Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Pontifikalamt am Hochfest der Geburt des Herrn am 1. Weihnachtstag 2025 im Dom zu Mainz:Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt (Alfred Delp)

1. Das Leben ist etwas grundsätzlich Gutes und Wunderbares. Schon deswegen lohnt es sich zu leben, zur Arbeit zu gehen, die vielen kleinen alltäglichen Arbeiten zu verrichten. Und auch die Menschen sind trotz ihrer Schwächen und Grenzen etwas Wunderbares. Als gläubiger Mensch habe ich ein Grundvertrauen, dass die Schöpfung gut ist. Nein, die Brille des Gläubigen Menschen ist nicht rosarot: Es gibt die Erfahrung des Bösen, es gibt Lüge und Hass, Krankheit und Tod. Trotzdem stehe ich jeden Morgen auf und bin davon überzeugt, dass es einen letzten Sinn dieses Lebens gibt, dass das Gute stärker ist als das Böse. Deshalb lohnt es sich für mich, mich für das Leben einzusetzen. Ja, ich bin von Sinn umgeben, so hat es einmal ein Theologe formuliert. Das gibt mir für mein Leben und unsere Welt Hoffnung. Wer sich ernsthaft dem Leben und seinen Herausforderungen stellt, setzt voraus, dass das Leben grundsätzlich nicht absurd, sondern sinnvoll ist. Ich kann Sinn für andere vermitteln. Ich erfahre Sinn, wenn ich geliebt werde, ohne Bedingungen und ohne Vorbehalte. Ein Beispiel hierfür ist das Grundvertrauen, das Kindern innerhalb von Familien vermittelt werden kann: „Du bist geliebt und deswegen hat alles einen Sinn. Auch du darfst anderen helfen, diesen Sinn zu erfahren.” Geliebte Menschen geben einander Sinn. Wer sich geliebt weiß, wird nie sagen können: Es ist alles schlecht, absurd und sinnlos. Mit diesem Urvertrauen lebe ich. Deshalb liebe ich als Christ die Welt und die Menschen mit all ihren Grenzen und in ihrer Vorläufigkeit. Ich bemühe mich jedenfalls.
2. Gläubige Christinnen und Christen können darauf hoffen, dass das Leben sinnvoll ist, weil es Gott gibt. Ja, Gott ist der Sinn meines Lebens. Wer an Gott glaubt, bejaht, dass es einen Größeren gibt, der ihn in die Arme nimmt und ihn liebt, und nicht nur ihn, sondern jeden Menschen und seine ganze Schöpfung. Zu wissen, dass es diese Liebe gibt, lässt mich als gläubigen Menschen morgens aufstehen. Ich glaube nicht an einen Gott, der irgendwo schwebt, als anonyme Kraft über oder in der Schöpfung wirkt, sondern ich glaube an ihn als Vater, als liebenden Sinn meines Lebens. Dieser Glaube hilft mir auch durch schwere Zeiten, er lässt mich auch Zweifel und Fragen aushalten. Und ich bekenne auch, dass mir Gott mitunter ein Rätsel bleibt.
3. Dieser Sinn meines Lebens, dieser tiefe Sinn der Schöpfung, dieser liebende Grund meines Lebens tritt in die Geschichte ein, er wird greifbar und erfahrbar. Er schlägt sein Zelt unter uns Menschen auf. Gott wird in Jesus selbst Geschichte, er wird Fleisch. Es bleibt mir nicht erspart, darüber nachzudenken, warum er so klein und arm auftritt, wie das Evangelium es schildert. Er, der Schöpfer, er der Grund unserer Welt, der Herr des Lebens – warum kommt er nicht als König, als Herrscher, der uns die Größe seiner Macht zeigt, als Professor, als Philosoph, der uns die Weisheit dieser Welt erklärt? Ich möchte es einfach erklären: Wenn der tiefste Sinn meines Lebens darin besteht, Liebe zu erfahren und zu schenken, dann wird Gott mir einen Weg zeigen, auf dem ich seine offene Arme und sein offenes Herz spüre. Ein Kind in der Krippe erdrückt nicht und belehrt nicht, sondern bewegt mich zur Gegenliebe. Das gilt für das ganze Leben und Sterben Jesu. Er erdrückt nicht und begnügt sich nicht mit der Belehrung, sondern möchte den ganzen Menschen wirklich gewinnen. Das Kind möchte mich bewegen, mich dieser Welt genauso zu öffnen, wie ich es an ihm sehe. Und dieses Kind, das unscheinbar mitten im Alltag geboren wird, lehrt mich, den Sinn meines Lebens nicht im Großen und Komplizierten, sondern in den kleinen Aufgaben meines Alltags zu suchen. In den alltäglichen Begegnungen, in den mühevollen Versuchen, alltäglich etwas von meinem Glauben und meiner Liebe weiterzugeben. Das Kind, das so mühsam geboren wird und einen schweren Weg vor sich hat, offenbart mir einen Sinn, der sich nicht in klugen Worten erschöpft, sondern gelebt werden will. Weil dieser Gott sichtbar geworden ist, steckt Gott in allen Augenblicken meines Lebens. Wer Weihnachten feiert, erkennt auch den tieferen Sinn christlicher Nächstenliebe: Wenn du deinen Bruder oder deine Schwester gesehen hast, hast du Gott gesehen, sagt Clemens von Alexandrien, ein Theologe des 2. Jahrhunderts.
Vielleicht sind die Gedanken nicht so einfach geworden, wie ich es mir vorgestellt habe: dem Leben zu vertrauen, weil es einen Sinn hat. Gott ist dieser liebende Grund, und dieser Sinn ist Mensch geworden. Er begleitet mich ein Leben lang, in jedem Augenblick und an jedem Ort. Deshalb lohnt es sich, jeden Morgen aufzustehen und sich um Liebe und Zuwendung zu bemühen. Der Jesuitenpater Alfred Delp hat es im Angesicht des Todes folgendermaßen formuliert: Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt. Wer Weihnachten feiert und an die Menschwerdung Gottes glaubt, darf froher leben, tiefer glauben und ausdauernder lieben. So gibt er der Welt Sinn, denn sie ist geborgen in den liebenden Armen eines Vaters, der sich nicht zu schade war, uns seinen Sohn wehrlos auszuliefern. Weniger über Sinn reden, mehr Sinn weitergeben und Liebe und Licht schenken. Dazu ermutigt mich auch in diesem Jahr dieses großartige Fest.