Der doppelte Martin
Am besten kann man es vom Leichhof aus sehen: Das steinerne Reiterstandbild des hl. Martin mit dem Bettler, das sich hoch oben auf dem Dach des Domes befindet – genauer: auf dem Kreuzungspunkt der beiden Dachfirste des Westchors. Dort war die Skulpturengruppe erstmals nach 1767, also nach dem Wiederaufbau der in jenem Jahr durch einen Blitzschlag zerstörten Westteile des Domes aufgestellt worden. Der Name des Bildhauers ist unbekannt, doch es ist anzunehmen, dass Ignaz Michael Neumann, der leitende Architekt der barocken Westchorerneuerung die skulpturale Dachbekrönung selbst entworfen hatte. Zumindest lassen die eigentümlichen Proportionen der Skulpturen, die nur aus der extremen Untersicht heraus stimmig wirken, auf einen in der Perspektivlehre höchst versierten Entwerfer schließen. Denn wenn man der Martinusgruppe auf Augenhöhe gegenübersteht (was durch die jüngste Einrüstung des Westturms zeitweise möglich war), so bemerkt man, dass etwa die Köpfe der Figuren im Verhältnis zu ihren Körpern viel zu groß dimensioniert sind, oder der Oberkörper des hl. Martin überlängt erscheint, in Relation zu dessen sehr kurzen Ober- und Unterschenkeln; ebenso steht das Pferd auf überlangen, staksigen Beinen. Die vermeintlichen Fehler beruhen indes auf bildhauerischem Kalkül, denn erst die verzerrten Proportionen bewirken, dass sich beim Blick von unten, in der perspektivischen Verkürzung, alles zu einem harmonischen Gesamtbild fügt.
Wer sich mit eigenen Augen von den Fähigkeiten des barocken Bildhauers überzeugen möchte, sollte jedoch zur Kupferbergterrasse auf dem Mainzer Kästrich spazieren. Denn dort steht seit 2001 das originale Reiterstandbild des hl. Martin aus dem 18. Jahrhundert, wohingegen sich auf dem Dach des Domes eine exakte Kopie desselben befindet. Die seltsam anmutende Doppelung des Mainzer Schutzpatrons, der heute sowohl vom Dach des Westchors als auch vom Kästrich herab auf seine Stadt blickt, nahm ihren Anfang im Jahr 1926, während der großen Domsanierungskampagne. Dabei wurden nicht nur die stark zerstörten Architekturteile des Westchors erneuert, sondern auch die beschädigten Steinbildwerke, allen voran die Martinusgruppe, die als „vollständig verwittert“ beschrieben wurde. Anhand einer historischen Fotoaufnahme lässt sich das damalige Schadensbild noch erahnen: Neben Rissen und kleineren Ausbrüchen ist auch zu erkennen, dass dem hl. Martin bereits der linke Unterarm sowie ein Teil des linken Stiefels fehlten. (Abb. ##) Man entschloss sich dazu, die schadhafte barocke Skulpturengruppe abzubauen und durch eine neu angefertigte Kopie zu ersetzen. Um die Kosten für die Erneuerung aufzubringen, hatte sich sogar eigens ein „Martinusausschuss“ gebildet. Im Februar 1928 wurde dann die neue Skulpturengruppe am selben Platz auf den barocken Figurensockeln aufgestellt. Für die alten Figuren fand man hingegen zwei unterschiedliche Standorte: Die Figur des Bettlers kam 1926 ins damals gerade neu gegründete Dom- und Diözesanmuseum, wo sie im Domkreuzgang einen witterungsgeschützten Aufstellungsort fand; sie ist dort bis heute zu sehen. Die Reiterfigur des hl. Martin wurde hingegen in das Fort Stahlberg am Zahlbacher Steig gebracht, das von 1909 bis 2004 im Eigentum des Bistums Mainz war und zunächst als Freizeitort des katholischen Lehrlingshauses, dann seit der Nachkriegszeit als Zentrum der kirchlichen Jugendarbeit diente. Allerdings stand die Steinfigur dort auf einer Kasematte im Freien und blieb nach wie vor der Witterung ausgesetzt, sodass sie im Lauf der Jahrzehnte immer größeren Schaden nahm, bis der beklagenswerte Anblick schließlich 1993 das öffentliche Interesse erregte. In einem damaligen Zeitungsartikel hieß es, der hl. Martin könne sich „kaum mehr im Sattel halten“.
Daraufhin begannen die Überlegungen, wie die Skulptur am besten zu sichern sei und wohin man sie zu ihrem Schutz verbringen könnte. Es sollten jedoch noch acht Jahre vergehen, bis der hl. Martin restauriert, konserviert und schließlich 2001 an seinem heutigen Standort auf der Kupferbergterrasse aufgestellt werden konnte. Bis dahin galt es, die ermittelten Restaurierungskosten i.H.v. 120.000.- DM zu finanzieren, was u.a. auch durch zahlreiche private Spender ermöglicht wurde; vor allem aber war ein geeigneter Standort für die Statue zu finden, was sich trotz reger Beteiligung der Mainzer Bürger, die zahlreiche Vorschläge einreichten, als recht schwieriges Unterfangen erwies. Entscheidend war die Frage, ob die Figur künftig an einem überdachten Ort verbleiben oder wieder unter freiem Himmel stehen sollte. 1999 entschied man sich für letzteres, nachdem klar wurde, dass die Figur mit ihren besonderen Proportionen nicht gut in einem Innenraum wirkt und unbedingt einen erhöhten Aufstellungsort benötigt. Zudem sollte der Mainzer Schutzpatron öffentlich zugänglich und für alle sichtbar sein. Mit der Kupferbergterrasse waren all diese Voraussetzungen gegeben und darüberhinaus bestand dort eine Blickverbindung zum Dom. Auch bot der Kästrich, wo sich einst das römische Legionslager befand, für den als römischer Reitersoldat dargestellten Martinus die passende Umgebung.
Die Standortentscheidung verlangte jedoch, dass die Steinskulptur zusätzlich einer Acrylharz-Volltränkung unterzogen werden musste, um sie dauerhaft vor Witterungseinflüssen zu schützen. Bei dieser in den 1970er Jahren entwickelten Steinkonservierungsmethode wird das zu behandelnde Objekt in einer Wärmekammer zunächst getrocknet und dann unter Druckeinwirkung mit einer Imprägnierflüssigkeit (monomeres Methylmetacrylat) vollständig getränkt und ausgehärtet. Nach der Reinigung behält der konservierte Stein zwar weitgehend sein natürliches Aussehen, doch verändern sich durch die Einbringung des Kunstharzes wesentliche Eigenschaften, wie Druck-, Bruch- oder Scherfestigkeit sowie die Diffusionsfähigkeit. Kritische Stimmen bemerken zu dieser Behandlung, dass man es danach nicht mehr mit Stein, sondern mit Kunststoff zu tun habe, weshalb die Methode in der Denkmalpflege meist nur als „Ultima Ratio“ betrachtet wird, die zur Rettung von Objekten im letzten Zerfallszustand zum Einsatz kommt. Darüberhinaus ist sie sehr kostenintensiv und nur für transportable Steinobjekte geeignet.
1926 stand diese Methode noch nicht zur Verfügung, weshalb die Herstellung einer steinernen Kopie damals die einzige Möglichkeit darstellte, wieder eine intakte Martinusgruppe auf das Domdach zu stellen. Doch nach fast hundert Jahren wies auch die Kopie Beschädigungen auf, die 2024 dann zum Austausch des Kopfes der Martinsfigur führten. Dieser erfolgte auf ganz traditionell handwerkliche Weise als bildhauerische Arbeit durch die Steinmetzmeisterin der Dombauhütte, Jenny Schrauth.