An die Krippe stelle ich die Armen, die zu unserem Alltag gehören, die Sichtbaren und die Versteckten. Sie bleiben für mich auch persönlich ein Stachel im Fleisch. Bischöfe gerade der frühen Kirche haben sich immer auch als Vater der Armen verstanden. Das Kirchenvermögen war der Besitz der Armen, sie galten als Schatz der Kirche. Wie sehr hat sich das auch in unserem Bistum verändert. Ich habe keine Lösung, aber der Gedanke plagt mich.
Das Christkind, Maria und Josef, die Engel, die Hirten, die Schafe, Ochs und Esel – sie gehören zum Grundbestand jeder Krippendarstellung in unseren Kirchen. Wer zuhause eine Krippe aufgebaut hat, hat zumindest das Kind mit Maria und Josef aufgestellt. Hier wird die Szene auf den Feldern von Bethlehem nachgestellt, wie sie das Lukasevangelium berichtet. Krippen dienen nicht nur der verklärten Erinnerung an eine Geburt vor 2000 Jahren. Sie laden dazu ein, die Geburt des Sohnes Gottes ins eigene Leben zu holen, im Gebet und in der Betrachtung. Denn die Tatsache, dass Gott in unsere Welt kommt, hat auch Relevanz für Heute. Das Johannesevangelium macht es deutlich: Es lädt ein, Gott aufzunehmen, um selbst ein Kind Gottes werden zu können. Manch eine Krippendarstellung setzt daher die Geburt Jesu in unsere Zeit, in unser Leben und auch in unsere ganz persönliche Situation. In meiner Geburtsstadt etwa gibt es eine berühmte Krippe, die das Weihnachtsgeschehen jedes Jahr neu aktualisiert. Sie überträgt es in das Stadtviertel und in das Milieu der dort lebenden Menschen. Es handelt sich um die Krippe in der romanischen Kirche Maria Lyskirchen. Als ich in Köln lebte, bin ich jedes Jahr dort gewesen. Jedes Jahr verändert sich die Krippe in Maria Lyskirchen und greift aktuelle Themen auf. Die Krippe ist weder verniedlichend noch beschönigend, manche finden sie anstößig und provozierend. An der Krippe stehen keine frommen Menschen. Da steht ein Arbeiter, eine normale Bürgerin und es bewegen sich Personen um die Krippe, die benachteiligt sind aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sozialen Stellung, ihres Alters oder einer Behinderung, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Orientierung. Prostituierte und Rocker leben in dem Viertel, in dem Gott zur Welt kommt. An der Krippe gibt es Menschen wie du und ich. Nicht alle beachten das Geschehen der Geburt, aber Jesus kommt genau in diese bunte Welt, die sich kaum für Gottes Gegenwart begeistert. Ich musste in diesem Jahr der Kriege, des zunehmenden religiösen Desinteresses, der vielen Krisen und Themen in Kirche und Gesellschaft und auch mit Blick auf das eigene Umfeld an diese Krippe denken.
Wen würde ich an die Krippe stellen in diesem Jahr, ohne den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben? Als Bischof würde ich die vielen Menschen an die Krippe stellen, die kirchlich engagiert sind und sich für ihren Glauben einsetzen. Ich hoffe, dass sie Stärkung und Ermutigung durch das Kind in der Krippe erfahren. Unsere Kirche und unsere Gesellschaft leben von diesen Menschen, die aus ihrem Glauben heraus ihr Leben gestalten und unendlich viel Gutes bewirken. Sie nehmen Maß an Jesus, der das Reich Gottes in Tat und Wort verwirklicht hat. Sie folgen ihm nach. Ich weiß, dass sie nicht immer die Wertschätzung erfahren, die ihnen gebührt. Auch als Bischof werde ich ihnen nicht immer gerecht. Aber sie machen Christus berührbar und erfahrbar. Eine Welt ohne diese Menschen wäre kalt und lieblos.
Es gibt auch fromme Menschen, die sich selbst für gerecht halten, und die lernen müssen, dass Gott anders ist als alle ihre Vorstellungen von ihm. Das Kind in der Krippe stellt doch wahrlich alle selbstgemachten Gottesbilder in Frage. Eine derartige Geschichte von einer Menschwerdung Gottes in unserer Welt kann man nicht erfinden. Man kann sie nur annehmen und das eigene Denken korrigieren lassen. Manchmal erschrecke ich als Bischof über die Selbstherrlichkeit manches frommen Menschen, die Jesus selbst abgelegt hat. Er hat seine Herrlichkeit eben nicht als Besitz begriffen, sondern als Aufgabe, anderen zu helfen. Wie viele Kommentare muss ich lesen über Menschen, die nicht mehr katholisch sind, die Sünder sind, die sich bekehren müssen, die unmoralisch leben und nicht richtig glauben. Das Kind in der Krippe umarmt genau diese Menschen. Die ganz Frommen fehlen interessanterweise bereits in den Evangelien. Pharisäer und Schriftgelehrte finden sich nicht in der Gebetsgemeinschaft an der Krippe. Das sollte einige auch heute zum Nachdenken anregen.
An die Krippe stelle ich die Menschen, die nicht glauben, die letzte Studie über Kirchenbindung zeigt deutlich, dass nicht nur die Kirchenbindung nachlässt, sondern ebenso der Glaube an Gott. Beides hängt offenbar mehr zusammen als zunächst angenommen. Vielen Menschen in unserer Gesellschaft fehlt nichts, sie sind zufrieden, ohne Gott, ohne Kirche und ohne irgendeinen religiösen Glauben. Sie sind auch keine schlechteren Menschen. Auch für sie wird Christus geboren. In der Krippendarstellung leben sie in den Straßen dieser Welt, sie beachten das Kind in der Krippe nicht, aber Jesus kommt auch in ihre Welt. Ich lebe in der Hoffnung, dass auch sie das Heil finden werden, an das sie nicht glauben. Und ich stelle mich neben sie. Ich bin als Bischof nicht der Besitzende und ich will sie nicht betrachten als Menschen mit einem religiösen Mangel. Ich „besitze“ Gott ja auch nicht. Wie oft zweifle ich an seiner Gegenwart, seiner Macht und seiner Liebe. Ich bleibe auch als Christ ein Suchender, ein Fragender. Als Glaubender kann ich von Nichtglaubenden in vielen Fragen und Themen lernen. Wenn auch sie nicht aufhören zu fragen, kann uns das zu Weggefährtinnen und Weggefährten machen. Als Glaubender lade ich alle ein: Gebt die Frage nach Gott nicht auf. An mich kann der Appell zurückgegeben werden: Verwechsle dein Bild von Gott nicht zu schnell mit der Wirklichkeit Gottes, sei dir nicht zu sicher, flüchte dich nicht in fromme Floskeln, die am Ende nicht helfen und tragen. Glaubende und Nichtglaubende sind vielleicht mehr Weggenossen, als ihnen bewusst ist.
An die Krippe stelle ich die Armen, die zu unserem Alltag gehören, die Sichtbaren und die Versteckten. Sie bleiben für mich auch persönlich ein Stachel im Fleisch. Bischöfe gerade der frühen Kirche haben sich immer auch als Vater der Armen verstanden. Das Kirchenvermögen war der Besitz der Armen, sie galten als Schatz der Kirche. Wie sehr hat sich das auch in unserem Bistum verändert. Ich habe keine Lösung, aber der Gedanke plagt mich. Kann es nur um Bestandserhalt gehen? Müssten wir nicht alle die Perspektive auf unsere Ressourcen verändern?
Ich stelle die Frage angesichts des Kindes in der Krippe ohne eine realpolitische Lösung. In der diesjährigen Krippe in der Kölner Kirche finden sich auch Jüdinnen und Juden mit der Fahne Israels. Sie sind unsere Geschwister. Sie haben nach dem 7. Oktober unsere uneingeschränkte Solidarität. Sie erkennen Jesus nicht als ihren Messias an, aber ihr Glaube ist die Wurzel, die auch uns als Christinnen und Christen trägt. Ohne ihren Glauben gibt es keine Kirche, sie dagegen brauchen unseren Glauben nicht. Wir wollen ihnen nahe sein. Genauso sind wir allen Leidenden nahe, auch sie stehen an der Krippe. Die Situation in Gaza ist unerträglich, wenn zu lesen ist, dass dort eine unüberschaubare Hungerkatastrophe droht. Krieg bringt nie Segen. Gerade in den Weihnachtstagen bringt die Liturgie die Friedensvisionen der Propheten zur Sprache. „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht.“ Diese Hoffnung will ich den Menschen in der Ukraine zurufen, aber auch den vielen Leidenden in so vielen teils vergessenen Kriegs- und Krisenregionen der Erde. Gerne würde ich die Diktatoren und Kriegstreiber dieser Welt an die Krippe stellen: Wie könnt ihr die Brüder und Schwestern dieses Kindes ins Elend stürzen aus Machtgier und Gewissenlosigkeit – und sogar den Glauben noch zu euren eigenen Zwecken missbrauchen? Opfer von Gewalt, auch in der Kirche, gehören an die Krippe. Ich stelle mich neben sie und werde mich nicht an ihr Leid gewöhnen dürfen oder es einfach bürokratisch abhandeln dürfen. Ich weiß, dass das leichter gesagt als getan ist. So viele Menschen gehören an die Krippe, sie dürfen sich ermutigt, gestärkt, ermahnt und angefragt fühlen – je nachdem, wofür sie eintreten.
Auch ich stelle mich an die Krippe. Meine Sprache verstummt. Ich muss das Kind selbst sprechen lassen. Es sieht mich, wie ich bin. Ich kann und muss mich nicht verstellen. Es erhellt meine Dunkelheit, es lädt mich zu Freundschaft ein, es will mich in seine Nachfolge rufen. Ich muss lernen, dass die Begegnung mit diesem Kind nicht unbedeutend ist. Ich als Bischof bin nicht der Maßstab, sondern ich setze Jesus und seine Botschaft ins Zentrum. Weder ich noch wir als Kirche besitzen ihn. Wir können nur Kirche sein, indem wir an ihm Maß nehmen. In der Betrachtung seiner Hingabe komme ich an kein Ende. Jedes Thema, das uns in der Kirche besonders umtreibt, kann nur eine Lösung finden, indem wir ihn zu Wort kommen lassen. Lassen wir uns von ihm einladen, ins Gespräch zu kommen. Lassen wir uns den Mut finden, seine Zeuginnen und Zeugen zu werden.