Predigt in der Feier der Osternacht Dom zu Mainz, Karsamstag, 19. April 2025:In dieser Nacht bekommen wir Antworten auf große Fragen

Ostern führt uns zum Wesentlichen. Oft ist es nicht so einfach, Erstrangiges von Zweitrangigem zu unterscheiden, auch in der Kirche nicht. Mancher wirft der Kirche und ihren Verantwortlichen auch vor, Fragen zu beantworten, welche die Menschen gar nicht stellen. Die alten Hauptfragen der Menschen lauten: Wo komme ich her, wo gehe ich hin, was soll ich tun, um ein gutes, glückliches Leben für mich und andere zu führen? In vielen Religionen und Weltanschauungen haben Menschen über Jahrtausende diese Fragen gestellt, und sie haben in ihrem Glauben und Nachdenken Antworten gefunden oder wenigstens zu geben versucht. Heute müssen wir feststellen, dass diese alten Fragen für viele Menschen keine Fragen mehr sind. Es genügt, die Zeit zwischen Geburt und Tod einigermaßen gut zu füllen, und was das bedeutet, will jeder Mensch für sich allein bestimmen. Das Osterfest führt in die großen Themen von Leben, Tod und Ewigkeit. Christinnen und Christen finden Antworten im Glauben an Jesus Christus, den Auferstandenen. Gibt das Osterfest heute Antworten auf Fragen, die sich niemand mehr stellt? Für mich jedenfalls bleiben die Fragen wichtig und ich bin über die österlichen, hoffnungsvollen Antworten froh. Ostern führt uns zum Wesentlichen, nämlich zur Frage nach meinem eigenen Leben, meiner Herkunft und meiner Zukunft, nach meiner Hoffnung, die mich trägt, gerade auch in den Zeiten von Ängsten und Sorgen um den Frieden, um die Zukunft dieser Erde. Christinnen und Christen denken nicht über das Leben an sich nach, sondern es geht um mich persönlich, um mein Leben, so wie um das Leben jedes einzelnen Menschen. Jeder Mensch ist unverwechselbar, einmalig, vom Anfang bis zum Ende seines Lebens. Darum wird die Kirche nicht aufhören, für das Leben in allen Phasen zu sprechen. Das Großartige in dieser Osternacht ist, dass diese Fragen nicht theoretisch diskutiert, sondern gefeiert werden. Wir erleben mit allen Sinnen: wie das Licht die Finsternis verwandelt, wir hören das Wort Gottes, das uns durch die Geschichte Gottes mit den Menschen führt. Gott zeigt sich immer als ein Gott, der treu zum Menschen steht; wir danken für unsere Taufe, die uns ewiges Leben geschenkt hat, wir feiern Eucharistie und gehen in eine tiefe Lebensgemeinschaft mit dem Auferstandenen ein.
Woher komme ich, das einzigartige Geschöpf? In einem Buch finde ich Fragen von Kindern zum Leben. Die kleine Barbara fragt ihre Großmutter: „Wo war ich, als ich noch nicht geboren war?“ „Noch nicht auf der Welt“, antwortet diese. Aber wo war ich genau, fragt das Mädchen weiter. Schließlich gibt sie sich selbst eine Antwort: Ich war in Gott versteckt. Sicher hat es eine Zeit gegeben, in der ich biologisch nicht vorhanden war, aber in Gott verborgen. Er hat mich gewollt, ich bin nicht nur eine biologische Maschine, die isst und trinkt, und eines Tages ihre Funktionen einstellen wird. Wo komme ich her? Ich komme aus der Liebe Gottes, er hat mich in die Welt hineingestellt. Darin besteht die Würde des Menschen, meine Würde, die Würde jedes Menschen, ob arm oder reich, ob gesund oder krank, ob jung oder alt, ob Einheimischer oder Fremder. Wir leben in einer Welt, in der Wert und Würde leicht im Messbaren festgemacht wird. In der Arbeitswelt, in der Bildungslandschaft, und auch in unserer Bewertung alter und kranker Menschen gilt das oft genug. Ich kann etwas leisten, also bin ich, ist die Botschaft, die immer wieder in unserer Welt zu hören ist. Ich bin geliebt, also bin ich, das ist die christliche Botschaft. Das ist die christliche Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Menschen, meiner Herkunft. Gibt es Augenblicke, in denen wir uns wertlos fühlen? Wir sollten unseren Ursprung nicht vergessen. In der Taufe, derer wir heute gedenken, hat Gott uns Würde und ewiges Leben zugesprochen: Du bist mein geliebtes Kind. Das ist der tiefste Grund dafür, dass es mich gibt. Ostern feiern wir nicht nur einmal im Jahr. Der Sonntag als Tag der Auferstehung ist in der christlichen Tradition der Tag der Schöpfung. Wenn wir den Sonntag feiern, feiern wir dieses Geschenk des Lebens, feiern wir diese unsere Herkunft aus der Liebe Gottes. Machen wir den Sonntag zum Werktag ohne Inhalt, werden wir vielleicht nach und nach auch den Blick für die eigene Würde und Größe verlieren. Jeder Sonntag ist Woche für Woche ein Tag des Lebens, ein Tag des Dankes, an dem deutlich werden soll, dass wir nicht aus Leistung heraus Würde haben, sondern als Geschöpfe Gottes, die er zum Leben berufen hat.
Wo gehe ich hin? Wir alle haben ein Verfallsdatum, hat einmal Bischof Franz Kamphaus gesagt. Der christliche Glaube schaut auf die Kraft des Lebens und der Liebe mitten im Tod. Ein altes Lied beschreibt die bittere Wirklichkeit: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Diese Erfahrung macht jeder, schon im Prozess des Älterwerdens. Ostern dreht den Gedanken um: Mitten im Tod umfängt uns das Leben. Davon berichten die Ostertexte in unglaublicher Radikalität. Der Tote lebt, das Grab ist leer. Das träumen die Jünger nicht, sondern sie werden fast mit Gewalt auf diese österliche Kraft gestoßen. Der christliche Glaube ist da sehr direkt. Es ist immer wieder erstaunlich, dass die Frauen und die Apostel Jesus nicht erkennen. Auferstehung ist keine Wiederbelebung ins irdische Leben. Der auferstandene Christus ist, so können wir mit der kleinen Barbara formulieren, „in Gott versteckt“. So wie wir aus Gott kommen, wird unser Leben auch wieder in ihm münden. Dort wird er alle Tränen abwischen. Es geht nicht um eine ewige Langeweile, sondern um eine Erfahrung endgültiger Liebe, die mich und hoffentlich „die Vielen“ umfangen wird.
Was muss ich hier tun, um gutes Leben zu finden? Das ist eine andere Frage, die sich die Menschheit seit Jahrtausenden stellt. Es gibt den Alltag, es gibt das Leid. Wir leben im Glauben, nicht im Schauen. Den Himmel auf Erden werden wir nicht finden. Und dennoch leben wir anders, wenn wir aus der österlichen Hoffnung leben, wenn wir wissen, wo wir herkommen und welches Ziel vor uns steht. Wir sind ja nicht allein auf dem Weg. Wie die Jünger damals erfahren, begleitet uns der auferstandene Christus unerkannt. Er ruft uns immer wieder beim Namen. Er berührt uns auch durch Menschen, die uns Leben geben. Er sendet uns als aufmerksame Zeuginnen und Zeugen und Wegbegleiter für andere. Wenn Christinnen und Christen heute einen Auftrag haben, dann den, Menschen in allen Lebensphasen nicht allein zu lassen, Menschen der Hoffnung zu sein. Und auf der Suche zu bleiben nach dem verborgenen Gott, der in Christus mit uns geht.
Eine Geschichte erzählt: Ein Kind kommt weinend zum Großvater und klagt: „Ich habe mich versteckt, aber meine Freunde haben mich nicht gesucht.“ Der Großvater, ein Gelehrter antwortet: „So spricht Gott, ich verstecke mich, aber keiner sucht mich.“ Die Osterevangelien sind Geschichten, die vom Verstecken und Suchen erzählen. Christus ist verborgen, aber im Menschen und in der Welt da. Wir sollten von den Jüngern im Evangelium das Suchen und Ausschauhalten lernen. Und wenn viele Menschen heute nicht mehr suchen und fragen, nach Gott und dem Leben, sollten wir stellvertretend die Augen aufhalten und die Hoffnung wachhalten in dieser Welt, die so sehr geliebt wird, dass Gott seinen Sohn hingab, in den Tod, ihn aber zum Leben auferweckte, damit wir alle leben können. In dieser Nacht bekommen wir Antworten auf große Fragen. Wir feiern das Leben, zu dem wir berufen sind, und das wir bezeugen und weiterschenken dürfen.