Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen

Predigtreihe im Advent 2023 in Mainz-Kastel und Amöneburg - Advent mit Jesaja

St Rieth predigt zum ersten Advent (c) Bistum Mainz | Rieth
Datum:
Sa. 2. Dez. 2023
Von:
Stephanie Rieth

„Was war das mutigste, was du jemals gesagt hast?“ „Ich brauche Hilfe!“ Dieser kleine Dialog geht auf den britischen Schriftsteller Alan Alexander Milne zurück. Viele kennen eher seine literarische Figur, die er Anfang der 1920er Jahre geschaffen hat: Winnie the Pooh oder auch Pu der Bär. Einen Bären von sehr geringem Verstand, wie Milne selbst ihn beschreibt. Dabei haben seine ganz einfachen Erkenntnisse oft eine große Weisheit, finde ich. So auch dieser kleine Dialog zwischen Pooh und dem immer etwas ängstlichen Ferkel. „Pooh, was war das mutigste, was du jemals gesagt hast?“, fragte Ferkel. „Ich brauche Hilfe.“, antwortete Pooh.

Ich brauche Hilfe - in diesem kleinen Satz steckt ein ganzes Universum. Ich brauche Hilfe kann vieles bedeuten: Ich kann nicht mehr. Ich bin am Ende. Aber auch: Ich kann nicht alles alleine. Ich bin angewiesen auf andere. Und zugleich braucht dieser kleine Satz oft so viel Mut. Ist es nicht ein Zeichen von Schwäche, Hilfe zu benötigen? Heißt das nicht auch: Ich bin bedürftig, krieg’s nicht hin, bekomme mein Leben nicht auf die Reihe? Bin ich dann in den Augen der anderen nicht abgeschrieben? Ist es nicht so, dass eigentlich immer nur der Stärkere überlebt?

Ein kleiner Dialog mit einfachen Worten, der aber - denkt man darüber nach - für eine sehr anspruchsvolle Auseinandersetzung steht. Wie ist das mit dem menschlichen Vermögen, der menschlichen Kraft, der Macht und den Grenzen?

Um menschliche Macht und ihre Grenzen und Gottes Wirken in der Geschichte - darum geht es in der heutigen Lesung aus dem Buch des Propheten Jesaja.

„Du, Herr, bist unser Vater, „Unser Erlöser von jeher“ ist dein Name.“,

so beginnt die heutige Lesung. Es sind Worte eines Gebetes - gesprochen in einer dunklen und verzweifelten Lage. Das Volk Israel kehrt aus dem babylonischen Exil zurück und sieht sich vor den Scherben seiner Existenz. Der Tempel als das Symbol für die Gegenwart Gottes unter den Menschen, ist zerstört. Glauben und Identität des Gottesvolkes sind bedroht.

„Hättest du doch den Himmel zerrissen und wärest herabgestiegen!“, ich höre und sehe verzweifelte Menschen vor meinen Augen, die mit dieser Erfahrung ringen, es nicht einordnen können, es nicht fassen können, was da passiert ist. Vielleicht gelingt es deshalb so gut, sich das vorzustellen, weil sich das Volk Israel auch heute wieder ganz aktuell in einer ähnlich verzweifelten Lage befindet, weil wir bloß in die Nachrichten schauen müssen. Auch heute steht Israel einmal mehr vor den Scherben seiner Existenz. Glauben und Identität sind massiv bedroht. Der Staat Israel in seiner Integrität, in der Sicherheit der Grenzen beschädigt.

Würdest du doch den Himmel zerreißen und herabsteigen? Diese flehentliche Bitte ist heute aktueller, denn je.

Ich möchte es versuchen, die heutige Lesung zuerst einmal auch historisch einzuordnen. Das Jesajabuch besteht aus drei Teilen, die sich zwar voneinander trennen lassen, aber zugleich auch eng miteinander verbunden, aufeinander bezogen sind. Reflexion, Nachsinnen, Infragestellen - davon lebt das ganze Buch, das sich über mehrere Jahrhunderte entwickelt hat.

Der Text der heutigen Lesung befindet sich im dritten Teil des Jesajabuches.

Die Figur des Propheten Jesaja, also der eigentliche Jesaja, wirkte in den Jahren 740-701 vor Christus - von ihm erzählt der erste Teil des Buches. 701 steht der assyrische König vor den Toren Jerusalems und belagert die Stadt Jerusalem. Das Nordreich Israel hat er schon eingenommen und die Menschen in die Verbannung geführt. Man spricht hier vom ersten Exil.

Der zweite Teil entsteht in einer Art Schule des Propheten, etwa 150 Jahre später, als sich das Volk Israel erneut in einer noch viel kritischeren Situation befindet, nämlich im Exil in Babylonien mit der Deportation aller relevanten Gesellschaftsgruppen und der Zerstörung des Tempels. Der dritte Teil entsteht kurz nach dem Exil.

Die Botschaften, die immer wieder thematisiert und bedacht werden, ziehen sich jedoch wie ein roter Faden durch alle drei Teile des Jesajabuches. Es ist damit Mahnung, Aufruf und Ermutigung eines Propheten, der nicht locker lässt, der am ihm anvertrauten Volk dran bleibt, ihm immer wieder den Spiegel vorhält.

Im wesentlichen geht es dabei um drei Grundüberzeugungen, die sich auch im heutigen Lesungstext wiederfinden:

1. Gott ist treu - trotzdem!

Trotz aller Exilserfahrungen steht Gott treu zu seinem Volk. Auch wenn das Volk in seiner Existenz bedroht ist und immer kleiner wird, es bleibt ein Rest, der für das Ganze und Vollkommene steht, für die Verbindung zwischen Gott und seinem Volk, die nicht verloren geht. Es heißt in der Lesung: „Für eine kurze Zeit haben unsere Feinde dein heiliges Volk in Besitz genommen; / dein Heiligtum haben sie zertreten.“ Das ist die Realität des Exils und zugleich ist sie nach Jesaja verknüpft mit der Schuldgeschichte des Volkes, wenn es heißt: „Niemand ruft deinen Namen an, / keiner rafft sich dazu auf, festzuhalten an dir. Denn du hast dein Angesicht vor uns verborgen / und hast uns zergehen lassen in der Gewalt unserer Schuld.“ Aber Gott bleibt treu, denn, so heißt es: „Du kamst dem entgegen, / der freudig Gerechtigkeit übt, / denen, die auf deinen Wegen an dich denken. … bleiben wir künftig auf ihnen, werden wir gerettet werden.“

2.  Gott ist wirkmächtig in der Geschichte

Hinter der Sehnsucht nach Jerusalem, nach der Tochter Zion, steht die Überzeugung: Gott zeigt sich in der Geschichte gegenwärtig, er wirkt in ihr. Für Gottes Präsenz in der Geschichte, für seine Gegenwart und Wirkmacht steht die Stadt und besonders auch der Tempel, aber eben auch der Mensch. So heißt es in der Lesung: „…kein Auge hat je einen Gott außer dir gesehen, / der an dem handelt, der auf ihn harrt.“

3. Es braucht das unbedingte Vertrauen auf die Heilsmacht Gottes

Jesaja wird nicht müde, das Volk immer wieder daran zu erinnern. Alles menschliche und politische Taktieren hat dem Volk Israel nicht geholfen, im Gegenteil. Es ist den Falschen hinterhergelaufen, hat den Glauben verraten, wollte den Mächtigen einen Gefallen tun - das alles aber hat ins Verderben geführt, hat die Existenz bedroht. Dieses Verhalten hat das Volk ins Exil geführt.

Sich einzig der Wirkmacht Gottes überlassen, ihm ganz und gar vertrauen, das ist der Weg der zum Glück führt, aber genau das ist auch die größte Herausforderung: „Wir sind der Ton und du bist unser Töpfer.“ mit diesem Bildwort endet die heutige Lesung. Sich formen lassen von Gott, sich ganz ihm überlassen. Einem Gott, der den Namen trägt „Unser Erlöser von jeher“. Aber ja, genau darin liegt die Herausforderung - beim Blick in die Weltgeschichte wie auch im persönlichen Leben.

Diese drei Grundbotschaften des Jesaja brauchen wir heute mehr denn je:

Gott bleibt treu - trotzdem, Gott ist wirkmächtig in der Geschichte, Vertrauen auf die Heilsmacht Gottes

Wir brauchen sie, wenn wir auf das Schicksal der vom Krieg bedrohten Völker schauen, weltweit aber besonders in der Ukraine und in Israel.

Wir brauchen sie, wenn wir auf unser Land schauen und beobachten müssen, wie sich die Gesellschaft immer weiter voneinander entfremdet, sich zunehmend radikalisiert.

Wir brauchen sie, wenn wir in unsere Kirche schauen und erleben, wie sie durch schmerzhafte aber notwendige Erkenntnisse und Fragen in ihrer Gestalt herausgefordert und angefragt wird, sich bewegen und verändern muss, um weiter zu bestehen.

Wir brauchen sie in unserem ganz persönlichen Leben, wenn wir an Zumutungen kommen, die wir nur schwer aushalten können, wenn wir an die Grenzen des Machbaren kommen, wenn wir Erfahrungen machen, mit denen wir alleine nicht zurecht kommen.

Wenn das so ist, dann möchte ich mutig sein. Dann möchte ich zu meinen Grenzen stehen und sagen: Ich brauche Hilfe. Dann möchte ich mich ganz der Wirkmacht Gottes überlassen.

Dann ist dieses Bekenntnis Teil eines jeden Gebetes zu Gott: ob ich für den Frieden, unsere Gesellschaft, die Kirche, oder in meinen ganz persönlichen Anliegen bete. Ich brauche deine Hilfe, Gott! Ich brauche Hilfe wird dann aber auch zu einem wichtigen Satz im persönlichen Miteinander, weil ich zugleich darauf vertraue, dass Gott nicht abstrakt sondern durch unsere Mitmenschen handelt, wenn wir ihn um Hilfe bitten.

Mutig sein, kann man üben. Vielleicht gelingt mir das auf dem Weg zum Kind in der Krippe - dem Kind, in dem sich Gott selbst ganz klein und hilfsbedürftig zeigt, aber genau darin als Erlöser von jeher erweist.

weitere Predigten aus dieser Reihe am 2. und 3. Advent