Wie ein Fest nach langer Trauer…
so muss der wahre Friede sein, so ist Versöhnung, so ist Vergeben und Verzeihen
Jürgen Werth
Es ist, wie es ist.
Menschliches Zusammenleben ohne Konflikte – das ist eine Illusion, ein Wunsch, ein schöner Traum.
Der beim Zusammenstoß mit der Realität so leicht zerplatzt wie eine Seifenblase … Wir sehnen uns nach Einheit und Frieden in der Familie und erleben doch fast täglich Missverständnisse und Spannungen. Wir lieben – und verletzen uns doch gegenseitig, oft je schmerzlicher, je näher wir uns stehen.
Diese Realität anzunehmen – das ist der erste Schritt zur Versöhnung. Das Leben ist, wie es ist. Wir sind Menschen mit Stärken und Schwächen, großen Möglichkeiten, aber auch Grenzen. Das gilt für meinen Partner, für meine Kinder – und auch für mich … Diese Tatsache schenkt mir Gelassenheit.
Versöhnung fängt im eigenen Herzen an.
Der einzige Mensch, den ich verändern kann – das bin ich selbst. Deshalb beginnt der Weg der Versöhnung nicht bei den anderen, sondern bei mir. Ich nehme mein eigenes Verhalten ehrlich unter die Lupe, betrachte meinen persönlichen Anteil an dem Konflikt bei Licht: Wodurch gerate ich aus dem inneren Gleichgewicht? Was geht in mir vor, wenn ich mich angegriffen fühle? Verliere ich durch Kritik meine Selbst-Sicherheit und hole – nach dem Motto Angriff ist die beste Verteidigung – direkt zum Gegenschlag aus? Mache ich mich deshalb groß – und die anderen klein? Oder werte ich mich ab – und die anderen gleich mit? Wahrnehmen, was in mir passiert – ohne es zu bewerten, mein zweiter Schritt.
In den Schuhen des anderen…
Urteile über niemanden, ehe du nicht eine Meile in seinen Schuhen gegangen bist. Diese indianische Weisheit lädt mich ein, die Perspektive zu wechseln. Und dabei stelle ich fest, dass mein Mann nicht nur seine eigenen Schuhe, sondern auch seine ganze eigene innere Landkarte hat – gebildet aus seinen Erfahrungen, Gedanken und Gefühlen. Sie ist ausschlaggebend für seine Reaktionen und bestimmt, in welche Richtung er sich bewegt: Abwehr oder Angriff, Verständnis, Flucht oder Verteidigung? Was löst der Konflikt bei ihm aus? Oder im Blick auf die Kinder: Wie fühlt sich der Streit in der Welt meines Sohnes, in den Schuhen meiner Tochter an? Es gibt mehr als (m)eine Wahrheit. Ich bin bereit, mich für diese Entdeckung zu öffnen. Ich frage nach, höre zu – wohlwollend, wertschätzend – und gehe damit den entscheidenden nächsten Schritt.
…wie ein Erdteil, neu entdeckt
Mir geht unser Streit nach, können wir nochmal in Ruhe miteinander reden? Es kostet mich Mut, auf den anderen zuzugehen, manchmal brauche ich dazu etwas Zeit (oder mein Mann kommt mir zuvor …), aber ohne den klärenden Austausch geht es nicht. Zeit und Raum müssen passen. Und nur mit Neugier, Offenheit, Mut und Vertrauen werden neue Erdteile entdeckt – auch die meiner Familienmitglieder.
In diesem Gespräch ist jeder mal der „Bergführer“, mal der Geführte. Das gilt ebenso für meine Kinder – auch sie haben eine eigene innere Welt, der ich mit Ehrfurcht begegne. Ich lasse mich von ihnen an die Hand nehmen, versuche zu verstehen, was sie bewegt, spiegele ihnen, was ich wahrnehme. Umgekehrt beziehe ich aber auch Position, ich sage klar, worum es mir geht, was mir wichtig ist, was ich mir wünsche. In diesem Wechselspiel liebevoller Begegnung liegt für mich das Geheimnis der Versöhnung.
Es tut mir leid.
Die Erkenntnis, den anderen verletzt zu haben, ihm nicht gerecht geworden zu sein, ihm Unrecht getan zu haben – oft ohne es wirklich zu wollen – tut mir weh. Jetzt ist Barmherzigkeit gefragt, nicht zuletzt mit mir selbst … Meine eigene Schwäche zulassen, aushalten, zugeben – das kann ich nur in dem Maße, wie ich mich geliebt weiß, so wie ich bin. Mein ehrlich gemeintes "Es tut mir leid, bitte verzeih mir" ist dann ein weiterer Schritt zur Versöhnung. Auch meinen Kindern gegenüber spreche ich diese Worte aus – und mache die Erfahrung, dass der gegenseitige Respekt und das Vertrauen dadurch gewinnen. Meine Kinder sind nicht in einer konfliktfreien Zone aufgewachsen, aber sie haben erfahren, wie das geht: sich streiten, an Grenzen stoßen, verletzt sein und doch wieder aufeinander zu gehen, sich aufeinander einlassen und einander um Vergebung bitten, lieben und wachsen…
Wie der Frühling, wie der Morgen, wie ein Lied, wie ein Gedicht,
wie das Leben, wie die Liebe, wie Gott selbst, das wahre Licht -
so ist Versöhnung, so muss der wahre Friede sein,
so ist Versöhnung, so ist Vergeben und Verzeihen.
Jürgen Werth