Predigt von Bischof Peter Kohlgraf in der Christmette im Dom zu Mainz am 24. Dezember 2025:Weihnachten ist kein Märchen

Dazu gibt er uns sogar historische Zeitangaben: Kaiser Augustus und der Statthalter Quirinius helfen, das Geschehen genau einzuordnen. Historikerinnen und Historiker haben hier zwar Unschärfen entdeckt, aber das ändert wohl nichts daran, dass Weihnachten ein konkretes historisches Geschehen feiert. Gerade heute, in einer Zeit, in der Desinformationen und Fake News vermeintlich wahre Erzählungen in Umlauf bringen und gezielt Ängste oder andere Emotionen bedienen, gewinnt dieser Hinweis auf die historische Relevanz des Evangeliums eine besondere Bedeutung.
Als der heilige Franz von Assisi im 13. Jahrhundert eine lebendige Krippe in Grecchio nachstellte (es war das erste Mal), war ihm besonders wichtig, den Glauben zu bekennen, dass Gott konkret erfahrbar in diese Welt kommt. Dazu legte er ein echtes Kind in die Krippe, er besorgte echte Tiere, Schafe, Ochs und Esel. Es war gewollt, dass es dort laut ist, dass dort Leben herrscht, dass die Tiere und die Menschen sich lautstark zu Wort melden. Und die Tiere sollten auch den entsprechenden Stallgeruch mitbringen. Es ging darum, zu erleben, was damals wirklich geschehen ist. Und die Menschen, die am Gottesdienst teilnahmen, waren nicht unbeteiligte Zuschauerinnen und Zuschauer, sondern sie waren plötzlich Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von Maria und Josef, den Hirten, den Tieren. Sie waren Akteurinnen und Akteure des Geschehens von Bethlehem. Aus diesem Grund bauen wir Krippen – nicht als bloße, liebliche Erinnerung, sondern weil wir zu diesem Geschehen hinzutreten, das plötzlich Teil unserer Welt wird. Gott wird Mensch mitten in unserer Wirklichkeit.
Die Tiere an der Krippe stehen nicht zufällig dort. Sie sind gewissermaßen die ersten Zeugen des Geschehens in Bethlehem. Lukas erzählt von den Hirten und ihren Herden, die auf den Feldern von Bethlehem wachten und als Erste die Botschaft der Engel hörten. Auch dieser Hinweis erfolgt nicht zufällig. Dies zeigt von Beginn an, dass der Platz Jesu bei den Menschen am Rande ist. Sie sind die Ersten, die ihn sehen und als ihren Retter bekennen. Bis heute ist es weltweit wohl so, dass sich besonders die Kleinen bei ihm an der Krippe oder am Kreuz geborgen wissen.
In Deutschland ist es anders. Umfragen der letzten Jahre zeigen, dass sich besonders die Armen längst von unseren Gemeinden, von der Kirche abgewandt haben. Es ist gut, dass Papst Leo uns in seinem ersten großen Schreiben daran erinnert, dass unser Platz bei den Menschen am Rande ist und wir hinausgehen müssen:
„Die Lebenssituation der Armen ist ein Schrei, der in der Geschichte der Menschheit unser eigenes Leben, unsere Gesellschaften, die politischen und wirtschaftlichen Systeme und nicht zuletzt auch die Kirche beständig hinterfragt. Im verwundeten Gesicht der Armen sehen wir das Leiden der Unschuldigen und damit das Leiden Christi selbst. Zugleich sollten wir vielleicht besser von den vielen Gesichtern der Armen und der Armut sprechen, weil es sich um eine facettenreiche Problematik handelt. Es gibt nämlich viele Formen der Armut: die derjenigen, denen es materiell am Lebensnotwendigen fehlt, die Armut derer, die sozial ausgegrenzt sind und keine Mittel haben, um ihrer Würde und ihren Fähigkeiten Ausdruck zu verleihen, die moralische und geistliche Armut, die kulturelle Armut, die Armut derjenigen, die sich in einer Situation persönlicher oder sozialer Schwäche oder Fragilität befinden, die Armut derer, die keine Rechte, keinen Raum und keine Freiheit haben. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Engagement für die Armen und für die Beseitigung der sozialen und strukturellen Ursachen der Armut in den vergangenen Jahrzehnten zwar an Bedeutung gewonnen hat, aber nach wie vor unzureichend bleibt.“ (DT 9f.)
Wir versuchen im Bistum Mainz, nicht nur äußere Strukturen zu verändern und anzupassen, sondern wir bemühen uns seit Jahren, die caritative Sorge um die Armen und die vielfältige Not und die anderen kirchlichen Aufgaben zusammen zu sehen. Manchmal erlebe ich wirklich gelungene Beispiele, so dass man sagen kann, dass es wirkliche Orte der Menschwerdung auch in unserem Bistum gibt. Die Hirten und die Schafe haben aber noch eine andere Botschaft. Der Bibelkundige erinnert sich an König David, der selbst Hirte war und von den Schafen weggeholt wird, um zum König gesalbt zu werden. Die Szene mit den Hirten und den Schafen erweist Jesus als den eigentlichen König, den Hirten des Volkes Israels. Es ist Christus, der Herr, erläutern die Engel den Hirten. Es ist fast eine humorvolle Szene, wenn dem großen Kaiser Augustus der kleine, machtlose Messiaskönig gegenübergestellt wird: „Bilde dir mal nichts auf deine Größe ein, hier ist der wahre König“ könnte man das Evangelium übersetzen. Schon von Beginn an zeigt sich eine entscheidende Botschaft: So wird der Messias Macht ausüben – und dieses Programm führt ihn bis ans Kreuz. Für uns bedeutet das: Wir müssen uns vor diesem Kind nicht groß machen. Der Glaube an den einen Herrn, der klein und verletzlich zur Welt kommt, lädt uns ein, uns selbst zurückzunehmen. Darin liegt eine befreiende weihnachtliche Botschaft.
Wir sollten zu den Tieren an der Krippe kommen. Die Schafe sind eine lebendige Predigt, dort an der Krippe. Denn sie weisen hin auf das Schicksal Jesu selbst, der Lamm Gottes ist, der am Ende hingegeben wird. Als der heilige Franziskus die lebendige Krippe zusammenstellt, lässt er dort die Eucharistie feiern: das Gedächtnis seiner Hingabe. Da dürfen die Schafe nicht fehlen. Sie sind ein tiefes Glaubensbekenntnis zu diesem gewaltlosen Messias in der Krippe.
Auch Ochse und Esel sind nicht zufällig an der Krippe. Es sind Tiere, die man leicht gering schätzt. Doch schon der Prophet Jesaja sagt: „Ochs und Esel erkennen die Krippe ihres Herrn (Jes 1,3)“ – im Gegensatz zu den Menschen, die ihn nicht erkennen. Der heilige Franziskus liebte den Esel besonders. Er nannte seinen eigenen Körper einmal „Bruder Esel“, weil dieser ihn treu durch das Leben getragen hatte. Der Esel war wohl das meistgeschlagene Arbeitstier seiner Zeit: langsam, widerstandsfähig, den harten Böden angepasst und unfähig, in Stress einfach wegzulaufen – er bleibt stehen, trotzig und geduldig zugleich. Vielleicht hat Jesus selbst zu diesem Tier eine besondere Nähe verspürt. In gewisser Weise sind beide Schicksalsgenossen. Die am meisten Geprügelten, die nur als Arbeitstiere gehalten werden, erkennen ihn, während die Großen und Klugen es nicht tun. Wie sehr hat sich das später im Leben Jesu in Galiläa und Judäa bewahrheitet! Später reitet Jesus nicht auf einem Schlachtross, sondern auf dem Esel nach Jerusalem ein. Wenn ich Ochs und Esel betrachte, sehe ich die Einladung, zu ihm zu kommen, wenn ich mühselig und beladen bin. Er wird mich verstehen in meinen alltäglichen Sorgen.
Wer zum Stall kommt, muss den Geruch der Tiere annehmen. „Der Hirte muss beginnen, nach Schaf zu riechen”, hat Papst Franziskus einmal gesagt. Damit war der Wunsch verbunden, dass diejenigen, die sich in der Kirche als Hirten bezeichnen, den Kontakt zu den Menschen nicht verlieren. Heute könnte man sagen: Wir müssen alle ein wenig nach Stall riechen, wenn wir uns Christus nähern. Nach den Tieren, die ein Glaubenszeugnis über ihn ablegen: die Schafe, die sich hingeben, der Esel, der lernt, Lasten für andere zu tragen, ohne die Bodenhaftung zu verlieren, dem es nicht um Schnelligkeit geht. Von dem Kind in der Krippe lernen, heißt zu glauben und zu leben: Das Leben wird reicher, wenn man es hingibt; es verkümmert, wenn man sich isoliert und nur an sich selbst denkt. Heute sind wir nicht Zuschauerinnen und Zuschauer, sondern Zeugeninnen und Zeugen und auch Akteurinnen und Akteure.
Auch heute ist Weihnachten kein Märchen. Nicht: „Es war einmal“, sondern „In jener Zeit“ – und „Heute“. Gott berührt die Welt. In jener Zeit, d.h. hier und heute. Sobald wir an die Krippe treten, müssen wir damit rechnen, dass er uns fragt, wo wir unseren Platz sehen. Die Krippen sind nicht nur schöne Idyllen, sie sind Glaubenszeugnisse und sie sind Anfragen an uns.
Es gilt das gesprochene Wort.