Gott auf Tuchfühlung

Lesefassung der Predigt zur Präsentation des Mainz Sudarium Domini am 25. Februar 2024 um 17 Uhr im Hohen Dom zu Mainz

Mainz, 24. Februar 2024: Generalvikar Dr. Sebastian Lang bei seiner Predigt zum Mainzer Schweißtuch im Dom.. (c) Bistum Mainz / Blum
Datum:
Mo. 26. Feb. 2024
Von:
Dr. Sebastian Lang, Generalvikar

Mir persönlich scheint das das Beeindruckende an Jesus zu sein: die große Übereinstimmung von Botschaft und Leben. Die gilt so sehr, dass manchmal gar nicht so klar ist, was was ist. Ganz oft ist Jesu Handeln die verständlichere Predigt, während seine Worte dunkel sein können. Am Ende verschwimmen Botschaft und Leben zu einer einheitlichen Gestalt Jesu.

Was Tiefe bedeutet, hat Jesus erfahren.

Der Grat zwischen Trösten und Vertrösten ist oft schmal, besteht doch immer die Gefahr, dass das Leid oder die Trauer kleingeredet oder wegrationalisiert werden. In der Kantate Aus tiefer Not schrei ich zu dir (BWV 38) von Johann Sebastian Bach (1685–1759) haben wir gerade in einer Arie den Tenor singen hören: „Ich höre mitten in den Leiden / Ein Trostwort, so mein Jesus spricht.“[1]

Ob das Trostwort Jesu mehr ist als eine Vertröstung? Bachs Kantate, die zum zweiten Leipziger Kantatenjahrgang von 1724 gehört, nimmt sich das gleichnamige Kirchenlied von Martin Luther (1483–1546) zum Ausgangspunkt. Die erste und die letzte Strophe kommen wörtlich vor, die Thematik der anderen Teile wird umschreibend dargeboten. Schon der Text Luthers war keine Neuerfindung, der Psalm 130 liegt ihm zu Grunde. „Aus den Tiefen“ (V 1) ruft die Beterin, der Beter zu Gott. Worin diese Tiefe besteht, bleibt letztlich etwas offen – vielleicht, damit die ganz individuelle Leiderfahrung im Text Platz haben kann. Wenn es dann heißt: „Würdest du, Herr, die Sünden beachten“ (V 3), dann geht es offenbar darum, dass mögliches Fehlverhalten nicht als Begründung für das Leid herhalten darf. Gott vergibt ja, also muss er die Tiefe, aus der gerufen wird, als unangemessen einstufen. In ganz inniger Weise bringt der Psalm daher die Hoffnung auf Rettung zum Ausdruck: „Ich hoffe auf den HERRN, es hofft meine Seele, ich warte auf sein Wort. Meine Seele wartet auf meinen Herrn mehr als Wächter auf den Morgen, ja, mehr als Wächter auf den Morgen. Israel, warte auf den HERRN, denn beim HERRN ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle. Ja, er wird Israel erlösen aus all seinen Sünden“ (VV 4–8).

Im Psalm dürfen die Sünden nicht als Ursache für die ‚Tiefen‘-Erfahrung herhalten. Luther geht einen Schritt weiter und greift die Sündenthematik – ganz in der Logik seiner Rechtfertigungslehre – auf und identifiziert die „tiefe Not“ mit dem Schuldbewusstsein. Wird bei ihm dann die Zuversicht auf Gottes rettendes Eingreifen (eben die Rechtfertigung) zum Tenor des Liedes, so wird diese Hoffnung durch den unbekannten Dichter des Kantatentextes zu einer emotional sehr eindrücklichen und im Sinne einer persönlichen Beziehung gedeuteten Sehnsucht gesteigert. Nicht so sehr die Not, sondern die Rettungssehnsucht, also das Trostwort steht im Zentrum. 

Aus den Tiefen meines Lebens heraus hoffe ich auf ein tröstendes Wort Jesu, das sich idealerweise ganz individuell an mich richtet. Wie müsste das aussehen? Wahrscheinlich muss es nicht besonders klug, besonders elegant sein, aber es sollte ehrlich sein, vom eigenen Leben gedeckt. Mir persönlich scheint das das Beeindruckende an Jesus zu sein: die große Übereinstimmung von Botschaft und Leben. Die gilt so sehr, dass manchmal gar nicht so klar ist, was was ist. Ganz oft ist Jesu Handeln die verständlichere Predigt, während seine Worte dunkel sein können. Am Ende verschwimmen Botschaft und Leben zu einer einheitlichen Gestalt Jesu.

Dass Jesus lebt, was er predigt; dass also sein Wort von der eigenen Erfahrung gedeckt ist, das gilt auch für das erbetene Trostwort für die Tiefen. Was Tiefe bedeutet, hat Jesus erfahren. Das gilt so sehr, dass wir ihm leicht den Psalm 130 in den Mund legen können, so als wäre es von jeher sein Gebet.

In diesen Tagen der vorösterlichen Bußzeit bereiten wir uns wieder darauf vor, den absoluten Tiefpunkt des Lebens Jesu nachzuvollziehen, um dann auch den Höhepunkt feiern zu können. Mir geht es so, dass ich an den drei österlichen Tagen von Leiden, Tod und Auferstehung den Tiefpunkt in der nachmittäglichen Liturgie des Karfreitags empfinde. Danach – so erscheint es mir emotional – geht es langsam wieder aufwärts. Das mag auch daran liegen, dass der Karsamstag vor allem von Vorbereitungen auf das Osterfest bestimmt ist. Meist ist die Stadt wuselig und ich selbst recht beschäftigt. Dieses kulturelle Phänomen hat praktische Gründe, könnte aber durchaus ebenso theologiehistorische Hintergründe haben: In der Westkirche trat das Verständnis für den Sinn des Karsamstags, also das theologische Geheimnis der Grabesruhe stark gegenüber dem Kreuzgeheimnis zurück. Liturgiegeschichtlich zeigt sich das darin, dass bis in der 50er-Jahre, als es vorkonziliar schon eine kleine Liturgiereform gab, die Osternacht am Morgen des Karsamstags gefeiert wurde, der Karsamstag – nur bis Mittag ein Fasttag – also schon österlich geprägt war.

Theologisch dürfte aber die Grabesruhe – oder weniger euphemistisch: das Tot-Sein Jesu – den echten Tiefpunkt seiner Existenz darstellen. Denn im Tod geht gar nichts mehr. Ich frage mich, ob die Tatsache, dass faktisch das Leiden und Sterben in der Theologie ebenso wie in meinem ganz persönlichen Glaubensleben die wichtigere Rolle spielt, etwas damit zu tun hat, dass der Tod immer die größte narzisstische Kränkung des Menschen bleiben wird. Im Leiden und im Sterben behält der Mensch immer noch einen Teil des Heftes in der Hand. Wer sich heroisch hineingibt, der kann Größe zeigen. Der Tote zeigt gar nichts mehr. Es gibt ihn nicht mehr. Ob ich darüber nachdenken möchte?

Ich kann mein Christ-Sein anders gestalten, aber ich sollte eine Antwort darauf geben können, in welcher Form Jesus Christus in meinem Leben zum Trostwort wird.

Im Falle Jesu habe ich nicht nur ein emotionales Problem mit dem Tod. Wenn sich in seiner Gestalt tatsächlich – wie es unser Glaube bekennt – die ultimative Solidarität Gottes mit uns Menschen realisiert, dann bringt mich sein Tod in denkerische Schwierigkeiten: Immerhin ist da ein Gott-Mensch tot. Ich will das hier nur benennen, weil es vielleicht auch zu der Karsamstagsvergessenheit der westlichen Theologie geführt hat, dass es das eine oder andere theoretische Dilemma geben könnte.

Schauen wir hier und heute ungeachtet all dieser Hindernisse mutig in das Grab Jesu, auf sein Tot-Sein, auf den wahren Tiefpunkt seiner Existenz. Und da kommt dann auch endlich das Schweißtuch ins Spiel, das wir nach einigen Jahrzehnten des Vergessens wieder genauer in den Blick nehmen wollen.[2] Für die Menschen, die irgendwann mit seiner Verehrung begonnen haben, war dieses hauchdünne Gewebe – später stellvertretend der deutlich handfestere Aufbewahrungsbeutel – ein Zeuge der Grabesruhe. Wer nämlich beim Begriff „Schweißtuch“ an die hl. Veronika denkt, liefe hier in eine falsche Richtung. Es geht um jenes Schweißtuch, von dem es in der Ostererzählung des Johannesevangeliums heißt: „Da kam auch Simon Petrus, der ihm gefolgt war, und ging in das Grab hinein. Er sah die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Haupt Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle“ (Joh 20,6f.).

Dieses kleine Stück Stoff ermöglicht dann so etwas wie einen Blick in das Grab. Es konfrontiert mich mit dem Tot-Sein Jesu. Ist dafür – werden die kritischen Stimmen an dieser Stelle zu Recht fragen – eine Reliquie nötig; erst recht eine, deren Echtheit selbst für die Frömmsten doch mit erheblichem Zweifel versehen sein muss, taucht sie doch erst im Laufe des Mittelalters auf.

Nötig ist eine Reliquie nicht. Vielleicht ist ein Kulturgut, wie das Mainzer Schweißtuch, aber hilfreich. Warum? Lassen Sie uns nochmal einen Blick auf die Ausgangsfrage werfen: Von Jesus erhofft sich der Beter in Bachs Kantate ein Trostwort. Ermöglicht wird dieses Trostwort, weil Jesus selbst die Erfahrung der Tiefe gemacht hat, also weiß, wovon er spricht. Jetzt spricht Jesus aber nicht zu mir, jedenfalls nicht so, wie ich zu Ihnen hier spreche. Damit bliebe die Bitte nach dem Trostwort eine unerfüllte Sehnsucht.

Die theoretische Grundlage dafür, dass es vielleicht doch eine Möglichkeit gibt, liegt kurz gesagt in der Idee, dass Jesus selbst dieses Trostwort ist. Angesichts der Idee, dass Jesus das fleischgewordene Wort Gottes in der Welt ist, und der schon benannten Beobachtung, dass bei ihm Leben und Botschaft unentwirrbar ineinander verschränkt sind, liegt das ja nahe. Dann wäre der Grund für die Möglichkeit des Trostes ein zweifacher: Einerseits hat dieser Jesus die volle Tiefe der menschlichen Existenz durchlebt, bis hinein in die existentielle Kränkung nicht nur des Sterbens, sondern des Tot-Seins. Andererseits ginge in der Gestalt Jesu Gott, also der Schöpfer und Verursacher – wenn ich so sagen darf – derart auf Tuchfühlung mit den Menschen, dass das Geschöpf in seiner Not nicht alleingelassen ist.

Ein schöner theologischer Gedankengang! Dennoch bliebt das praktische Problem zunächst, dass ich mit diesem Jesus Christus, dem existentiellen Trostwort Gottes an mich, nicht auf Tuchfühlung gehen kann. Diese Schwierigkeit wird im Laufe der Christentumsgeschichte ganz unterschiedlich gelöst. Die Sakramente entwickeln sich unter anderem deshalb, um diese Lücke zu füllen. Aber auch Bilder und Reliquien hatten und haben ihren Platz im Umgang mit dieser Problemstellung. Dem einen mögen sie hilfreicher erscheinen als der anderen. Überhaupt könnte es sein – ich äußere das mal als Denkanstoß und Arbeitshypothese – dass die Art, in der der Graben zwischen mir und Jesus überwunden wird, jeweils typisch ist für die Konfessionen, ohne das es da eine trennscharfe Abgrenzung gäbe. Nicht umsonst fand der Vortrag zum Mainzer Schweißtuch von Dr. Wilhelmy am letzten Mittwoch im Erbacher Hof als Eröffnung der Reihe Bilder des Katholischen statt.[3]

Um es also deutlich zu sagen: Ob es echt ist oder nicht, ob ich etwas mit Reliquien anfangen will oder nicht, haben wir hier ein Mainzer Kulturgut vor Augen, das vielen Gläubigen geholfen hat, etwas von ihrer Glaubenshoffnung materiell zum Ausdruck zu bringen und mit dem Trostwort ihres Lebens auf Tuchfühlung zu gehen. Ich kann mein Christ-Sein anders gestalten, aber ich sollte eine Antwort darauf geben können, in welcher Form Jesus Christus in meinem Leben zum Trostwort wird.

Ich habe versucht, ein wenig zu umreißen, was das Mainzer Schweißtuch mir sagt. Zusammenfassend sind es vor allem zwei Dinge: Einmal konfrontiert es mich als Zeichen der Grabesruhe Jesu mit meiner eigenen Endlichkeit. Eine Endlichkeit, die bedeutet, dass ich meine Existenz im Letzten weder am Anfang noch am Ende richtig in der Hand habe. Dann aber erahne ich, wenn ich tiefer blicke, dass Gott mich in dieser Endlichkeit nicht allein lässt, sondern sich in Jesus Christus mit den Menschen solidarisch macht, sozusagen auf Tuchfühlung geht. Diese Solidarität Gottes mit mir muss ich in meinem Leben immer wieder neu erfahrbar machen, sonst bleibt sie eine abstrakte Einsicht.

Heute, am Zweiten Fastensonntag, reicht mir das mal an Bedeutung. Aber natürlich steckt da noch etwas drin, wenn Sie wollen: Immerhin zeugt uns das Tuch nicht nur von der Grabesruhe, sondern auch von der Auferweckung aus derselben. Oder mit den Worten der Kantate: „Wenn meine Trübsal als mit Ketten/ Ein Unglück an dem andern hält, / So wird mich doch mein Heil erretten, / Dass alles plötzlich von mir fällt. / Wie bald erscheint des Trostes Morgen / Auf diese Nacht der Not und Sorgen!“

 

[1] Zu diesem wie den folgenden Zitaten aus und den Aussagen über die Kantate vgl. Alfred Dürr, Johann Sebastian Bach. Die Kantaten, Kassel u.a. 61995, 667–671; Konrad Klek, Dein ist allein die Ehre. Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt, Bd. 1: Choralkantaten, Leipzig 2015, 144–149.

[2] Zum Mainzer Sudarium Domini und den Hintergründen seiner Verehrung vgl. Winfried Wilhelmy, Moguntia Sacra – Reliquien im frühmittelalterlichen Mainz, in: ders./Tino Licht (Hg.), In Gold geschrieben. Zeugnisse frühmittelalterlicher Schriftkultur in Mainz (FS Heinz Heckwolf), Mainz 2017, 27–35; Winfried Wilhelmy, Schweißtuch Christi (Sudarium Domini), in: ebd., 62f.

[3] Vgl. Pressestelle Bistum Mainz, Eine besondere Mainzer Reliquie. Dr. Wilhelmy über das Schweißtuch Christi aus dem Mainzer Altmünsterkloster – https://bistummainz.de/pressemedien/pressestelle/nachrichten/nachricht/Eine-besondere-Mainzer-Reliquie (abgerufen am 24.02.2024); Akademie des Bistums Mainz, Programm Februar – September 2024 – https://bistummainz.de/export/sites/bistum/bildung/akademie/.galleries/downloads/EBH_Programm_2024-1_web.pdf (abgerufen am 24.02.2024).