„Braucht die Welt noch eine Kirche? – Kirche als Volk Gottes“, so lautet das von mir erwünschte Thema dieser Fastenpredigt.
Braucht die Welt noch eine Kirche? – da dürften sich die Ansichten eines Bischofs stark von denen mancher Zeitgenossen unterscheiden. Schaut man einmal in Kommentare im Internet: Sobald von katholischer Kirche die Rede ist, setzt bei manchem sofort ein Beißreflex ein. Kirche und Geld, Kirche und Ereignisse der Kirchengeschichte wie Hexenverfolgung etc., Kirche und Missbrauch, und viele andere Themen, werden zornig kommentiert. Viel Vertrauen ist verloren gegangen, viele sind zu Recht enttäuscht, mancher aber sucht und findet Bestätigung für seine festen Vorurteile. Wenn ich als Bischof jetzt anfange, die Nützlichkeit der Kirche zu preisen, bin ich natürlich leicht in Gefahr, mich in eine Selbstrechtfertigung zu begeben nach dem Motto: all das ist schlimm, aber Kirche ist doch wichtig, sie bietet Caritas und Bildung, sie hilft, Werte zu vermitteln, ohne die unsere Gesellschaft nicht lebensfähig ist usw. Viele Kritiker würden uns vorhalten, dass diese Angebote längst von anderen Anbietern geleistet werden. Dennoch darf man auch selbstbewusst sein. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie die Welt aussähe, ohne 2000 Jahre gelebten Christentums in unserer Kirche: die Werke der Nächstenliebe, die heute oft auch von anderen Stellen übernommen werden, hat vor 2000 Jahren die Kirche begonnen, niemand sonst. Dass soziale Haltungen gegenüber Armen, Kranken, Obdachlosen, Hilfsbedürftigen mittlerweile zu unserem Kulturgut gehören, ist das Verdienst praktizierender Christinnen und Christen, jedenfalls nicht Produkt einer gottlosen Geschichte. Haltungen der Barmherzigkeit, Versöhnung und die Idee, dass jeder Mensch Ebenbild Gottes ist, gehen auf die biblische Botschaft zurück. Die vielen kleinen und großen Heiligen haben unsere Welt geprägt, bis heute tun sie dies. Umso schmerzlicher natürlich, dass dieses Evangelium immer wieder auch nicht vorbildlich gelebt wurde.
Ich bin davon überzeugt, dass manche Kritik an der Kirche, sofern sie sich an Sachfragen orientiert, tatsächlich geholfen hat und hilft, sich als Kirche selbst die Frage einmal zu stellen: Was ist denn unser Auftrag heute? Die Skandale der letzten Zeit sind ein Beleg dafür, dass sich ein Ungeist in der Kirche breit gemacht hat, der uns erschrecken sollte und zur Umkehr ruft. Vor einiger Zeit die Vorgänge in Limburg, jetzt in Eichstätt. Wir haben mit der Vollversammlung der Bischofskonferenz in der vergangenen Woche in diesem Bistum getagt. Mit krimineller Energie haben dort Verantwortliche Geld veruntreut; in Freiburg steht die Erzdiözese davor, einen dreistelligen Millionenbetrag zurückzahlen zu müssen, weil über Jahre bestimmte Versicherungsabgaben nicht bezahlt wurden. In diesen Beispielen zeigt sich ein verbreitetes kirchliches Selbstverständnis, das weite Bereiche kirchlicher Arbeit prägte und noch prägt, gewiss nicht nur in genannten Diözesen, und dessen Folgen uns nun beschäftigen. Man hat Kirche als ein geschlossenes System gesehen, „wir machen die Sachen unter uns aus“. Kontrolle fand oft nicht statt, oder sie fand unprofessionell statt. Geld wird dann verwaltet nach Gutsherrenart. Es sichert die eigene Welt, in der man sich sicher zu bewegen glaubte. Kirchliches Vermögen aber ist das Vermögen der Gläubigen, das der Kirche anvertraut ist, um ihre Aufgaben in der Welt für die Menschen leisten zu können. Uns Bischöfen ist drastisch klar geworden, dass es so nicht weiter gehen kann. Geld dient, Besitz dient, Macht dient. Nicht mir, nicht unserem System, sondern unserem Auftrag. Dieses Umdenken gilt für das Bistum, und das muss heruntergebrochen werden auch auf die Gemeinden und andere kirchliche Orte. Braucht die Welt also noch eine Kirche? Im Moment ist es an uns, den Weg der Umkehr einzuschlagen.
Die Kirche muss nach ihrem Platz in der Welt und in der Gesellschaft fragen. Wenn ich Kirche als Gegen- oder Sonderwelt aufbaue, dann kommt es zu den Folgen der eben beschriebenen Haltung. Kirche verstand sich oft als „societas perfecta“, also als perfekte Gesellschaft. Was sie tut, was der Bischof tut, der Priester, der Pfarrer, wird dann schnell unangreifbar. Wenn ich ihn kritisiere oder hinterfrage, stelle ich ja möglicherweise den Willen Gottes infrage. Es ist eine gute Entwicklung, wenn sich Kirche, der Bischof, der Priester und jede und jeder Glaubende nicht der Gesellschaft gegenüber stellt und seine Eigenwelt bildet, sondern wenn wir uns mehr und mehr als Teil unserer Gesellschaft verstehen lernen und mitten in der Welt das Evangelium zu leben beginnen. Dann müssen wir uns auch an die Regeln und Gesetze dieser Welt halten, sofern sie nicht dem Evangelium widersprechen. Dann muss es auch Kritik geben und Kontrolle. Dann ist die Begegnung zwischen Kirche und Welt keine Einbahnstraße, sondern ein Austausch zweier Partner.
Papst Franziskus bringt in diesem Zusammenhang das biblische Bild vom Volk Gottes ein. Kirche ist Volk Gottes, jeder einzelne ist ein Teil dieser Gemeinschaft. Bischof und Priester sind Teil dieses Volkes, sie haben leitende Funktionen, stehen aber nicht darüber. Jeder braucht den/die andere. Dieses Volk Gottes geht mitten durch diese Zeit, der Papst nennt es „ein Ferment Gottes“ (EG 114) inmitten der Menschheit. Christen sollen Sauerteig sein und im Geist des Evangeliums den Geist der Gesellschaft prägen, bewegen, verwandeln. Da geht es um ganz alltägliche Verhaltensweisen, weniger um große Missionsstrategien. Wie rede ich über andere? Übernehme ich unkritisch jedes Urteil? Setze ich meine Meinung an erste Stelle? Und vielleicht lerne ich als Kirche dann von anderen etwas über menschliches Zusammenleben? Wir sind nicht in allen Fragen automatisch diejenigen, die alles besser können und wissen. Ferment zu sein ist Aufgabe jedes einzelnen Christen, jeder einzelnen Christin. Ferment sein, das geht in der Begegnung zwischen Menschen.
Der Papst hat die Hoffnung, dass wir glaubende Menschen Zeugen Jesu Christi sind, die Hoffnung in die Welt bringen, Antworten geben auf dringende Fragen, Menschen ermutigen, die keine Perspektive haben, Menschen in die Mitte holen, die sonst am Rande blieben. Das geht aber tatsächlich nur, wenn wir auf den Straßen der Welt zu Hause sind. Jeder getaufte Christ, jeder getaufte Christin verfügt über Geistesgaben, die von Gott geschenkt sind, und die es zu leben gilt. Wie die Sonne ein Fenster, so braucht Gott jeden konkreten Menschen, der durchlässig ist für das Licht Gottes. Und diese Menschen gehören zu einer Gemeinschaft, dem Volk Gottes. Gott hat sie zusammengeführt. Gemeinschaft ist mehr als die Summe einzelner Individuen, die sich selbst genügen. Wir sind gerufen, gemeinsam in dieser Welt zu leben, dem Geist Gottes Raum zu geben, uns gegenseitig im Glauben und in der Liebe zu stärken. Braucht es heute eine Kirche? Ja, ich glaube, dass die Welt die Kirche braucht. Nicht als societas perfecta, als perfekte Gesellschaft, unberührt von den Fragen und Themen der Zeit, sondern berührt von den Menschen und ihrer Welt, und wie der Papst sagt, manchmal auch verbeult und schmutzig. So hält die Kirche Gottes Gegenwart lebendig. Es wird sich zeigen, ob wir diese Wege auch dann gehen, wenn unsere Gewohnheiten und Sicherheiten hinterfragt werden und manches wegbricht, was jetzt noch selbstverständlich zu sein scheint. Wir sollten neu die Freude entdecken, geliebt und berufen zu sein. Dazu ist Kirche da.