Der alte Mensch wird in der Heiligen Schrift hoch geschätzt. Ein hohes Alter ist Ausdruck göttlichen Segens. In den Patriarchen begegnen uns Menschen, die noch im hohen Alter von Gott in eine neue Zukunft geschickt werden: Abraham ist schon alt, als er berufen wird, er und seine Nachkommen Isaak und Jakob sterben mit 180 bzw. 147 Jahren. Das sind symbolische Aussagen: diese Menschen sind wirklich von Gott gesegnet, auch der alte Mensch erfreut sich einer gesegneten Zukunft, wenn er mit Gottes Verheißung unterwegs ist. In der Bibel wird die Erfahrung weitergegeben, dass der alte Mensch weise ist, und eine Gesellschaft gut beraten ist, auf seine Lebenserfahrungen zurückzugreifen. Die Jüngeren schulden den Älteren Respekt, Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Sie sind diejenigen, die die Werteordnung einer Gesellschaft aufgebaut haben, von der die Jungen profitieren. Ehrfurcht und Respekt lassen auch dann nicht nach, wenn die körperlichen und psychischen Schwächen einsetzen, die zwangsläufig zum Älterwerden gehören. Den Menschen, die zunehmend Hilfe brauchen, schuldet die Gesellschaft Unterstützung und Wertschätzung, und sie muss alles tun, damit ein menschenwürdiges Leben möglich bleibt. Was aber das Wichtigste zu sein scheint: die alten Menschen nehmen auch in ihrer zunehmenden Schwäche am gesellschaftlichen Leben teil, sie sind keine Belastung, sondern Reichtum und Ressource, würden wir heute sagen. Eine Gefahr der Vereinsamung und der Ausgrenzung hätte wohl zu biblischen Zeiten nicht bestanden.
Das Thema der Situation alter Menschen in der Gesellschaft wird uns zunehmend beschäftigen. Im Jahr 2030 werden knapp 30% der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. 2060 wird ein Drittel der Bevölkerung im Rentenalter sein. Auch der Anteil der Menschen über 85 wird steigen, die Politik steht nicht nur vor dem Problem, die Rentenfrage zu bearbeiten und zu guten Lösungen zu führen, sondern vielleicht mindestens genauso schwierig die Frage des Wohnens und schließlich auch die Problematik der Pflege, die ja heute schon ein schwieriges Thema ist. Wer das lösen muss, ist nicht zu beneiden. Auch die Predigt eines Bischofs hilft hier wohl nicht konkret weiter. Was die christliche Botschaft leisten kann, ist jedoch nicht zu unterschätzen.
- Die Würde eines Menschen bewusst machen unabhängig von Leistung und Geschwindigkeit
Wer ist alt? In einer Befragung von Menschen haben Wissenschaftler vor einigen Jahren einmal die Bilder untersucht, die Menschen im Kopf haben, wenn sie von Alter sprechen. Alt sind in der Regel die anderen. Wir haben heute tatsächlich viele alte Menschen, die sehr mobil sind, die voll im Leben stehen, die in vielen Fragen vorangehen, und sowohl finanziell als auch gesundheitlich in der Lage sind, die Möglichkeiten ihres Lebens voll auszuschöpfen. Das ist eine gute Entwicklung, über die wir uns freuen dürfen. Manche dieser Menschen sehen sich nicht als „die Alten“, und das müssen sie auch nicht. Dennoch bleibt dann die Frage, was mit denen ist, die dies alles nicht können: weil sie krank sind, hilfebedürftig, pflegeabhängig und ggfls. auch finanziell an der Grenze, so dass sie diese guten Möglichkeiten der anderen nicht haben. Was ist das Leitbild eines guten Lebens? Ich glaube, dass die Kirche immer wieder in den Mittelpunkt stellen muss, dass nicht nur die Schnellen und die Reichen das Tempo vorgeben, sondern dass auch in Situationen, in denen einen Mensch hilfebedürftig ist, ein gutes Leben möglich ist, das von anderen geschätzt und begleitet wird. Es ist schon ein Alarmsignal, wenn Menschen darüber nachdenken, ihrem Leben im Alter und in der Krankheit ein Ende zu setzen, weil sie niemandem zur Last fallen wollen oder weil sie ein Leben in Schwäche als nicht mehr menschenwürdig erleben. Wenn eine Gesellschaft solch ein Menschenbild fördert, dann müssen wir als Christen gegenhalten. Es geht um eine Grundeinstellung dem Leben gegenüber: der Wert und die Würde eines Menschen hängt nicht von seinen Fähigkeiten ab. Es ist keine Schande für jemanden, einen anderen um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen.
- Dem Menschen in allen Lebensphasen eine Teilhabe und Gemeinschaft ermöglichen
In diesem Bereich hat die Kirche gute Angebote, und sie wird auf diesem Feld aktiv bleiben. Noch stärker als die materielle Not scheint doch die Erfahrung zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden, nicht mehr in Beziehungen leben zu können. Solche Netze aber können wir knüpfen helfen. Und das kann nicht nur eine Sache professioneller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein. Nachbarschaft wahrzunehmen, Hilfen anzubieten, Ansprache und Aufmerksamkeit ist etwas, was jeder Mensch einem anderen schenken kann. Da sind die biblischen Themen, die eben genannt wurden, eine gute Motivation, neu den Respekt und die Ehrfurcht vor Menschen zu lernen, die viel im Leben geleistet haben – und nun vielleicht Hilfe brauchen. Auch in den schwächer werdenden Menschen die Ressourcen und Schätze wahrnehmen, die jeder Mensch in sich trägt, als Ebenbild Gottes.
- Dem Menschen ein prophetische Stimme geben, der vergessen und übersehen wird
Armut ist auch für alte Menschen schambesetzt. Deswegen braucht es Sensibilität, solche Formen wahrzunehmen. Wenn man eine derartige Situation wahrnimmt, soll man aktiv helfen. Das kann manchmal nicht einfach sein, weil es für manchen schwer ist, Hilfe anzunehmen. Die Möglichkeit der Kirche und ihrer Gläubigen besteht aber darin, dass sie das Thema lebendig hält und den Menschen eine Stimme gibt, die für sich nicht mehr sprechen können oder wollen. In der Bibel sind dies die Propheten, die gesellschaftliche Verantwortung einfordern und Themen ins Licht halten. Viele tun dies, in der Kirche und ihrer Caritas, in den Verbänden, Gemeinden und Gruppen. Dafür bin ich dankbar, auch für diejenigen, die sich privat in die Politik als Christinnen und Christen einbringen. Oft wird von bestimmten Gruppierungen die Trennung zwischen Kirche und Staat eingefordert. Das darf nicht bedeuten, dass sich nicht glaubende Menschen aus ihrer Haltung einmischen und eine politische und prophetische Stimme werden. Ich kann nur alle einladen, in vielen Fragen der Politik deutlich zu sagen, was das Evangelium wohl fordert. Und dass das Evangelium immer auch eine „Option für die Armen“ enthält, scheint mir sehr klar zu sein.
An die Würde erinnern, Teilhabe ermöglichen, prophetisch reden und überzeugend handeln: das scheinen mir die wichtigsten Möglichkeiten der Kirche und ihrer Menschen auch heute zu sein. Möge dieser Gottesdienst und der Abend heute ein kleiner Baustein sein, daran weiter zu arbeiten – mit Gottes Segen.