Brauche ich das oder brauche ich das nicht? – Need or no need? Vor kurzem konnte ich eine Ausstellung in der Kunsthalle Mainz besuchen, in der Kunstwerke der italienischen Künstlerin Lara Favaretto zu sehen waren, die diesen Titel trug. Sie hat mich zum Nachdenken gebracht. In diesen Kunstwerken geht es um Vergänglichkeit, um das „Zuviel“ oder „Zuwenig“, über Gegenstände, die zu uns gehörten und die wir irgendwann nicht mehr brauchten. Der Besuch dort war eine gute Inspiration nicht nur für die kommende Fastenzeit, sondern für mein christliches Leben insgesamt.
In einer Halle fand sich ein Bücherregal mit Büchern, welche in Bibliotheken ausrangiert wurden. Bücher, die durch viele Hände gegangen sind und die nun plötzlich keine Bedeutung mehr haben. In diesem Raum stand auch ein Koffer, in dem Gegenstände verschlossen sind, die für die Künstlerin keine Bedeutung mehr haben. Ich habe darüber nachgedacht, was das für mich heißen kann. Ich habe von vielen Dingen zu viele, ich brauche sie nicht. Andere Dinge haben im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren. Was hat Wert, was hat Bedeutung, was bleibt? Schon immer haben mich die Pater Braun Filme mit Heinz Rühmann aus den 60er Jahren berührt. Sie kennen sie vielleicht auch. Ein Priester wird immer wieder in Kriminalfälle verstrickt und wird von seinem Bischof strafversetzt. Das sind keine Filme zum Nachdenken und ohne besonderen Tiefsinn. Es gibt jedoch eine Szene, die in jedem dieser Filme vorkommt: Wenn der Priester seine neue Stelle antritt und mit Haushälterin, einem Koffer und vielleicht noch ein paar Büchern im Handwagen in seine neue Zukunft aufbricht. Solchen Lebensstil pflegten viele Priester durchaus, die Handlung spielt im damals bitterarmen Irland. Natürlich verkläre ich die Sache, aber ich denke an meine eigenen Umzüge, wie viele Dinge im Laufe der Jahre hinzugekommen sind. In einen Koffer und einen Handwagen passt der Hausstand nicht. Für den Priester im Film bedeutet sein kleiner Besitz eine große Freiheit. Er kann jederzeit aufbrechen, und ohne viel äußeren Aufwand eine neue Stelle antreten. Besitz ist nichts Schlechtes. Vieles von dem, was in meinem Haus ist, brauche ich auch wirklich: das Essen in der Vorratskammer, die Kleider im Schrank, die Bücher im Arbeitszimmer. Sie sind mein Arbeitsmaterial. Dennoch merke ich auch, dass ich viel mehr besitze, als ich zum Leben brauche. Viele Bücher habe ich jahrelang nicht in die Hand genommen, gebe sie aber nicht weg. Viele Kleidungsstücke hängen im Schrank, und ich würde wahrscheinlich erst nach Jahren merken, dass sie nicht mehr da sind. Auch im Kühlschrank stehen nicht nur Nahrungsmittel zum Überleben, sondern Luxus, Dinge zum Genießen. Manches Nahrungsmittel wandert in den Abfall. Ich merke aber auch, wie unbeweglich ich durch manchen angehäuften Besitz werde.
Wir haben von allem zu viel, das ist ein Kennzeichen unserer Zeit. So weit so gut. Es gibt jedoch mittlerweile Untersuchungen, die belegen, dass die Überfülle an Angeboten dem Menschen nicht mehr nutzen, sondern Stress auslösen. Ein Zeitungsartikel gab mir kürzlich einen Denkanstoß. Dort wird geschildert, wie die Situation aussieht: wenn Sie in einen Drogeriemarkt gehen und ein Deo kaufen wollen, stehen Sie als Kunde vor beinahe 300 Angeboten. In jedem normalgroßen Supermarkt stehen 25000 Produkte. Beim Kauf einer Waschmaschine müssen Sie mittlerweile zwischen zig Produkten entscheiden. Die Auswahl an Süßwaren ist unüberschaubar, Kaffee ist nicht einfach Kaffee. Die besagten Untersuchungen stellen fest, dass ein Einkauf im Supermarkt bedeuten kann, vor Hunderten Entscheidungssituationen zu stehen. Der Mensch kauft nicht ein, weil er etwas braucht, sondern weil es erst einmal Spaß macht und anregend ist. Die Studien belegen, dass der Kunde das eher kauft, wo „neu“ draufsteht. Die riesigen Möglichkeiten des Marktes sind zunächst eine große Freiheit: ich habe eine unglaubliche Auswahl, irgendwann kann die riesige, unübersehbare Freiheit anstrengend werden. Es kommt nicht von ungefähr, dass in vielen Menschen eine Sehnsucht nach Einfachheit wach wird. Weil sie merken, dass eine unübersehbare Fülle von Möglichkeiten nicht mehr Freiheit, sondern Stress bedeuten kann.
Wir haben von allem zu viel. Dadurch kann es geschehen, dass wir Kraft und Zeit in Dinge investieren, die wir eigentlich für Notwendiges bräuchten. Pater Braun hat unendlich viel Zeit und Konzentration, für Gott, seine Gemeinde, seine Kriminalfälle, weil er nicht damit beschäftigt ist, sich mit allem möglichen beschäftigen zu müssen. Was müsste ich in den Koffer der Kunsthalle tun, damit ich freier werde? Need or no need?
In einem weiteren Raum fand sich eine Installation aus Seide und Stahl, alte Stahlplatten, die auf bunten Seidentüchern lagen. Während die Farben des Stoffes leuchteten, zeigten die Stahlplatten deutliche Zeichen der Verwitterung. Eigentlich hätte ich es umgekehrt erwartet. Stahl sei für die Ewigkeit, der Stoff dagegen dünn und zerreißt schnell. Hier war es anders. Dies ließ mich über eine biblische Erkenntnis nachdenken: Das Starke ist schwach, das scheinbar Schwache stark. Die menschlichen Werte werden auf den Kopf gestellt. Die Letzten werden die Ersten, die Ersten die Letzten. Die auf dem Thron werden entmachtet, die Niedrigen erhöht. Die Hungernden bekommen durch Gott ihre Nahrung, die Reichen gehen leer aus (vgl. Lk 1,46-56). Wo Gott am Werk ist, verkehren sich die Werte. Der oder das Schwache gilt etwas. Es leuchtet, während das scheinbar Starke zerfällt. Die Fastenzeit lädt ein, die rechten Prioritäten zu setzen. Was macht mich stark? Wie gehe ich mit Schwächen um? Gott jedenfalls will nicht denjenigen, der sich selbst stark macht, der auf Kraft und Stärke setzt. Ich nehme meine Schwächen in den Blick und lerne, mit ihnen zu leben. Und vielleicht spüre ich neu, dass meine Schwächen das Potential sind, das Gott verändern möchte. Der Apostel Paulus sieht darin die besondere Gnadentat Gottes: sobald der Mensch aufhört, auf eigene Stärke zu setzen, kann Gott zu handeln beginnen (1 Kor 12,9).
In demselben Raum gab es Bilder, die mit Wollfäden dicht umwickelt waren. Je näher ich stand, desto weniger konnte ich vom Bild erkennen, je größer die Distanz, desto deutlicher war das darunter liegende Bild zu erkennen. Abstand zu den Dingen gewinnen – auch das könnte ein Ziel der Fastenzeit sein. Das kann bedeuten, nicht alles persönlich zu nehmen oder in einer Verletzungssituation den Weg der Versöhnung zu suchen. Es kann eine wichtige Grundhaltung für Menschen sein, die stets das Negative sehen. Abstand gewinnen – dazu kann auch das Gebet helfen. Es ist ein Weg, eine neue Perspektive einzunehmen und manche Dinge neu sehen zu können.
In der letzten Halle steht nur eine Blackbox, aus der ein Lachen ertönt. Das Werk trägt den Titel: „Ein Lachen wird dich begraben“, das Lachen ist eine Aufzeichnung des Künstlers Gino Di Dominicis aus dem Jahr 1971. Es ist kein freundliches Lachen, ich habe es eher als ein Auslachen empfunden. Ich habe mich mit dem Thema der Vergänglichkeit beschäftigt, am Ende steht das Lachen des Toten. Alles vergeht, am Ende lacht der Tod dich aus? Oder ein verzweifeltes Lachen als Konserve aus der Blackbox, das ist alles, was von Dir bleibt? Wird der Tod ausgelacht? Die Vergänglichkeit? Der Lebende, der noch Hoffnung hat? Das bleibt offen. Am Ende unserer christlichen Fastenzeit steht das Osterfest, und damit das Lachen über den Tod. Das ist die Hoffnung, die mich trägt. Diese Hoffnung hilft mir, schon heute Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden, die richtige Wahl zu treffen, sie hilft mir, nicht auf irdische Macht zu setzen, sie gibt mir den nötigen Abstand zu den irdischen Dingen und sie lässt mich am Ende lachen über die Macht des Todes und der Vergänglichkeit.
Möge uns die kommende Fastenzeit eine Hilfe sein, auf diesem Weg weiter zu kommen. Es bleibt ein ständiges Suchen und Tasten, aber Gott möge uns seine Weisheit schenken, die uns leben und weitergehen hilft.