Predigt im Pontifikalamt zum Gründonnerstag, Hoher Dom zu Mainz, 17. April 2025, 19.00 Uhr :Jesus hat Angst, so wie wir oft Angst haben

Am Abend vor seinem Leiden feiert Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl. Dabei erinnert er an Gottes große Taten in der Geschichte seines Volkes. Er verschenkt sich denen, die ihm nachfolgen, in den Gestalten von Brot und Wein, in denen er immer bei ihnen bleiben wird. Er spricht dann von dem, was kommen wird, vom Verrat und der Feigheit seiner Freunde. In der Nacht werden wir ihn im Garten sehen, wo er vor Angst Blut schwitzt. Jesus hat offenbar auch Angst. In dieser Angst ist er vielen Menschen nahe.
Eine der für mich eindrucksvollsten Texte findet sich im 5. Kapitel des Hebräerbriefs: „Er (Jesus) hat in den Tagen seines irdischen Lebens mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört worden aufgrund seiner Gottesfurcht. Obwohl er der Sohn war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt.“ (5,7f.).
Der Text ist schon aus der Erfahrung von Ostern, der Auferweckung Jesu, geschrieben. Am heutigen Abend erlebt Jesus noch nicht seine Rettung, sondern heute Abend erleben wir seine Tränen, seine Bitten, seine Angst, das Gefühl der Verlassenheit. Bereits die frühen Christengemeinden staunen darüber, dass Jesus diesen Weg vieler Menschen mitgegangen ist und tatsächlich den Weg der Angst, des Leidens und des Todes bis zum Letzten mitgegangen ist.
Jesus hat Angst, so wie wir oft Angst haben. Und da kommt nicht einfach das Licht vom Himmel, das alles in ein schönes, tröstliches Licht taucht. Angst gibt es im persönlichen Leben, Angst vor Krankheit und Sterben, Angst vor Einsamkeit, Angst vor Verlusten und Veränderungen, Angst vor Bedrohungen vieler Art. Angst ist ein Zeitgefühl, Angst vor Krieg und dem Ausgeliefertsein gegenüber manchen Entwicklungen, die man kaum beeinflussen zu können scheint. Angst hat mit Enge zu tun, dem Gefühl, nicht mehr handeln zu können, nicht mehr atmen zu können, dass das Leben außer Kontrolle gerät.
Ich stelle mir vor, dass auch Jesus an diesem Abend regelrecht nach Luft rang, im Garten, am Tag vor seinem Leiden, das sich abzeichnet. Im schlimmsten Fall ist jemand durch Angst gelähmt. Was tut Jesus? Er schafft es, sich nicht nur um sich selbst zu drehen. Das beeindruckt mich immer wieder. Er weiß, was kommt, und gerade in dieser Situation öffnet er sich für die anderen. Er schenkt sich ihnen. Damit hört er auf, sein Leiden als blindes sinnloses Schicksal zu deuten. Er verwandelt Brot und Wein in seinen hingegebenen Leib und sein vergossenes Blut. Und er sucht Gemeinschaft mit seinen Freunden an diesem Abend. Nach Ostern wird er diese Gemeinschaft mit den Frauen und Männern in seiner Nachfolge erneuern und verewigen.
Ich habe in meiner Zeit als Priester und Seelsorger viele beeindruckende Menschen kennengelernt. Nicht wenige hatten viel Leid zu tragen. Ich denke manchmal zurück an eine Frau aus meinen ersten Priesterjahren, der ich monatlich die hl. Kommunion nach Hause brachte. Schon lange war sie bettlägerig. Ich kann nur sagen, dass sie eine derartige Freundlichkeit ausstrahlte, dass ich immer froher weggegangen bin, als ich gekommen war. Auf ihre Art hat sie es geschafft, sich nicht in ihrem Leid und ihrer Krankheit zu vergraben, sondern Freude zu verbreiten. Jedes Leben ist einzigartig, ich will sie nicht einfach mit Jesus und seinem Umgang mit dem Leiden vergleichen. Aber ihre Freundlichkeit kam aus einem tiefen Glauben. Ein wenig hat auch sie sich selbst verschenkt.
Ich denke an eine andere Person, die viel Leid erfahren hat, sie hatte Kinder verloren, schließlich auch ihren Gatten. Ich traf sie in der Kirche immer wieder, man merkte ihr die Traurigkeit an. Aber man merkte ihr auch einen tiefen Glauben an, dass es sich lohnt, weiterzugehen.
Solche Menschen haben auch mich immer wieder gestärkt, es gibt sie auch heute. Menschen, die sich von Angst nicht würgen lassen, die sich nicht im eigenen vergraben, sondern weitergeben, was sie trägt, auch ihre Fragen, ihre Zweifel, aber eben auch ihre Hoffnungen. Am Ende geben viele nicht etwas, sondern sich selbst. Das bringt uns in die Nähe Jesu.
Ich erschrecke manchmal vor den banalen Antworten, wenn Menschen kundtun, die Frage nach dem Leben, dem Sterben, die Frage nach Gott bewege sie keinesfalls. Sich die Frage zu stellen, wo denn in meinen Ängsten und in den Ängsten und Sorgen anderer Gott vorkomme, ist die anspruchsvollere Aufgabe und die Frage, deren Beantwortung nicht leicht ist.
Jesus bricht seine Angst auf, indem er sich den Menschen und ihren Themen öffnet und sich ihnen schenkt. Ich kann mich von Angst würgen lassen und mich auf mich und meine Themen zurückziehen. Jesu Weg scheint mir der hoffnungsvollere zu sein. Wer sich geben kann, gewinnt. Jesus öffnet sich auf für den Willen des Vaters.
„Was Gott tut, das ist wohlgetan“ – so singen wir in einem Kirchenlied. Das singt sich leichter, als es wirklich zu glauben. Gott ist auch für Jesus an diesem Abend nicht nur der liebende Vater, sondern auch der große Unbekannte. Kann man das so sagen? Ich glaube, dass Jesus auch hier vielen Menschen heute nahe ist. Am Ende betet er so, wie er es uns im „Vater unser“ gelehrt hat: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.“ Wenn dies mehr ist als eine Gebetsformel, ist das der tiefste Ausdruck des Vertrauens in diesen Gott, der auch durch das Tal des Todes trägt. Jesus musste Gehorsam lernen, so sagt der Hebräerbrief.
Anders als Antworten der Tradition manchmal sagen, ist es vielleicht gar nicht der Wille des Vaters, der das Leiden des Sohnes fordert. Diese Vorstellung macht vielen zu Recht Bauchschmerzen. Vielleicht ist es die Erkenntnis Jesu des Sohnes, dass er nun diesen Weg gehen muss, und er erkennt, dass der Vater dabei ist und ihn nicht verlässt.
Wir wissen es nicht, wir sehen Jesu Angst, seine Hingabe an die Menschen und an Gott, seinen Vater. Jesus lässt sich von der Angst nicht würgen, nicht lähmen. Ich weiß nicht, ob mir das in einer schlimmen Situation gelingen wird. Aber ich bete nicht nur heute darum. Dass mich Angst nie lähmen wird, dass ich mich nicht in mich selbst zurückziehe, sondern dass ich Knoten lösen kann durch die Hinwendung zu anderen und dadurch, dass ich mich in Gottes Hände gebe.
Zum heiligen Jahr der Hoffnung hat das Bistum Mainz einen Kartensatz herausgegeben unter dem Motto: Hoffnungsvoll. Dort findet sich eine Karte unter dem Stichwort Trost. Und zitiert ist ein Satz aus dem Johannesevangelium, aus den Abschiedsreden Jesu: „Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet bekümmert sein, aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln.“ (Joh 16,20). Heute Abend erleben wir die Angst und die Klage Jesu, aber wir erleben auch die österliche Vorahnung: Wer sich hinschenkt, wird das Leben gewinnen. Wir sind heute eingeladen, uns in dieses Vertrauen und diese große Hoffnung hineinzugeben, auch mit unseren Ängsten und Fragen. Ich will von Jesus lernen, in meiner Angst nicht selbstbezogen zu werden, sondern offen zu bleiben für die Menschen, die mich brauchen und offen für Gott, der mich und uns trägt.