"Aus dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe leben, bevor wir zu „machen“ beginnen"

Predigt im Requiem für Karl Kardinal Lehmann am 21. März 2018 von Professor Dr. Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz

Bischof Kohlgraf predigt im Requiem für Karl Kardinal Lehmann (c) SWR
Datum:
Mi. 21. März 2018
Von:
Bischof Kohlgraf
Liebe Gemeinde hier im Dom und überall, wo Sie diesen Gottesdienst mitfeiern! Viele Menschen sind traurig und bewegt, aber auch dankbar im Gedenken an unseren Verstorbenen, Kardinal Karl Lehmann, für den wir beten und den wir heute zu Grabe tragen. Im 82. Lebensjahr ist er am Sonntag „Laetare“, das heißt „freue dich“, von Gott heimgerufen worden. Er hat selbst ein Geistliches Testament hinterlassen, das einen Einblick gibt in die Themen und Fragen, die unserem Kardinal besonders am Herzen lagen. Wie nur wenige andere verband er in seiner Person und seinem Wirken die wissenschaftliche Theologie, den priesterlichen und bischöflichen Dienst mit der Seelsorge, der Zuwendung zu den Menschen.
Mancher kleine Kommentar aus den sozialen Medien der letzten Tage zeigt, wie sehr die Menschen das auch gespürt haben. Da berichtet einer davon, dass Bischof Lehmann ihn gefirmt habe und wie viel ihm dies bedeute. Andere berichten von alltäglichen Begegnungen auf der Straße und kleinen Gesprächen. Von anderen weiß ich, dass der Kardinal ihnen ein echter Seelsorger und Wegbegleiter auf der Suche nach einem persönlichen Glauben gewesen ist. Nicht umsonst nennen die Menschen aus der Diözese Mainz ihn „unseren Karl“. Er konnte mit allen umgehen: mit den sogenannten einfachen Menschen und mit den gesellschaftlich, kirchlich und politisch Einflussreichen.

In seinem Geistlichen Testament, das er am 15. März 2009 geschrieben hat, dankt er Gott und er dankt Gott für die Menschen, die er ihm geschenkt hat: seine Eltern, Lehrer und die Heimat. Diese Heimatverbundenheit war für ihn kein Lippenbekenntnis. Die Mutter war Buchhändlerin, der Vater Lehrer, die Liebe zum Buch und zum Nachdenken sind ihm offenbar in die Wiege gelegt worden. 1963 empfängt er die Priesterweihe, das war zur Zeit des II. Vatikanischen Konzils, das ihn zeitlebens geprägt hat. Die Assistenzzeit bei Karl Rahner war für ihn die prägende Erfahrung für sein weiteres theologisches Arbeiten, das für ihn bis in die letzten Monate hinein Lebenselixier war. Noch nach der Bischofsweihe erzählte er mir von seinem Vorhaben, etwas Umfangreicheres über Romano Guardini zu schreiben. 1968 bis 1971 war er Professor in Mainz, 1971 bis 1983 Professor in Freiburg, bis er 1983 Bischof in Mainz wurde, später über viele Jahre Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, 2001 Kardinal. Im Testament findet sich auch der ausdrückliche Dank an alle Haupt- und Ehrenamtlichen, die ihren Dienst in der Diözese leisten und geleistet haben. Viele Ämter und Aufgaben hat Bischof und Kardinal Lehmann wahrgenommen, sie müssen hier nicht alle genannt werden. Wichtiger als die äußeren Daten sind seine inneren Beweggründe.
 
1. Der Wappenspruch: „State in Fide“ („Steht fest im Glauben“; 1 Kor 16,13)

Er sagt zu diesem Wappenspruch selbst etwas in seinem Geistlichen Testament: „Theologie und Kirche haben mein Leben in Atem gehalten. Ich würde wieder so wählen! Wir haben uns alle, gerade in der Zeit nach 1945, tief in die Welt und das Diesseits vergraben und verkrallt, auch in der Kirche. Dies gilt auch für mich. Ich bitte Gott und die Menschen um Vergebung. Die Erneuerung muß tief aus Glaube, Hoffnung und Liebe kommen. Deshalb rufe ich allen die Worte meines Wahlspruchs zu, die vom Heiligen Paulus stammen, und mir immer wichtiger geworden sind: ,Steht fest im Glauben!‘“

Eine Kirche, die sich im Diesseits vergräbt und festkrallt: Dieser Satz scheint mir in seiner Kürze und Prägnanz geradezu prophetisch zu sein. Die Versuchung wird nicht geringer, alles planen und machen zu wollen, als sei das Entscheidende die Verwaltung, die Planung, der materielle Besitz. Insofern mahnt uns unser verstorbener Kardinal, zunächst ganz aus dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe zu leben, bevor wir zu „machen“ beginnen. Die Quellen dürfen nicht vergessen werden, die uns wirklich Leben schenken. Mögen wir diese Mahnung nicht vergessen, auch auf den zukünftigen Wegen der Kirche. Auf den Glauben als das Wesentliche ist er immer wieder zu sprechen gekommen. In seinem großen Interview über sein Leben und Denken hat er dies auf den Menschen und seine Offenheit für die Transzendenz, letztlich für Gott, bezogen. Die wichtigste Voraussetzung dafür, Gott zu finden, ist, nicht am Vordergründigen zu klammern, Irdisches und Vorläufiges nicht für das Letzte und Wichtigste zu halten. Der Gottesglaube bringt dem Menschen nichts Fremdes, die Suche nach ihm ist dem Wesen des Menschen eingeschrieben. Dabei gibt es „Wanderer, die alles verlassen und nirgends ankommen“. Die Suche des Menschen kommt dort ans Ziel, wo Gott eine „Person ist, einen Namen hat, angerufen werden kann“.

Der Gott der Bibel ist ein Gott, der in die Geschichte einsteigt, ein Gott der Befreiung, der mit den Menschen geht, der „Gott mit uns“. Er zeigt sich schließlich unüberbietbar in Jesus Christus. Im Wappen des Kardinals ist die aufgeschlagene Bibel enthalten, ein Hinweis auf diesen Gott, der zu den Menschen spricht und die Wege mitgeht: auf den Sarg ist heute ebenfalls die offene Bibel gelegt. Gott ist auch heute der „Gott mit uns“. Weil dieser Gott so groß ist und vielfältige Wege des Sprechens findet, gibt es so unendlich viele Wege zu ihm, wie es Menschen gibt und ihre Ausdrucksformen. Theologie muss vielfältig sein, Glaubenserfahrungen müssen den unterschiedlichen Menschen möglich sein, Glaube hat nichts Enges, Uniformes.

Theologie und Glaube müssen notwendigerweise mit den anderen Wissenschaften im Gespräch bleiben, damit sie nicht sektiererisch werden, sondern vernünftig bleiben. Diese wenigen Gedanken zeigen, dass bei aller Standfestigkeit im Glauben dieser beweglich und gesprächsfähig bleiben muss. Ein eigenes festes Glaubensfundament braucht die Offenheit, die geistige Weite. Die Offenheit braucht den Glauben, damit sie nicht beliebig wird. Wir danken dem Theologen und Bischof Karl Lehmann, dass er diese Spannung überzeugend gelebt hat. Er ermutigt uns, auf diesem Weg weiter zu gehen: Klare Position im Glauben, Offenheit im Denken und Reden.
 

2. Sein Bemühen, Brücken zu bauen

Diese Offenheit und das Interesse an den Fragen der Zeit zeigen sich in der Breite seiner Themen. Er wollte sein Leben lang Brücken bauen zwischen Vernunft und Glaube und zwischen den einzelnen oft polarisierten Gruppen innerhalb der Kirche. Seine Veröffentlichungen decken wohl alle relevanten Themen der vergangenen Jahre ab. In seinem Geistlichen Testament grüßt er nicht nur die Menschen seiner Diözese, sondern auch die Brüder und Schwestern der Ökumene. Ich weiß, dass unsere evangelischen und orthodoxen Geschwister ihn ebenso verehrt und geschätzt haben wie die Katholiken. Er schreibt: „Es ging mir immer um die Einheit im Glauben in der Vielfalt unseres Lebens, ohne Scheuklappen und Uniformismen.“

Diese Grundhaltung hat ihm viel Sympathie eingebracht, aber auch Gegenwind hervorgerufen. Wer sich dem Leben stellt und Wahrheit nicht nur als satzhafte Wahrheiten versteht, die unberührt von allem bleiben müssen, muss Kritik einstecken. Wir kennen die Themen, die ihn so sehr beschäftigt haben: die Frage der Schwangerenkonfliktberatung und die mögliche Zulassung von Menschen aus verletzten Beziehungen zur Eucharistie etwa. Er hat sich dem päpstlichen Lehramt gefügt und persönliche Niederlagen eingesteckt, ohne zu verbittern. Ganz im Gegenteil leistet zum Beispiel das „Netzwerk Leben“ im Bistum Mainz seit dieser Zeit eine segensreiche Arbeit mit Frauen und Familien.

Er wollte nicht, dass die Brücken zwischen Kirche und Welt eingerissen werden. Und die Brücken müssen von beiden Seiten aus gebaut werden. Die Kirche steht nicht auf einer Insel, und die Welt müsste dann selbst sehen, wie sie eine Verbindung schafft. Nein, die Kirche muss sich auf die Menschen zubewegen. Es verwundert nicht, dass Kardinal Lehmann Papst Franziskus in diesem Bemühen sehr unterstützt hat. Das Brückenbauen konnte unser Kardinal nicht nur auf der hohen geistlichen, wissenschaftlichen und religiösen Ebene. Schnell hat er durch seinen Humor, sein Lachen und seine freundliche Zuwendung Brücken zu den Menschen gebaut, denen er in seiner Diözese und darüber hinaus begegnen durfte. Ein Beispiel: als er in einem Weindorf einen Preis erhält, kann er sich freuen wie ein Kind. Wir dürfen in diesem Bemühen, Brückenbauer zu werden, nicht nachlassen. Themen gibt es genügend.

 

3. Johannes an der Brust Jesu – die Johannesminne

In seinen Texten gibt uns der Theologe Karl Lehmann nicht zu offensichtlich Einblick in seine ganz persönliche Frömmigkeit. Man muss genau hinschauen. Das Bild der Johannesminne aus Heiligkreuztal hat er besonders geschätzt, dieses Bild hing auch über seinem Sterbebett, wir haben es auf dem Gedenkbild abgedruckt. Das Bild ist eine Erinnerung an die Heimat, so hat er es selbst geschrieben. Das Bild ist ein Ausdruck tiefer Freundschaft, tiefer Ruhe und Geborgenheit. Die Kirche ist eine Gemeinschaft in der Liebe, verbunden in Christus. In einem Text zu diesem Bild heißt es: „Man kann es (dieses Bild) nicht sehen, ohne berührt zu werden, angerührt von einer Sehnsucht, die keine andere Botschaft kennt als die der Erfüllung durch die Liebe. Hier ruht einer ganz und gar an der Seite seines Herrn. Seine Augen sind geschlossen. Der Kopf ist angelehnt. Seine Hand liegt in der Hand des Meisters, schwebend, leicht, voller Zartheit.“

Ich sehe heute dieses Bild auch als ein Bild der Hoffnung unseres Kardinals angesichts von Krankheit, Sterben und Tod. Seine Hoffnung ist Christus selbst, seine Liebe über den Tod hinaus. Liebe ist das entscheidende Fundament des Glaubens, auch des kirchlichen Handelns. Kardinal Lehmann schließt sein Geistliches Testament: „Unter zwei Dingen habe ich immer wieder und immer mehr gelitten: Unsere Erde und weithin unser Leben sind in vielem wunderbar, schön und faszinierend, aber sie sind auch abgrundtief zwiespältig, zerstörerisch und schrecklich. Schließlich ist mir die Unheimlichkeit der Macht und wie der Mensch mit ihr umgeht, immer mehr aufgegangen. Das brutale Denken und rücksichtsloses Machtstreben gehören für mich zu den schärfsten Ausdrucksformen des Unglaubens und der Sünde. Wehret den Anfängen! Immer mehr habe ich das Jesuswort bei Lukas in den Ohren: ,Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt auf der Erde noch Glauben vorfinden?‘ Wählt einen guten Nachfolger, betet für ihn und für mich! Auf Wiedersehen!“

Die Johannesminne ist das Gegenbild zu jedem derartigen Machtstreben auch im Namen der Religion und der Kirche. Ja, lieber Kardinal Karl, ich glaube, dass wir uns wiedersehen. Wir beten für Dich, wir danken Dir für Dein großes Lebenszeugnis, aber segne Du auch uns! Mich als Deinen Nachfolger, alle Menschen in unserem Bistum, für die Du gelebt und gearbeitet hast.