„Sie Jämmerling, Sie pfäffisches Würstchen – und so was erdreistet sich, unserem geliebten Führer ans Leben zu wollen… Eine Ratte – austreten, zertreten sollte man so was…. Jetzt sagen Sie mal, was Sie als Priester dazu gebracht hat, die Kanzel zu verlassen und sich mit einem Umstürzler wie dem Grafen Moltke und einem Querulanten wie diesem Protestanten Gerstenmaier in die Politik einzumischen. Los, antworten Sie!“
Liebe Schwestern und Brüder, so läuft die Verhandlung am sogenannten Volksgerichtshof unter Roland Freisler am 9. Januar 1945 gegen Alfred Delp und andere Angeklagte. Alfred Delp antwortet: „Ich kann predigen, soviel ich will, und Menschen geschickt oder ungeschickt behandeln und wiederaufrichten, solange ich will. Solange der Mensch menschenunwürdig und unmenschlich leben muss, solange wird der Durchschnitt den Verhältnissen erliegen und weder beten noch denken. Es braucht die gründliche Änderung der Zustände des Lebens.“
Freisler: „Wollen Sie damit sagen, dass der Staat geändert werden soll, damit Sie anfangen können, Zustände zu ändern, die das Volk aus den Kirchen fernhält?
Pater Delp: „Ja, das will ich damit sagen.“[1]
Diese Begegnung schließt mit dem Todesurteil, und „auf ewig ehrlos“, das am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee vollstreckt wird. Delp trägt heimlich das Allerheiligste bei sich und erstaunt durch seine würdevolle Sicherheit. Aus den wenigen Wochen zwischen dem Urteil und dem Tod Alfred Delps gibt es beeindruckende Texte, die er mit gefesselten Händen im Gefängnis geschrieben hat. Einige von ihnen entsprechen seiner Stellungnahme vor Gericht. Im Wesentlichen geht es darum: das Evangelium ist politisch, es will verändern. Freisler hat die Sprengkraft des Evangeliums offenbar geahnt. Sein geifernder Ton gegen den Angeklagten Delp ist von Anfang an eine Hetzrede gegen das Christentum und die bekennenden Zeugen. Das Evangelium ist politisch, es will gesellschaftlich wirksam werden. Der Nazi spürt dies wohl. Delp macht immer wieder darauf aufmerksam, dass sich die Frohe Botschaft nicht zur erbaulichen Lektüre hinter verschlossenen Türen eignet. Das hat Auswirkungen auf das Leben der Christinnen und Christen sowie für das Selbstverständnis der Kirche. Der Priester solle fromm beten und sich um die Frömmigkeit kümmern, nicht selten hören wir auch heute derartige Töne. Die Kirche soll sich aus politischen Fragen heraushalten, so wird auch heute schnell argumentiert, wenn sich Vertreter der Kirche politisch in umstrittenen Themen zu Wort melden. Vielleicht ahnen es manche dieser oft gehässigen Kommentatoren nicht, aber sie bestätigen, dass das Evangelium auch politische „Sprengkraft“ hat. Es ist nicht einzuschließen. Ich musste auch an derartige Erfahrungen denken, als neulich davon zu lesen war, dass die chinesische Regierung eine parteikonforme Neuübersetzung der Bibel angeordnet habe. Die Gegner des Christentums haben wohl manchmal ein deutlicheres Gespür für die verändernde Kraft des Wortes Gottes als manche Gläubige, die in Glaubensroutinen feststecken. Wir sollten in vielen aktuellen Fragen nicht zu zaghaft sein, die verwandelnde Kraft des Evangeliums ins Wort zu bringen und zu bezeugen. Natürlich: die Zeit Alfred Delps ist eine andere, auch wenn manche böse Fratze wieder auftaucht. Gehässiges Gegeifer ist wieder stärker zu vernehmen. Die Anerkennung der Würde aller Menschen wird offenkundig nicht von allen geteilt. Wir gewöhnen uns an Krieg und Flucht, an Armut und Ungerechtigkeit. Aufrüstung und eine Politik des Säbelrasselns werden wieder gesellschaftsfähig. Hass und Verachtung anderer Menschen werden hemmungslos ausgesprochen. Menschen, die helfen, werden verächtlich gemacht. Andersdenkende und Andersglaubende werden als Feindbilder aufgebaut. Bereits damals warnt Delp vor einer völligen Verzweckung und damit Entwürdigung des Menschen. Derartige Tendenzen sind heute auf vielen Ebenen erneut aktuell: die Bewertung von Menschen nach Gesundheit und Nützlichkeit, das Bemühen um Selbstoptimierung und Wirtschaftlichkeit. Am Ende kippt das Gutgemeinte leicht in eine Entwürdigung des Menschen. Die Situation unserer Zeit ist alles andere als beruhigend, sodass wir uns von Alfred Delp und anderen Zeuginnen und Zeugen sagen lassen müssen: „Es braucht die gründliche Änderung der Zustände des Lebens.“ Mit diesen Fragen hat sich Delp nicht erst in seiner letzten Lebenszeit auseinandergesetzt. Seine gesamte Theologie kann man als eine „Theologie der Freiheit und Befreiung“ beschreiben, das Bemühen, einen Humanismus unter Gottes Wort zu schaffen, die Zukunft zu gestalten und die Themen der Zeit zu verstehen und sie dann mit Gottes Hilfe anzugehen und gegebenenfalls zu verändern[2]. So versteht er auch die Berufung eines getauften Menschen. Er wird von Gott gerufen, aus sich selbst „herausgequält“ und mit einer unendlichen Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden beschenkt. Wenn Menschen sich nicht auf den Ruf Gottes einlassen, „regiert das Klischee, die Etikette, die Uniform, das Schlagwort, die Masse.“[3] Wenn wir heute über Berufung in der Kirche reden, klingt es oft so blutarm, so unkonkret. Delp gibt uns gute Hinweise darauf, dass die Berufung jedes und jeder Einzelnen immer in das konkrete Tun, in die konkrete Antwort münden muss.
Delp brennt leidenschaftlich für Gott, der sich in Jesus Christus in diese Welt eingefleischt hat. In der Rückschau denkt er an die Weihnachtsfeiern seiner Kindheit in Lampertheim zurück. Die Mutter bemüht sich um die Gestaltung eines schönen idyllischen Festes, er nimmt dagegen die materielle Not vieler Kinder wahr, die sich die Nase an den Schaufenstern der Geschäfte plattdrücken und von den schönen Dingen träumen, die sie nie besitzen werden[4]. Am Beispiel seiner Skepsis gegenüber jeder Weihnachtsidylle zeigt sich sein Zugang zu Gott. Er ist ein fordernder, selbst leidenschaftlicher Gott, und wir Menschen überzuckern ihn oder passen ihn uns an, obwohl es umgekehrt sein müsste. Von einem Mann wie Alfred Delp kann man auch einen solchen Satz annehmen und als Stachel im Fleisch empfinden: „Kirche wird leben, wenn wir unseren Herrgott wieder einmal gern haben, so persönlich gern haben, dass wir bereit sind, für ihn zu sterben.“ Es braucht den „glühenden Menschen, der an die Dinge gerührt hat, die nicht auf der Straße liegen“, so in einer Predigt aus dem Jahr 1941. Gott ist strömendes Leben, sein Herz schlägt in der Geschichte, er wird Mensch weiterhin im Menschlichen. Leidenschaft für Gott und den Menschen, so die Kernbotschaft dieser Predigt[5].
Und die Kirche? Dazu hat er sich immer wieder geäußert, und auch dies nicht nur bequem für seine Zeitgenossen. Statt auf die Suche der Menschen zu antworten, sich dem Gespräch mit der Zeit und ihren Herausforderungen zu stellen, den Menschen Mut zum Glauben zu machen, sie mitzunehmen und mitzureißen in die Bewegung, die von Gott ausgeht, hat sich „das Christentum aufgelöst in Ethik und Gebotslast, in Heilsangst und Misstrauen, in behütenden Traditionalismus, der im Namen des Schöpfergottes jeden neuen Ansatz zunächst einmal in Misstrauen verschüttet, ihn am liebsten umbringen möchte; in geschichtsfremden Konservativismus und Flucht in ein freiwillig bezogenes Getto.“[6] Über derartige Sätzen stolpere ich tatsächlich. Ich verkneife mir, aktuelle Bezüge zu konkretisieren. Ebenfalls kommentiere ich nicht weiter Delps Hinweis auf die Rechthaberei innerhalb der Kirche, die kritiklose Annahme jeder modern anmutenden Meinung: Verschiedene Seiten schont Delp nicht. Auch in der Kirche mahnt Delp die persönliche Verantwortung gegenüber dem Befehlsgehorsam an[7]. Und dann ist er genauso ein ständiger Mahner gegen eine Aufweichung des Kerns der christlichen Botschaft gegen die Götzen der Zeit.
Es sprengt den Rahmen einer Predigt, ausführlicher zu werden. Aber die wenigen Gedanken sind schon Hausaufgaben genug: das Evangelium von der Kanzel in die Welt tragen, sich berufen und von der Leidenschaft Gottes ergreifen zu lassen, diese Leidenschaft in Kirche und Welt zu leben und zu bezeugen. Ewig ehrlos sollte Alfred Delp sein. Wir und viele Menschen geben ihm die Ehre und sagen ihm Dank für sein Zeugnis.
[1] Zitiert aus Roman Bleistein, Alfred Delp. Geschichte eines Zeugen, Frankfurt a.M. 1989, 377f.
[2] Vgl. dazu Gotthard Fuchs, Wodurch lebt, wodurch stirbt Kirche?, in: Christ in der Gegenwart 5/2020, 61f.
[3] Ebd. 61.
[4] Vgl. Roman Bleistein, Alfred Delp, 22.
[5] „Du bist Petrus, der Fels“ (28.6.1941), zitiert aus Alfred Delp, Kirche in Menschenhänden (hg. Von Roman Bleistein), Frankfurt a.M., 1985, 69-79.
[6] Vertrauen zur Kirche (1941), in: aus Alfred Delp, Kirche in Menschenhänden (hg. Von Roman Bleistein), Frankfurt a.M., 1985, 47-67, hier 56f.
[7] Ebd. 57.