Krieg bringt nie Segen, er reißt immer auch Unschuldige ins Verderben. In einem Buch las ich vor einiger Zeit die These, dass Kriege im Letzten immer auch Anschub waren zur Erneuerung der Gesellschaft, zu neuen Aufbrüchen, zum Fortschritt auf vielerlei Gebieten. Das mag in der historischen Rückschau vielleicht das ein oder andere Mal so gekommen sein. Was mir aber fehlt, ist die Perspektive auf den einzelnen Menschen.
In anderen Bereichen würden wir Tötung, Schändung und Zerstörung doch auch nicht damit relativieren, dass am Ende die Weltgeschichte gut weitergegangen ist. Ich sperre mich gegen die Sichtweise, dass Menschen, und dabei geht es um jeden einzelnen Menschen, zum Opfer gemacht werden für mögliche Fortschritte im Technischen und Ökonomischen. Bis heute dienen Menschen den Machthabern als Kanonenfutter für nationale Interessen, schlimmstenfalls für das eigene Überleben. Vielleicht wird, um ein biblisches Bild zu gebrauchen, aus den Baumstümpfen und Ruinen unserer Tage neues Leben erwachsen. Auch das rechtfertigt aber nicht den gewaltsamen Tod eines unschuldigen Menschen in den Konflikten dieser Zeit.
Kriege haben immer entmenschlicht, und sie tun es bis heute. Wenn wir heute in Anlehnung an die Friedensbotschaft von Papst Franziskus über die Chancen und Gefahren der Künstlichen Intelligenz im Hinblick auf den Frieden nachdenken, dann besteht eine mögliche Gefahr darin, auch hier wieder die Entmenschlichung der Konflikte voranzutreiben. Ich will Papst Franziskus zitieren: „Wenn man heutzutage die Welt um uns herum betrachtet, kann man sich den ernsten ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Rüstungsindustrie nicht entziehen. Die Möglichkeit, militärische Operationen mittels ferngesteuerter Systeme durchzuführen, hat zu einer verringerten Wahrnehmung der von ihnen verursachten Zerstörungen und der Verantwortung für ihren Einsatz geführt, was zu einer noch kälteren und distanzierteren Haltung gegenüber der gewaltigen Tragik des Krieges beiträgt. Die Forschung im Bereich neuer Technologien für die so genannten „tödlichen autonomen Waffensysteme“, einschließlich des Einsatzes von künstlicher Intelligenz im Krieg, ist ein ernster Grund für ethische Bedenken. Autonome Waffensysteme werden niemals moralisch verantwortliche Subjekte sein können: Die ausschließlich menschliche Fähigkeit zum moralischen Urteil und zur ethischen Entscheidungsfindung ist mehr als ein komplexer Satz von Algorithmen, und diese Fähigkeit kann nicht auf die Programmierung einer Maschine reduziert werden, die, wie „intelligent“ sie auch sein mag, doch immer eine Maschine bleibt. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, eine sachgemäße, maßgebliche und kohärente menschliche Kontrolle der Waffensysteme zu garantieren.“ (Botschaft zum Weltfriedenstag 2024, Art.6). Menschen meinen möglicherweise, immer weniger Verantwortung übernehmen zu müssen, der Feind wird entmenschlicht. Ähnliche Tendenzen und Töne höre ich, wenn wir kalte Überlegungen zur RE-Migration vernehmen. Für Christen ist das Menschenrecht eines jeden und jeder Einzelnen das entscheidende Kriterium. Menschenrechte sind kein abstraktes Gut, sondern erweisen ihre Gültigkeit an der Haltung gegenüber jedem einzelnen Menschen.
Ich will mit Ihnen heute die Perspektive des Buches Jona einnehmen, aus dem wir in der Lesung einen Abschnitt gehört haben. Dieses Buch lädt ein, eine Haltung gegenüber anderen Menschen einzunehmen, die als Feinde gelten, die fremd sind, dich wir nicht verstehen, die anders sind. Damit beginnt der Frieden: Menschen als Menschen mit Würde und Rechten zu sehen.
Die alten Religionen und die Frommen teilen die Welt ein in Gut und Böse, in die Menschen, die dazugehören und diejenigen, die außen vor sind. So einfach scheint die biblische Botschaft auch im Hinblick auf Gott zu sein. Doch wer sind die Bösen, wer sind die Guten? Religiöse Kreise im Volk Israel, so wie später im neuen Gottesvolk, der Kirche, finden eine ebenso klare Antwort: Die Guten sind die, die zum Gottesvolk gehören, die Bösen sind die, die draußen sind. Politisch sind die Guten die, die zum Volk gehören, diejenigen, die einer anderen Religion, einer anderen Weltanschauung und Kultur angehören, sind vielleicht nicht Böse, aber sie gehören nicht zu uns. Wer ist der Gute, wer der Böse, wer ist drinnen, wer draußen, wer wird gerettet, wer nicht? Fragen, die zur Grundfrage jeder Religion gehören.
Fundamentalisten jeder Couleur wiederholen auch heute einfache Antworten auf schwierige Fragen: Wüssten Sie eine klare Antwort auf die genannten Fragen? Woher nehmen wir die Sicherheit, dass wir auf jeden Fall zu den Geretteten gehören? Das sind die Fragen des Buches Jona. Wir kennen seinen Inhalt: Der Prophet Jona erhält den Auftrag, nach Ninive, der Stadt der Ungläubigen und Feinde Israels, zu gehen und die Menschen zur Umkehr aufzurufen. Er läuft weg vor Gott. Der Seesturm verhindert seine Flucht, er landet im Bauch des Fisches und muss am Ende doch seinen Auftrag erfüllen. Man spürt fast ein bisschen den Humor Gottes durch.
Es ist nicht nur die Angst des Propheten vor der Größe und Schwierigkeit seines Auftrages, die ihn fliehen lässt. Als sich die Menschen von Ninive bekehren und Gott sie verschont, macht Jona Gott Vorwürfe: Das habe ich geahnt, dass du diese schrecklichen Menschen verschonst. Ich habe gewusst, dass du barmherzig bist, dass du so schwach bist, diese Menschen zu retten. Gott nimmt Jona in die Schule. Er lässt einen Strauch vertrocknen, unter dem Jona Schutz gesucht hat, Jona klagt und jammert. Gott sagt ihm: Du klagst um das bisschen, und ich sollte 120000 Menschen, dazu noch die Tiere, nicht verschonen, die ich gemacht habe, und die mir leidtun? Damit endet das Buch Jona. Man muss zusätzlich bedenken, dass die Assyrer die Hauptfeinde Israels waren. Gott liebt unsere Feinde und will, dass diese ebenso gerettet werden wie wir. Das ist für manche religiöse und nationale Ohren eine schier unerträgliche Aussage. Das Buch ist ein großes Stück Literatur.
Gott ist ein Gott aller Menschen und für alle Menschen. Alle Menschen sind Brüder und Schwestern. Wenn uns solch eine Aussage leicht über die Lippen geht, meinen wir, dass diese Aussage eine Errungenschaft der Moderne ist. Im Jona-Buch ist sie vor 2500 Jahren formuliert. In einer Zeit, in der man sich über das eigene Volk und die eigene Religion definierte und nicht die Menschenrechte anderer Völker beachtete, formuliert der Autor des Buches Jona: Gott ist ein Gott für alle Menschen, seine Macht und seine Güte sind nicht einzuschränken auf ein Volk und eine Nation. Und die Botschaft Jesu vorwegnehmend, auch die Feinde sind geliebte Kinder Gottes. Wie könnte unsere Welt aussehen, wenn sich solch eine Vision durchsetzen würde. Die Haltungsänderung gegenüber jedem Menschen beginnt aber im eigenen Leben. Gönne ich dem Anderen das Gute, auch meinem Feind? Wenn nicht, erinnere ich an den Propheten Jona, der mit Gott schimpft: warum bist du so barmherzig? Wir werden aushalten müssen, dass Gott auch unsere Gegner liebt. Das entschuldigt kein Verbrechen, aber auch der Verbrecher hat Würde. Das ist emotional zugegebenermaßen für Leidtragende schwer zu verkraften. Jona stellt sich dieser Frage. Die Assyrer in Ninive sind keine harmlosen Vertreter, das Buch Jona ist nicht naiv. Es redet über die konkreten politischen Feinde.
Die Geschichte sagt auch etwas über die Art und Weise, wie Gott Versöhnung schenken will. Er will nicht der Unbekannte bleiben, der sozusagen im Himmel beschließt: Alles wird am Ende gut. Er will, dass sich die Menschen zu ihm hinwenden. Er will freie Partner haben. Das fängt bei Jona an. Er soll lernen, selbst so barmherzig wie Gott zu werden. Selbst so großzügig und liebevoll. Eine Pointe der Geschichte besteht darin: Der Prophet, der Diener Gottes, der Freund Gottes ist verstockter und hartherziger als die sogenannten Heiden. Der härteste Brocken für Gott ist Jona selbst. Die Menschen in Ninive warten fast darauf, dass ihnen jemand die Botschaft vom liebenden Gott bringt, zu dem sie sich hinwenden können. Bis heute ist es Aufgabe der Menschen im Volk Gottes, andere Menschen einzuladen, diesen Gott kennenzulernen.
Das Buch Jona hat ein unglaubliches, vielleicht naives Vertrauen in den Menschen. Die gute Botschaft wird automatisch die Herzen erreichen. Wir wissen: So einfach geht das nicht. Aber verstehen wir uns noch als solche Propheten, die einladen, die in der Stadt Ninive, der Stadt der Heiden, ihre Stimme erheben und von der Umkehr und der Barmherzigkeit Gottes reden? Gott will freie Menschen, die sich aus Überzeugung für ihn entscheiden. Er will zu den anderen sprechen durch Menschen, die ihn kennen. Jona sind wir, die Christinnen und Christen, die meinen, Gott zu kennen. Jona muss lernen, dass er diesen Gott nicht selbstverständlich für sich gepachtet hat. Vielleicht konnte er am Ende der Geschichte noch glaubwürdiger predigen, weil er selbst wusste, was Barmherzigkeit bedeutet. Dass er selbst von der Barmherzigkeit und Güte Gottes lebt. Dass er keinen Anspruch auf die Freundschaft Gottes hat, sondern sie Geschenk ist. Der Autor des Buches Jona war überzeugt, dass dies eine frohe Botschaft für alle Menschen ist, auch für den letzten Heiden, sozusagen.
Wer vor 2500 Jahren das kleine Buch Jona geschrieben hat, hatte ein großes, weites Herz für die Menschen. Und er dachte groß von Gott. Er hatte den Mut, Gott nicht auf seinen kleinen Horizont zu begrenzen, sondern ihm eine alle Menschen, und sogar die Tiere, umfassende Liebe zuzutrauen. Jona lernt, dass Gott gegen jede Entmenschlichung ist. Wir sind eingeladen seine Perspektive einzunehmen. Leiden wir noch und trauern um jeden einzelnen Menschen, dem seine Würde und sein Leben genommen wird? Mit jedem Menschen stirbt eine ganze Welt. Das Buch Jona, das oft als Kinderbuch herhalten muss, hat eine starke und provozierende Botschaft. Es sieht in jedem Menschen den Schöpfer.