Predigt in der Feier vom Leiden und Sterben Christi („Karfreitagsliturgie“) Dom zu Mainz, Karfreitag, 18. April 2025, 15.00 Uhr:Die Feindesliebe ist der Ernstfall der Liebe im Evangelium

„Das ist der König der Juden“ – in diesem Schild am Kreuz auf Golgotha ist die ganze Verachtung für diesen Jesus aus Nazareth ausgedrückt. Eine Kreuzigung kann man sich in seiner Phantasie nicht grausam genug vorstellen, und dabei dem Spott und der Verachtung ausgesetzt zu sein, war Teil des Geschehens. Für Christen ist diese jedoch die Zusammenfassung ihres Glaubens: Dieser Gekreuzigte ist der König der Juden, der Sohn Gottes, der Erlöser. Paulus fasst die Erfahrung zusammen, die wir bis heute machen können. Entweder man glaubt es und es bleibt nicht ohne Folgen für das eigene Leben, oder man hält es für Dummheit oder für ein Ärgernis. An das Kreuz oder besser an den Gekreuzigten sollte man sich nicht gewöhnen. Wie oft ist diese Szene künstlerisch dargestellt worden. Der leidende und sterbende Christus mit der Krone auf dem Haupt, die ihn als König der Welt ausweist. Und dann die offenen Arme, die die ganze Welt zu umfangen scheinen, auch mich, der ich das Kreuz betrachte. Im Lukasevangelium antwortet der Gekreuzigte auf den Hohn und die Verachtung mit der Bitte um Vergebung für seine Mörder („Vater, vergib ihnen…“), und mit dem Versprechen an den Verbrecher neben ihm, in das Paradies zu kommen. Als Jesus gefangen genommen wird und Petrus das Schwert zieht, weist Jesus ihn scharf zurecht: Lass es! Nicht weiter! Und er heilt den Soldaten, der ihn fesseln soll (Lk 22,51). Gewaltlos, vergebungsbereit, die Arme offen, in der eigenen tiefen Not ein Auge für das Heil des anderen, so wird im Lukasevangelium der sterbende König der Welt gezeichnet. Ich betrachte dieses Bild in einer Zeit, in der wir in der Kirche viel über Macht sprechen und um die Bedeutung von Macht ringen. Bischöfen wird Machterhalt vorgeworfen, andere kämpfen um Teilhabe an der Macht.
Alle Glieder der Kirche sollten sich daran erinnern, wie dieser König seine Macht ausgeübt hat. Und dass er wiederholt seine Jünger davor gewarnt hat, nicht zu sein wie die Herrscher dieser Welt, die sich über ihre Macht definieren. Gehen wir davon aus, dass Jesus das ernst gemeint hat und ernst meint: Achtet darauf, dass ihr nicht an eure eigene Macht denkt. Macht korrumpiert nicht selten den Menschen, und es ist ein Alarmsignal, wenn in der Kirche zu viel davon die Rede ist – von allen Seiten. Und wie sehr Macht derzeit das Miteinander in dieser Welt prägt, zeigt uns jeden Morgen der Blick in die Nachrichten. Jesus hatte schon vor 2000 Jahren einen guten Blick für das, was wir auch heute erleben. Er als Sohn Gottes zeigt sich am heute besonders, unvergleichlich und daher bis heute herausfordernd: Ich sehe die offenen Arme Jesu in einer Zeit der kleiner werdenden Kirche. Nicht selten nehme ich die Versuchung wahr, sich frustriert im Blick auf die scheinbar guten alten Zeiten zurückzuziehen und einzuigeln. Als Kirche müssen wir sozusagen diese offenen Arme Jesu für alle Menschen darstellen und verwirklichen. Er ist das Heil für alle Menschen. Diese Botschaft dürfen wir nicht in kleine Gruppen einschließen. Wenn der Verbrecher in das Paradies gekommen ist, darf ich auch für mich und für alle Menschen hoffen. Ich höre Jesu Gebet für seine Feinde. Die Feindesliebe ist der Ernstfall der Liebe im Evangelium. Seine Freunde zu lieben ist keine große Kunst. Aber für die Feinde zu beten, ihnen Achtung entgegenzubringen, ist der Kern der Liebesbotschaft Jesu. Als Osama bin Laden bei einem Militäreinsatz ums Leben kam, betonte der Vatikan damals, dass ein solcher Tod kein Grund zur Freude sein dürfe. Ich habe damals diese Einschätzung wiederholt, als der selbsternannte Kalif des „IS“ sich mit seinen Kindern in die Luft gesprengt hatte. Ein Grund zum Jubeln kann das nicht sein. Es gab wenige, aber mehrheitlich gehässige Kommentare im Internet dazu. Eine Person schrieb damals: „Feindesliebe kann auch krankhaft werden“. Wie ernst nehme ich Jesus am Kreuz? War er naiv? Ich glaube das nicht. Ich versetze mich in die Szene und halte ihm unsere Zeit hin mit dem vielen Hass und der zunehmenden Hetze gegen Andersdenkende und Minderheiten. Gibt es eine krankhafte Liebe? Heute diskutieren wir über die Würde des Menschen, und die Gesellschaft spaltet sich erneut. Ich bewundere Jesu Gewaltlosigkeit. Ich tue dies in einer Zeit der weltweiten Aufrüstung, des zunehmenden Waffenhandels. In diesen Monaten gedenken wir der Zerstörung vieler Städte, auch in unserem Bistum. Wir erinnern an das Ende des II. Weltkriegs, wir sehen die schrecklichen Bilder aus den Konzentrationslagern im Mai 1945. Krieg und Hass führen nie zum Segen. Wenn wir heute das Kreuz verehren, ist das etwas anderes als ein „Hofknicks“. Es ist die Bitte, etwas von diesem Gekreuzigten zu lernen. Der gekreuzigte Christus darf uns nicht gleichgültig sein. Es ist wahr: Sein Beispiel ist eine Torheit oder ein Ärgernis, wenn wir es ernst nehmen.