Das Bewußtsein des Glaubens wecken

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf bei der Verleihung der missio canonica Augustinerkirche, Donnerstag, 07. November 2024, 15.00 Uhr

Bischof Peter Kohlgraf verlieht die Missio canonica an 39 Religionslehrerinnen und Religionslehrer (c) Bistum Mainz/Hoffmann
Datum:
Mo. 11. Nov. 2024
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Vielleicht ist neben allen Inhalten heute umso wichtiger das persönliche Zeugnis und der eigene Standpunkt, um den Kindern und Jugendlichen erst einmal die Augen des Herzens zu öffnen, um überhaupt die Frage nach Gott, nach Jesus, nach der Kirche und den Orientierungen des Glaubens stellen zu können. Ich glaube, dass wir alle vor dieser Herausforderung nicht weglaufen sollten und dass wir die Erfahrung machen können, dass sie Staunen auslösen kann und den Wunsch, sich auf den Weg zu machen, um aus dem Glauben heraus Orientierung zu suchen. 

Die Kirche feiert heute das Fest des hl. Willibrord (der Willensstarke), ein englischer Benediktinermönch, der um 690 nach Friesland kam, um zu missionieren. Die weltliche Macht nahm er in Anspruch, um zum Erfolg zu kommen. Pippin II. errichtete für ihn den Bischofssitz Utrecht, seit 695 war Willibrord dort Erzbischof. Er erbaute dort die Bischofskirche und auch das Kloster Echternach. 739 starb der Bischof in Echternach, wo er auch begraben wurde. Er ist ein Zeitgenosse des heiligen Bonifatius, der ebenfalls aus England kam, um von Mainz aus die Friesen zu missionieren. Er starb 754 in Dokkum eines gewaltsamen Todes. Insofern sind wir hier in Mainz auch historisch mit Willibrord verbunden.

Mit der bischöflichen Pastoralkommission, deren Vorsitzender ich bin, waren wir im Frühjahr dieses Jahres in Utrecht, um die Erfahrungen der Kirche in den Niederlanden zu hören und ihre Reaktionen zu verstehen. Es gehörte dazu, dass wir mit der Gruppe in ein Brauhaus gingen, um einen gemütlichen Abend zu verbringen. Es war deutlich zu sehen, dass es sich um eine ehemalige gotische Kirche handelte. Viele Kirchen in den Niederlanden sind keine Gotteshäuser mehr, sondern Restaurants, Bibliotheken, Geschäfte und Wohnhäuser. Gab es in den 50er und 60er Jahren noch 45.000 Priester in den Niederlanden, so ist die Zahl heute überschaubar. Das Land ist völlig säkular, d.h. weltlich geworden, die katholische Kirche spielt gerade im Norden der Niederlande, in dem der hl. Willibrord missioniert hat, statistisch nur eine untergeordnete Rolle. Das Bistum Groningen im Norden wird in den nächsten zwei Jahren ca. 60% seiner Kirchengebäude abgeben. Ich erzähle von dem Besuch im Brauhaus auch deshalb, weil ich unter den beiden Darstellungen der Heiligen Willibrord und Bonifatius saß, die aus der kirchlichen Geschichte des Hauses übrig geblieben sind. Man konnte sie als Bischöfe erkennen. Der Theologieprofessor, der uns begleitete, ist Professor in den Niederlanden. Er erzählte von seinem letzten Besuch mit Theologiestudierenden in dieser Kneipe. Er ließ sie raten, wer die beiden wohl seien. Die Antwort: „Mohammed habe ich erkannt, wer der andere ist, keine Ahnung“. Diese Theologiestudierenden werden wohl auch in den Schuldienst gehen.

Im Rahmen dieser Reise konnte ich mit einer Ordensschwester sprechen, die an einer staatlichen Schule in Utrecht Religion unterrichtet. Die bischöflichen Richtlinien für den Religionsunterricht sind mit unseren vergleichbar. Gott soll zur Sprache kommen, biblische Texte sollen verstanden werden, kirchliche Bezüge sollen verstanden werden. Die Schwester sagt, dass sie sich diesen Leitlinien selbstverständlich verpflichtet fühlt, dass sie aber in ihrer Alltagserfahrung praktisch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Sie erzählt von ihren Erfahrungen mit den Jugendlichen einer säkularen Gesellschaft. Es liegt wohl in der Mentalität der Niederländer, von der Machbarkeit der meisten Dinge auszugehen. Was man nicht selbst tun und machen kann, ist nicht wirklich, analysiert die Lehrerin. Der Hauptinhalt des Religionsunterrichts besteht nun darin, in Tat und Wort erfahrbar und begreifbar zu machen, dass es Dinge im Leben gibt, die nicht machbar sind, die nicht durch Leistung erworben, sondern geschenkt werden. In diesem Bewusstsein sieht sie die notwendige Grundlage, um überhaupt von Gott und anderen religiösen Inhalten sprechen zu können.

Es waren ernüchternde, aber auch hoffnungsvolle Begegnungen und Gespräche im Bistum des hl. Willibrord. Die Welt und auch die Kinder und Jugendlichen sind säkularisiert, unerfahren in kirchlichen und religiösen Fragen, und dennoch sind Christinnen und Christen präsent, haben aber gerade in dieser Situation den Mut, mit ihrer Persönlichkeit auf die Menschen zuzugehen und zu versuchen, ihnen die „Augen des Herzens“ zu öffnen, um ihnen von der Hoffnung zu erzählen, die sie selbst erfüllt. Ich bin mir nicht sicher, ob wir hierzulande schon in diesem Zustand der Säkularisierung leben und ob die Mentalitäten hier vergleichbar sind. Die vor wenigen Monaten erschienene Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung für die evangelische und katholische Kirche in Deutschland zeigt Parallelen und Unterschiede zwischen dem Bistum des Willibrord und dem Bistum Mainz. Kirche ist meiner Wahrnehmung nach schon noch präsenter, auch wenn die Inhalte für viele Menschen, auch Kinder und Jugendliche keine lebensbestimmende Rolle mehr spielen. Für viele Menschen spielt nicht nur die Kirche keine Rolle mehr, auch die Frage nach Gott wird nicht mehr gestellt. Es gibt eine Kirchen- und eine Gotteskrise. Je mehr wir in die jüngeren Generationen gehen, desto prägender wird diese Erfahrung sein und immer mehr werden. Kirchenreformen sind wichtig, ich stehe zu ihnen, aber unsere innerkirchlichen Debatten berühren längst nicht mehr den Kern des Problems oder der Chancen, je nach Betrachtungsweise.

Bei aller Säkularität: Die genannte Studie zeigt auch auf, dass die Gesellschaft durchaus hohe Erwartungen an die Kirche hat und ihr etwas zutraut. Seelsorge, gesellschaftliches und caritatives Engagement werden hochgeschätzt und weiter erwartet. Besonders auch der Religionsunterricht wird als geschätztes Angebot der Kirchen genannt. Vielleicht ist neben allen Inhalten heute umso wichtiger das persönliche Zeugnis und der eigene Standpunkt, um den Kindern und Jugendlichen erst einmal die Augen des Herzens zu öffnen, um überhaupt die Frage nach Gott, nach Jesus, nach der Kirche und den Orientierungen des Glaubens stellen zu können. Ich glaube, dass wir alle vor dieser Herausforderung nicht weglaufen sollten und dass wir die Erfahrung machen können, dass sie Staunen auslösen kann und den Wunsch, sich auf den Weg zu machen, um aus dem Glauben heraus Orientierung zu suchen. Ich glaube, es gibt nicht viele Menschen, die sich darüber freuen, dass auch Kirchen zu Brauhäusern werden.

Das Bewusstsein für den Wert des Glaubens zu wecken, ist Ihr wichtiger Dienst, für den ich Ihnen danke und viel Freude und Mut wünsche. Und ich meine sagen zu können, dass bei allen Veränderungen kein Grund zur Resignation vorliegt. Wir haben ein großes Feld vor uns, dass es zu beackern gilt. Sie, wie auch ich, dürfen immer wieder großzügig den Samen ausstreuen, und dann Gott auch zutrauen, dass er wachsen lässt. Vor wenigen Tagen erschien die vierte Enzyklika von Papst Franziskus mit dem Titel Dilexit nos (Er hat uns geliebt). Der Papst lädt die Menschheit ein, das Herz neu zu entdecken. Er warnt vor Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit, er warnt vor dem „Anti-Herz“, der Selbstbezogenheit, der Einsamkeit, dem Desinteresse am anderen Menschen und an Gott. Wer sein Herz verliert, verliert seine Mitte. „Zurück zum Herzen“, so könnte man das Anliegen des Papstes verstehen. Ich denke, das könnte auch ein Anliegen des Religionsunterrichts sein. Kinder und Jugendliche zu ermutigen, Menschen mit offenem Herzen zu werden, die mehr wollen als sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, die einen klaren Blick für die herzlosen Seiten dieser Welt haben und die anfangen, darüber nachzudenken, welchen Beitrag sie leisten können für eine bessere Welt, die das Herz nicht vergisst. Nicht alles ist machbar, nicht alles ist käuflich, nicht alles ist eigener Verdienst. Menschen dafür zu öffnen, ist Ihr wichtiger Dienst an den Kindern und Jugendlichen, damit sie die Chance haben, ihre Mitte nicht zu verlieren oder überhaupt erst zu finden. Der Papst lädt ein, der Welt das Herz zurückzugeben. Geben Sie diese Einladung an die Kinder und Jugendlichen weiter: Sie sollen Freude daran haben, herzliche Menschen zu sein und damit die vielen herzlosen Realitäten zu verändern. Auch Sie sind gesandt, der Welt das Herz zurückzugeben. Dazu wünsche ich Ihnen Gottes Segen.