Alles hat zu seiner Zeit seine eigene Schönheit und seinen eigenen Sinn, der für uns Menschen nicht immer erkennbar ist

Predigt im Rahmen des Profanierungsgottesdienstes von St. Paulus Ingelheim-West

Paulus_Glocke.jpg.jpg_1047686145 (c) KKI
Datum:
Sa. 20. Jan. 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Niemand von uns hatte Einfluss auf die Wahl der Zeit, in die wir gemeinsam hineingestellt sind. Das merke ich als Bischof, das merken wir wohl alle auch im Hinblick auf die kirchlichen Entwicklungen. Die Errichtung der Kirche St. Paulus fand in einer Phase statt, in der man durch Kirchenbauten wohl die Veränderungen in der Liturgie ausdrücken wollte, die durch das II. Vatikanische Konzil angestoßen wurden. Diese Kirche ist ein Ausdruck eines erneuerten Verständnisses der Liturgie. Es waren Jahre des inneren und äußeren Aufbruchs.

Wenn man ehrlich zurückschaut, muss man jedoch zugeben, dass man in Kirche und Gesellschaft bestimmte Seiten der Wirklichkeit nicht wahrnehmen wollte. In den 80er Jahren bekundeten noch über 61% Vertrauen in ihre katholische Kirche, während es im Jahr 2022 nur noch 9% sind. Die Gründe sind sicher vielfältig, dennoch stehen auch die schrecklichen Tatsachen des Missbrauchs dahinter, die seit Jahren ans Licht gekommen sind. Die Konsequenzen der Kirchenaustrittszahlen sind offensichtlich: Unsere Kirche wird kleiner. Die sogenannte Säkularisierung ist allerdings schon seit den 60er Jahren ein Thema. Heute sollte die Kirche anerkennen, dass sich in Deutschland weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung weder als religiös noch als kirchlich bezeichnet. Auch wenn bestimmte Angebote der Kirche weiterhin eine hohe Bedeutung für die Gesellschaft haben, ist es für viele Menschen nicht notwendig, Religion und Kirche in ihrem Leben eine Bedeutung zukommen zu lassen.

Wir könnten versucht sein, mit Wehmut in eine scheinbar gute alte Zeit zurückzuschauen. Für viele von uns waren die Jahre ihrer Kindheit und Jugend, für die auch dieser Kirchenraum stehen mag, gute Jahre, verbunden mit guten Erfahrungen von Kirche und Gemeinschaft. Deswegen löst ein Abschied wie heute auch Trauer aus, niemand trifft eine derartige Entscheidung leichtfertig. Dennoch beginnt der Prozess der inneren Distanzierung von Kirche nicht erst heute. Die absteigende Kurve der Kirchlichkeit ist seit einigen Jahren zu beobachten. Wirksam reagiert hat man darauf meiner Erfahrung nach nicht. Und als Bischof muss ich auch feststellen, dass ein Großteil der schlimmen Probleme, die ich heute auf dem Tisch habe, gerade Themen dieser scheinbar so guten Jahre sind. Wir sind in umwälzenden Veränderungsprozessen, in Kirche und Gesellschaft. Die Augen verschließen und so zu handeln, als gäbe es diese qualitativen und quantitativen Veränderungsprozesse nicht, ist keine Lösung.

Ich will es so formulieren: wir werden heute gehalten, uns ehrlich zu machen. Heute ist ein derartiger schmerzlicher Einschnitt zu begehen, wobei hier keine Bauruine stehen wird, sondern es entsteht ein Ort kirchlichen Lebens, der Kindern und Familien eine Heimat geben will. Für manche von Ihnen wird es dadurch nicht leichter, aber der heutige Einschnitt bedeutet nicht den Rückzug der Kirche aus diesem Ort und dieser Gesellschaft. Er markiert eine sich wandelnde Präsenz. Vor Jahrzehnten hat ein Mainzer Bischof diese Kirche geweiht, heute muss ich mit Ihnen die Profanierung der Kirche gestalten. Die Gremien haben sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich weiß um die Konflikte und auch um die Verletzungen, die viele davongetragen haben. Ich lade Sie ein, heute den Blick nach vorne zu richten. Ich nehme auch wahr, wie viele sich in dieser neuen Pfarrei für das kirchliche Leben, für den Glauben und die Gemeinschaft einsetzen. Vor ein paar Tagen haben wir den Gründungsgottesdienst der neuen Pfarrei gefeiert. Heute gehen wir gemeinsam einen Schritt, der zeigt, welche Konsequenzen es hat, sich der Realität zu stellen. Niemand geht als Verlierer vom Platz, wenn wir Trauer zulassen, aber gemeinsam in die Zukunft schauen und sie gestalten wollen. Ich bitte Sie herzlich, dies gemeinsam zu tun.

Wie oft habe ich in Gottesdiensten den Text aus dem 3. Kapitel des Buches Kohelet gehört, und ihn als schönen, tröstenden Text empfunden. Sie kennen ihn sicher auch:

3,1 Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: 2 eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, / eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen, 3 eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen, / eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen, 4 eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz; 5 eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit zum Steinesammeln, / eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, 6 eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum Verlieren, / eine Zeit zum Behalten/ und eine Zeit zum Wegwerfen, 7 eine Zeit zum Zerreißen/ und eine Zeit zum Zusammennähen, / eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden, 8 eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen, / eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden. 9 Wenn jemand etwas tut - welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt? 10 Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht. 11 Das alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit. Überdies hat er die Ewigkeit in ihr Herz hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte.

Dieser alttestamentliche Weisheitstext beschreibt eine Lebenserfahrung, die viele Menschen teilen. Im Leben gibt es verschiedene Phasen, Höhen und Tiefen, die letztlich niemand wegdiskutieren kann. Heute ist die Zeit der Veränderung, auch des Aufgebens, des Abschiednehmens, für manche auch der Trauer, des Verlierens und auch des Sterbenlassens. Es ist eine für mich wichtige Glaubensaussage, die Kohelet formuliert: Alles hat zu seiner Zeit seine eigene Schönheit und seinen eigenen Sinn, der für uns Menschen nicht immer erkennbar ist. Die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen sind begrenzt, das gilt für Sie hier vor Ort, das gilt auch für mich als Bischof, der sich selbst immer daran erinnern muss, dass auch diese Zeit, in der wir leben, Gottes Zeit ist, die er begleitet, in die er mich und uns gestellt hat. Kohelet erinnert uns gelassen an die Grenzen menschlicher Handlungsmöglichkeiten, früher und heute. Wir dürfen auch heute demütig sein.1 Denn Kohelet warnt vor Machbarkeitsdenken, auch in der Kirche. Wir retten die Kirche nicht, wir können es nicht, wir müssen es nicht. Die Zeit ist Gottes Zeit, die Kirche bleibt seine Kirche. Kohelet selbst zeigt sich als König, der sich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten gestalten wollte, aber dem „Ansturm der Realität“ nicht standhalten konnte. Weder der Bischof noch wir alle sind Herren und Herrinnen dieser Zeit. Dennoch sieht Kohelet diese Zeit als sinnvoll an, weil Gott sie mit Sinn erfüllt. Sinnlos wird die Zeit für den, der sich der Wirklichkeit entzieht, um gegen sie etwas ausrichten zu wollen. So darf der Pastorale Weg kein Aktionismus werden, sondern eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit als der Zeit Gottes, in die er uns gestellt hat. Dabei werden immer wieder auch Konflikte aufkommen, wir werden ringen müssen. Niemand von uns hat den unfehlbaren Blick auf die Gegenwart und ihre Deutung. Daher ringen wir um gemeinsame Entscheidungen. Wer sich darin nicht wiederfindet, darf sich nicht als Verlierer fühlen, wessen Meinung sich durchsetzt, nicht als Gewinner. Wir reden nicht über Gegner, schon gar nicht über Feinde. Auch Kohelet muss lernen, den „Macher“ aufzugeben und sich als Mitarbeiter Gottes zu verstehen auch dort, wo er anders entschieden hätte. Jeder und jede muss lernen, die menschlichen Grenzen des Handelns und Entscheidens zu akzeptieren, auch ich als Bischof. Wir stehen in einem Ansturm der Realität, der uns manchmal zu überfordern scheint. Mit Gottes Hilfe gehen wir in eine andere Gestalt der Kirche und wir bauen auf seine Gegenwart. Diese Wege können wir nur gemeinsam gehen. Um dieses gegenseitige Vertrauen kann ich nur werben und dankbar wahrnehmen, dass dies uns vielfach gelingt. Der Geist Gottes hat uns nicht verlassen. Wir sind sein Bau, sein Tempel aus lebendigen Steinen. Lassen wir uns auch in Zukunft zu einem geistlichen Haus aufbauen, das seine Gegenwart in diese Welt strahlt.

 

1Ludger Schwienhorst-Schönberger, Kohelet = HThKAT, Freiburg, Basel, Wien, 2004, 248ff.