Hungrige speisen - Zum Beispiel Teilen. Aber: Wer immer nur teilt, kann der am Ende denn überhaupt noch selbst satt werden? Wer so eine Frage stellt, muss noch weiter denken. Das Wort „satt“ kommt vom Lateinischen „satis est“ – es ist genug. Wer den Hunger – den Essenshunger und den Hunger, der sich in allerlei sonstigen Sehnsüchten und Bedürfnissen zeigt – stillen will, bis er satt ist, der kann nicht in blinder Gier immer mehr in sich hineinstopfen. Das macht am Ende krank. Jeder spürt doch, wann es genug ist, damit es gut tut. Dann ist er wörtlich „satt“. Es geht um das Beste, nicht um das Meiste: Um satt zu sein, muss man es im Wortsinn auch mal „genug“ sein lassen. Aber die Gier des egoistischen Immer-Mehr macht nicht satt; nur neidisch, unfrei und krank. Man wird dann zum Getriebenen der eigenen Unersättlichkeit; meint zu kurz zu kommen; dass andere einem etwas wegnehmen. Das schürt Ängste und vergiftet die Stimmung. Beispiele gibt es viele, gerade in diesen Tagen. Wenn es aber eine „Ethik des Genug“ gibt, „genug für alle“, dann macht das frei und unabhängig. Es befreit vom Zwang, immer mehr zu wollen. So ist es „genug“ für alle. Und so kann ich teilen, bis es „satis est“ - bis es genug ist: teilen mit denen, die Hilfe brauchen. Bis alle wirklich und wörtlich „satt“ sind.
So können die biblischen „Werke der Barmherzigkeit“ ins Heute übersetzt werden: „Hungrige speisen“, das heißt: Liebe teilt. „Hungrige speisen“ - das heißt: Leben fördern.
Durstige tränken. Ist damit ein Glas Wasser gemeint? Wie viel Durst spüren wir in uns und um uns herum, der nicht mit Wasser gelöscht wird: Durst nach Leben. Durst nach Gerechtigkeit, Durst nach Liebe, Durst nach dem Wort, das eine eingetrocknete Beziehung wieder aufleben lässt. Durst nach Trost in den Schicksalsschlägen des Lebens. Wie eingetrocknet ist der Alltag oft! Der gleiche Trott im Beruf. Die gleichen Sorgen in der Familie. Die unbeantworteten Sehnsüchte. Was ist da alles abgestanden und – im Bild gesprochen – nicht genährt von der Quelle, der Lust am Leben. Oder vor sich hin modernd im "Um-sich-selber-Kreisen" wie ein Tümpel, der kein Frischwasser mehr erhält und langsam kippt. Und ich frage mich auch: Wie sieht es in meiner Kirche aus? Wie gehen wir da um mit denen, die durstig sind nach dem guten Wort? Die Trockenheit in der Kirche spüren statt Lebensfreude? Wie werden die behandelt, die nach den Quellen fragen? Wie hartherzig, ängstlich und kleinkariert geht es da oft zu! In der Bibel heißt es von Gott: Wer durstig ist, soll kommen, wer will, empfange umsonst das Wasser des Lebens. Wasser des Lebens... - Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit: Das sind solche Quellen, aus denen „Wasser des Lebens“ fließt. Eigentlich unerschöpflich. Mit offenen Augen, einem offenen Herzen und offenen Händen; ohne Neid und Sorge, selbst zu kurz zu kommen.
So können die biblischen „Werke der Barmherzigkeit“ ins Heute übersetzt werden: „Durstige tränken“, das heißt: Liebe gibt. „Durstige tränken“ - das heißt: Leben ermöglichen.
Fremde beherbergen. Das ist hoch aktuell, wenn man an die Geflüchteten denkt, die bei uns sind. Aber hoch aktuell auch, gerade wegen Weihnachten. Die Geburt Jesu ist es doch, die an Weihnachten gefeiert wird. Und da ging es ziemlich ungemütlich zu: Das Himmelbett ist eine Krippe, ein Viehstall, weil in der Herberge kein Platz für sie war. Die „heilige Familie“ ist schon bald auf der Flucht, weil es dem Kind an den Kragen gehen soll. Die ersten Gratulanten sind Hirten, die Tagelöhner für andere. Nicht unbedingt die beste Gesellschaft und nicht die beliebtesten Nachbarn. Das sieht nicht nach wohlfeil-frommer Weihnachtsromantik mit Lametta und Lichterglanz aus. Damals wie heute. Wenn wir Weihnachten wirklich ernst nehmen, dann auch die Not der Menschen heute. Wer das Kind in der Krippe in sein Haus lässt, wie kann der die Geflüchteten heute draußen lassen? Wer die „Heilige Familie“ mit „macht hoch die Tür“ besingt, kann die Lebensrealität von Familien heute nicht vergessen und die Tür zuschlagen, wenn eine vermeintliche „Obergrenze“ erreicht ist. Wer sich am Kulturgut der Sternsinger erfreut, kann doch nicht gegen die Menschen aus dem Morgenland sein. Und so weiter. Weihnachten heißt: Gott wird Mensch, einer von uns. Er kommt in unser Wohnzimmer – als Kind in der Krippe. Und er klopft an unsere Haustür – als Obdachloser, Bettler oder Geflüchteter.
Und so können die biblischen „Werke der Barmherzigkeit“ ins Heute übersetzt werden: „Fremde beherbergen“ - das heißt: Liebe lädt ein. „Fremde beherbergen“ - das heißt: Leben schützen.
Nackte bekleiden. Aber wo findet man heute Nackte oder spärlich Bekleidete? In Kirchen und Museen gibt es im Sommer immer wieder Aufpasser, damit nicht zu viel nackte Haut gezeigt wird. Die müssen sich dann ein Tuch über die Schultern oder um die Hüften legen. Aber das sind nicht die Nackten, die wirklich Kleidung bräuchten. Wer diese nackte Haut meint, der bleibt oberflächlich, wird nicht selten moralisch und überhebt sich damit über andere. Barmherzigkeit? Eher Fehlanzeige. Aber: Nackte bekleiden, wie sie das biblische Werk der Barmherzigkeit meint, sieht nicht nur die Oberfläche; Barmherzigkeit, wie sie die Bibel meint, geht unter die Haut; interessiert sich für den ganzen Menschen. Gibt ihm wortwörtlich: Ansehen. Wer im biblischen Sinn „Nackte bekleidet“, der gibt denen Würde zurück, die sie aus Armut, aus Unterdrückung und wegen der engen Vorstellungen anderer verloren haben. Oder denen die gleiche Würde abgesprochen wird. Nackte bekleiden, das meint mehr als ein Stück Stoff, das sich über die Schultern oder die Knie oder den Kopf legt. Nackte bekleiden, das bedeutet Anteil geben am Leben der Gemeinschaft. Das bedeutet, dass jemand dazugehört. Das bedeutet, dass man gerade nicht an der Oberfläche hängt und sich kein Urteil bildet nur aufgrund von Äußerlichkeiten. Sondern entdeckt, worauf es wirklich ankommt.
So können die biblischen „Werke der Barmherzigkeit“ ins Heute übersetzt werden: „Nackte bekleiden“ - das heißt: Liebe hilft. „Nackte bekleiden“ - das heißt: Leben entdecken.
Tote bestatten. Wenn heute immer mehr Menschen anonym beerdigt werden, weil sie niemandem mehr Arbeit machen oder „zur Last fallen“ wollen, dann ist das oft eine traurige Entscheidung. Anonym, namenlos. Ausgelöscht. Am Ende - Ohne Hoffnung? Ganz anders manche Friedhöfe, auf denen wuchtige Grabdenkmäler den Anschein erwecken, als wenn der Tote so gar nicht von dieser Welt scheiden wollte. Nicht loslassen konnte. Pracht und Gloria mitnehmen wollte. Ob es ihm gelungen ist? Auf manchen Grabsteinen steht auch einfach nur der Name. Ich finde das sehr schön. Denn: Wer einen Namen hat, der wird aus der anonymen, namenlosen Masse herausgehoben. In der Kirche bekommen Kinder bei der Taufe ihren unverwechselbaren Namen und die Zusage von Gott: „Fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ (Jes 44, 2ff.). Bei der Taufe wird der Segen Gottes für immer zugesprochen, namentlich und ganz persönlich. Gott ruft die Menschen beim Namen, jeden einzelnen. Schön, wenn diese Hoffnung sogar den Tod überdauert, der Grabstein zeigt: Hier wird jemand nicht vergessen. Oder, wie es in einem Gruß zum Namenstag heißt: „Ich habe einen Namen, unverwechselbar bei Gott. Festgeschrieben nicht als Nummer. Ich habe einen Namen, mit ihm wird er mich rufen und ich, ich bin es, der dem Namen Klang geben kann im Spiel der Freuden und der Leiden.“ „Tote bestatten“, meint also mehr als professionell „alle Formalitäten“ zu erledigen.
So können die biblischen „Werke der Barmherzigkeit“ ins Heute übersetzt werden: „Tote bestatten“ - das heißt: Liebe überdauert. „Tote bestatten“ - das heißt: Leben ersehnen.
Gefangene befreien. Nun ja, das könnte man jetzt leicht missverstehen, wenn man es wörtlich nimmt. Es geht aber nicht um eine General-Amnestie, bei der alle im Knast auf freien Fuß gesetzt werden, egal, was sie verbrochen haben. Die Barmherzigkeit, von der hier die Rede ist, meint etwas anderes. Sie kann natürlich bedeuten, dass man straffällig Gewordenen auch wieder eine Chance gibt. Wenn sie Einsicht, Reue und Umkehr gezeigt haben, sollen sie wieder voll in die Gesellschaft integriert, nicht auf die Tat reduziert werden. Neu anfangen. Es gibt aber auch viele, die gefangen sind, ohne, dass sie hinter Gittern sitzen. Ich denke an die, die gefangen sind von der Sucht nach Anerkennung. Die gefangen sind von der Sucht nach Alkohol, nach Drogen, Sucht nach Arbeit, Sucht nach immer mehr Geld. Gefangen und abhängig vom Urteil anderer. Gefangen im eigenen engen Horizont. Die keine eigene Meinung haben, sondern nur das nachplappern, was Populisten ihnen vorsagen. Als scheinbar einfache Lösung. Wer so gefangen ist, oft auch ohne es zu merken, der braucht jemanden, der ihn befreit. Gefangene befreien kann dann wirklich zu einem Werk der Barmherzigkeit werden. Das braucht Mut zum klaren Wort und oft auch zur Konfrontation. Und das braucht auch Geduld. Und ein großes Herz. Wer die Hürden überwindet, der erreicht vielleicht auch das Herz des anderen, der gefangen ist. Und macht so auch dessen Herz weit.
So können die biblischen „Werke der Barmherzigkeit“ ins Heute übersetzt werden: „Gefangene befreien“ - das heißt: Liebe weitet den Horizont. „Gefangene befreien“ - das heißt: Leben eröffnen.
Kranke besuchen. Vielleicht besuchen Sie heute jemanden, der schon länger krank ist. Weil heute Sonntag ist, oder weil es bald Weihnachten wird, oder einfach, weil Sie denjenigen mögen und Zeit mit ihm verbringen wollen. Beim Krankenbesuch geht es ja nicht nur um die Pflichterfüllung, weil das erwartet wird. Beim Krankenbesuch geht es manchmal nur darum, dass man nicht allein ist. Vielleicht geht es in den Gesprächen auch um die Krankheit, vielleicht aber auch überhaupt nicht. Da wird gelacht und geweint. Da wird von früher erzählt – und von morgen. Vom Auf und Ab des Lebens. Von den Kindern und den Enkeln. Vom letzten Urlaub oder vom letzten Arztbesuch. Am Krankenbett kommt oft das ganze Leben zur Sprache, mehr noch als bei einem sonstigen Kaffeeplausch. Da wird vielleicht ganz tief- und hintersinnig gesprochen von Sorgen und Nöten, aber auch von Hoffnungen und Wünschen. Der Besucher steht nicht unter dem Diktat der medizinischen oder finanziellen Recheneinheiten, wie sie Pflegekräfte erfüllen müssen. Wer Kranke besucht, der kann zeigen, dass Pflege noch mehr ist als ein Pflaster und eine Salbe. Der kann erfahren, dass Leben mehr ist als Gesundheit und Wohlstand. Am Krankenbett wird das vielleicht deutlicher – gerade wenn man die Bedürftigkeit und Schwäche sieht. Und auch die Hoffnung, die oft viel stärker ist als gedacht.
So können die biblischen „Werke der Barmherzigkeit“ ins Heute übersetzt werden: „Kranke besuchen“ - das heißt: Liebe ermuntert. „Kranke besuchen“ - das heißt: Leben begleiten.
Autor:
Michael Kinnen / "Zwischenrufe" bei SR 1 / SR 3