderen Menschen spüren zu dürfen. 

Wir funktionieren als Team und können den schwerverletzten Mann, in einem stabilisierten Gesundheitszustand mit einem Krankenwagen ins nächstgelegene Krankhaus bringen. Er lebt! Er lebt noch!

Wir sind alle angespannt und voller Emotionen. Ich setze mich allein auf unser Feldbett in unserer halbzerstörten Unterkunft und gehe gedanklich das Geschehene nochmals vor meinem inneren Auge durch. Wie habe ich reagiert, habe ich mein Fachwissen richtig eingesetzt habe ich schnell gehandelt usw.  Und was war da noch mit der Hand des Patienten, als er versucht hatte, Halt zu finden, berühren zu können und berührt zu werden in dieser Situation zwischen Leben und Tod. 

Sei wachsam, was das eigene Handeln angeht! Ich war es in dieser Situation nicht, muss ich erkennen. Mir war die irrationale Angst vor Berührung einer blutverschmierten Hand wichtiger, als dieses direkte Halt geben, von Mensch zu Mensch.

Es geht nicht um eine selbstzerstörerische Kritik, es geht um tabulose Kritik, es geht um stetige authentische Begegnung und das Hinschauen dem eigenen Leben und dem fremden Leben gegenüber. Wachsam für die Not und das Bedürfnis des Anderen und wachsam gegenüber meinen irrationalen Ängsten zu sein. Und zugleich die Demut zu leben, wie schmal der Grat zwischen falschem und richtigem Handeln oft ist. Diese Wachsamkeit ist nicht selten ein schmerzvoller Erkenntnisprozess, aber davon lebt der Mensch eben auch.

Man sieht nur mit dem Herzen gut!

In diesem Zusammenhang fällt mir oft ein Zitat aus dem Buch: Der kleine Prinz ein: „Man sieht nur mit dem Herzen gut! Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Haben wir mehr den Mut mit dem Herzen zu sehen. Das Herz ist für uns Westeuropäer das Organ der Emotionalität. Haben wir deshalb auch mehr Mut zur gelebten Emotionalität.

Gerade in Zeiten einer gesundheitlichen Bedrohung durch einen Krankheitserreger und einen Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft, ist Emotionalität, ist Angst und Hoffnung etwas, was uns ständig begleitet. Haben wir keine Angst vor Emotionalität. Denn das zeigen von Gefühlen ist wichtig und ist für das persönliche Wohl bedeutsam.

Emotionalität ist notwendig, um zu kreativen Lösungen zu kommen. Leider haftet der – angeblich „weiblichen“ – Emotionalität viel zu häufig das Stigma der Unprofessionalität, Naivität, Subjektivität und Unwissenschaftlichkeit an. Dagegen wird die „männliche“ Rationalität mit Werten wie Wissenschaftlichkeit, Souveränität und Objektivität gleichgesetzt. Rationales Lernen beherrscht unsere Schulen und Universitäten. Emotionales Lernen wird dagegen oft vernachlässigt. Empirie ist dann quasi die Verbindung von Ratio und Emotio. Diesem Dualismus wird zu oft zu wenig Bedeutung beigemessen, und in diesem Kontext besonders der Emotionalität. Wir brauchen wieder mehr denn je eine Streitkultur, aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, in denen zum Beispiel gesellschaftliche Ungerechtigkeiten oder auch ökologische Aspekte benannt werden, Alternativen, Verbesserungs- und Veränderungsmöglichkeiten gefordert, entwickelt und diskutiert und deren praktische Umsetzung eingeklagt werden. Wir brauchen eine wissenschaftliche und gesellschaftliche, inhaltliche Zielsetzung, in der Begriffe, wie soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Wertschätzung sozial benachteiligten Menschen gegenüber und individuelle sowie gesellschaftliche Verantwortung einen zentralen Platz einnehmen. 

Emotionale Vernunft ist gefragt, sich nicht nur auf die vermeintlich objektive Ratio zu stützen, wenn folgenreiche Entscheidungen zu treffen sind, sondern verantwortungsvoll die eigenen Gefühle und subjektiven Wertmaßstäbe in den Entscheidungsprozess zu implementieren.

Wertschätzung insbesondere fragilen Dingen gegenüber

Ein sehr schönes Bild der Visualisierung diesem notwendigen Dualismus von Rationalität und Emotionalität, die dann etwas Neues gemeinsam entstehen lässt, sehe ich in der traditionellen japanischen Wabi-Sabi-Ästhetik in Form der Kintsugi Methode. Gesprungene Keramikfragmente werden mit hochwertigem Material repariert und damit zu etwas Neuem zusammengefügt. Dies ist ein Ausdruck der Wertschätzung insbesondere fragilen Dingen gegenüber. Stellen Wissenschaft, Rationalität nicht oft Fragmente einer globalen Wahrheit dar, die erst durch das emotionale Reflektieren und Erkennen verstehbar werden?

Und genau in diesem Kontext ist das „Füreinander da sein“, das gegenseitige Zuhören ein zentraler Lebensbaustein des Menschseins.

Geschichte: Vater und Sohn

Während einer unserer ärztlichen Sprechstunden in einem Flüchtlingslager an der griechisch-mazedonischen Grenze kommt ein Vater mit seinem ca. 11-jährigen Sohn zu mir. Unser syrischer Dolmetscher übersetzt mir die Worte des Vaters. Sie kommen aus Aleppo, sein Sohn könne seit dem Beginn des Bürgerkrieges nicht mehr schlafen. Er zeigt mir eine mittlerweile äußerlich verheilte Schusswunde an der linken Brustseite seines Sohnes. Danach zeigt der Vater mir eine Granatsplitterverletzung an seinem Rücken. Ich bin traurig und betroffen und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bitte unseren Dolmetscher, dass er dem Vater sage möge, dass ich ihn so gut verstehen würde, seine Angst und Fürsorge für seinen Sohn, gerade weil ich auch 4 Kinder habe. Ich bin dem Weinen nahe! Der Vater schaut mich an und tröstet mich mit den Worten: „Ich danke Dir, dass Du Dir die Zeit genommen hast, mir zuzuhören.“ Wir umarmen uns schweigend!

Menschen mit Respekt, Würde und Zuwendung zu begegnen, ist immer ein Prozess der auf beide Kommunikationspartner ausstrahlt.

Gleichheit ist Glück

„Gleichheit ist Glück“, ist der Titel eines Buches von Richard Wilkinson und Kate Pickett, das im Jahre 2009 veröffentlicht wurde. Darin belegen die Autoren anhand zahlreicher fundierter wissenschaftlicher Analysen, dass mit zunehmender Ungleichverteilung der vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen, bei Armen, wie interessanterweise auch bei Reichen, die Problemkonstellationen ansteigen.  Körperliche sowie seelische und soziale Probleme und im weitesten Sinne Störungen, nehmen zu, wie Stress, Depressionen, Gewalt, Konkurrenz, soziale Verwahrlosung. Die Lebenserwartung fällt geringer aus, als in weniger ungleichen Gesellschaften, Teenagerschwangerschaften kommen häufiger vor, das Wettrüsten der Statussymbole nimmt zu. Mehr Gleichheit hingegen fördert das gegenseitige Vertrauen, mit der Folge, dass die Menschen glücklicher sind, und damit in allen gesellschaftlichen Klassen die Lebenserwartung steigt, Depressionen deutlich geringer festgestellt werden, die Quote von Gewalttaten geringer ausfällt, und vieles mehr. Sinngemäßes Fazit der Autoren: wir benötigen nicht mehr Wachstum, wir benötigen mehr Gleichheit. 

Dazu noch ein medizinischer Aspekt, den ich als Arzt gerne einbringen möchte.

Wir wissen aus der Analyse von sogenannten Spontanremissionen, also Spontanheilungen von Krebserkrankungen, dass ein wesentlicher Aspekt bei den wissenschaftlich belegten Fällen, eine spezifische Charaktereigenschaft ist, nämlich die, für andere Menschen sich einzusetzen, soziale Verantwortung zu übernehmen, sich sozial, auch in Zeiten dieser persönlich oft existentiell bedrohlichen Erkrankungen, zu engagieren.

Soziales Engagement ist also nicht nur ein eventuell altruistisches Handeln, sondern auch etwas, was dem Wohle des Menschen, der dies praktiziert, zugutekommt, also auch etwas Egoistisches. Tue deinem Nächsten das, was Du Dir auch selbst wünschst. Wir erinnern uns: Behandelt die Menschen so, wie ihr von ihnen behandelt werden möchtet. Oder auch: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Sich selbst anzunehmen mit all den Fehlern, aber auch Schätzen, ist etwas Entscheidendes.

Stärken wir die Resilienz bei unseren Mitmenschen insbesondere schon bei unseren Kindern. Gehen wir auf Schatzsuche und nicht auf Fehlersuche!

Auf der Suche nach den Mitmenschen, und der sogenannte Feind ist auch unser Mitmensch, werden wir immer auch mit unserem Selbst, mit unserer Individualität des Menschseins, konfrontiert. Der Psychiater Gustav Jung schrieb einmal: „Es ist leichter zum Mars vorzudringen, als zu sich selbst“.

Haben wir den Mut zur Begegnung mit uns selbst, und dies beinhaltet immer auch die Begegnung mit meinen Mitmenschen. Und genau davon lebt der Mensch!