Weil Gott ewig ist, sollen auch seine Kinder ewig leben. Er allein kennt jeden Abgrund des menschlichen Herzens. Er selbst hat gerichtet und wird richten, Gerechtigkeit schaffen, Barmherzigkeit üben, und jeder einzelnen Lebensgeschichte gerecht werden. Das ist für mich ein ganz starkes Gottesbild, das ich heute bekenne und feiere.
Allerseelen – jeder und jede denkt heute an persönliche Verwandte und Bekannte, die verstorben sind. Im Dom beten wir besonders für die verstorbenen Bischöfe und Priester des Domstifts. Angesichts mancher Debatten, die wir in den letzten Jahren führen mussten, möchte ich daran erinnern, dass gerade das Gebet am Allerseelentag keine individuelle Ehrung oder gar Heiligsprechung bedeutet. Im Gegenteil: Wir halten daran fest, dass am Ende nur Gott selbst der Richter über das Leben eines Menschen sein wird, dass er Gerechtigkeit schaffen und das Ganze eines Lebens in sein Licht stellen wird. Wir beten für die Toten, die alle ihre Einmaligkeit, ihre Licht- und Schattenseiten in den Augen Gottes haben, er allein kennt sie ganz. Das müssen wir uns heute bewusst machen.
Allerseelen – wir beten für alle Menschen, die verstorben sind. Das ist nun wirklich eine große Dimension. Der Theologe Gottfried Bachl, in Salzburg habe ich als Student ein Jahr seine Vorlesungen gehört, hat es so beschrieben: „Wir leben auf einer riesigen Nekropole“ – d.h. Totenstadt. Die Erde ist ein riesiger Friedhof. Der Dichter Conrad Ferdinand Meyer hat es so ausgedrückt: „Wir Toten, wir Toten sind größere Heere, als ihr auf der Erde, als ihr auf dem Meere.“[1] Allein die Zahlen der aktuellen Konfliktherde sprengen die Vorstellungskraft. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine forderte schätzungsweise 200.000 Tote auf russischer und 80.000 Tote auf ukrainischer Seite. Das sind mehr als die Stadt Mainz Einwohnende hat. Wenn wir lesen, dass Nordkorea weitere Soldaten zur Verfügung stellt und die Ukraine über die Rekrutierung junger Männer nachdenkt, werden wir am Ende von Hunderttausenden Toten eines völlig sinnlosen Angriffskrieges sprechen. Jeder Mensch ist eine eigene Welt, eine eigene Persönlichkeit, dem Wahnsinn der Gewalt geopfert. Zahlen in Gaza lassen uns ebenso sprachlos und ratlos werden.
In diesem Jahr war ich mit einer Gruppe von pax christi in Auschwitz und Birkenau: 1,5 Millionen Tote, jeder und jede eine Welt für sich. Im August waren wir mit einigen Vertretern von pax christi in Maillé in Frankreich, wo am 25. August 1944 142 Menschen, darunter 48 Kinder ermordet wurden. Das sind Zahlen, die ich persönlich kaum verarbeiten kann. Es geht immer um einzelne Menschen mit ihrem Charakter, ihrem Leben, ihrer Welt, ihrem Glück und ihren Hoffnungen.
Seit Anbeginn der Menschheit reden wir vielleicht über 70 Milliarden Menschen, die gestorben sind, Ebenbilder Gottes, seine Geschöpfe. Diese Zahlen überfordern mich, auch an diesem Gedenktag. Die Hoffnung und den Glauben habe ich: sie alle sind in Gottes Blick. Weil Gott ewig ist, sollen auch seine Kinder ewig leben. Er allein kennt jeden Abgrund des menschlichen Herzens. Er selbst hat gerichtet und wird richten, Gerechtigkeit schaffen, Barmherzigkeit üben, und jeder einzelnen Lebensgeschichte gerecht werden. Das ist für mich ein ganz starkes Gottesbild, das ich heute bekenne und feiere. Wir dürfen nie vergessen: Jeder Mensch hat seine eigene Würde, die unveräußerlich ist. Bei allen großen Zahlen und Statistiken ist jeder Mensch eine eigene Welt, ein eigener Kosmos. In der jüdischen Tradition erinnert man daran: Wer einen Menschen rettet, rettet eine ganze Welt. Mit jedem sterbenden Menschen geht aber auch eine ganze Welt zugrunde. Auch wir werden unsere Welt mit ins Grab nehmen, und ich glaube, dass Gott, der Himmel und Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare geschaffen hat, alle diese Welten mitnehmen wird in seine große Welt, die wir Himmel nennen. Diese Hoffnung trägt mich. Wir reden über berühmte Menschen, die im Gedächtnis vieler sind, und die Geschichte geschrieben haben. Wir reden aber auch über Alltagsmenschen. Wir reden über Gute und Böse, Sünder und Heilige, Verbrecher und Vorbilder. Vor Gott gelten irdische Bedeutung und historische Verdienste nur wenig. Entscheidend wird sein, wieviel Liebe jemand zu schenken bereit war. Das ist für mich jedes Jahr der wichtigste Impuls aus dem Allerseelentag.
An Allerseelen denken wir an alle Verstorbenen. Vielleicht haben manche von uns auch Verstorbene im Herzen, wo eine Versöhnung unmöglich bleibt. Am Ende werde ich sie Gott anvertrauen müssen, dem ich zutraue, dass er ein gerechtes Urteil über ihr Leben fallen wird, dass sie sich in der Begegnung mit ihm ihrer Schuld werden stellen müssen. Diese Menschen gibt es auch in meinem Leben. Für mich ist es gut, dass ich nicht ihr Richter sein muss. Ich könnte es nicht und will es nicht sein. Heute gedenken wir aller „Seelen“ – eine Überforderung für jeden und jede einzelne von uns. Wir nehmen unsere persönlichen Toten ins Gedenken und in das Gebet. Und ich will Gottfried Bachl, den Theologen zitieren: „Kein Christ, der diesen Tag wirklich versteht, kann behaupten, dass er die Aufmerksamkeit für alle zusammenbringt. Er macht vielmehr einen Sprung, weg aus seiner natürlichen Ohnmacht hin in das Gedächtnis Gottes. Er will alle dort wissen, nicht nur die [eigene] selbstverständliche Auswahl. Er glaubt, bei Gott sei die Wahrnehmung der einzelnen und der ganzen Zahl der Toten möglich.“[2] Es gehört für mich zum Kern meines Glaubens, dass Gott, der Schöpfer, an alle seine Geschöpfe denkt. Wir begleiten Sie heute alle im Gebet. Vielleicht ist es auch eine Überwindung zu hoffen, dass es am Ende eine Versöhnung aller Menschen geben kann. Vielleicht tragen Menschen zu starke Wunden mit sich, die andere ihnen zugefügt haben. Versöhnung wird wohl am Ende nicht heißen: alles halb so schlimm. Es geht um die Fähigkeit Gottes, jedes Leben einzuordnen und im Ganzen zu sehen. Freunde und Feinde muss ich letztlich in seine Hände geben. Diktatoren und Mörder werden Verantwortung übernehmen müssen, wobei ich hier an die Grenzen meines Vorstellungsvermögens komme. Die billige Gnade, die alles überdeckt, wird es sicher nicht geben. Er wird wissen, was dem einzelnen Menschen gerecht wird. Das feiere ich am heutigen Tag. Und am Ende wird er auch mein Leben beurteilen, das Gute oder Schlechte, das ich getan habe. Ich kann mich jeden Tag seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit anvertrauen.
[1] Dazu: Das flüchtige Nu des Lebens. Ein Gottfried Bachl Lesebuch, Innsbruck 2024, 146-148.
[2] S. 148.