Nicht umsonst haben die frühen Christen im gekreuzigten Jesus den gesehen, den Jesaja in seinem Lied vom Gottesknecht beschreibt. Wir haben von ihm in der ersten Lesung gehört (Jes 52,13-53,12). Da ist die Rede von einem Mann, der so entstellt war, dass sich die Menschen bei seinem Anblick entsetzen. Wir sehen darin einen Hinweis auf Jesus, den Sohn Gottes. Sein Tod wird noch entsetzlicher dadurch, dass dieser Jesus aus Nazareth für eine Botschaft der Barmherzigkeit und der Liebe stand.
Wie sehr muss er den Menschen damit auf die Füße getreten sein, dass sie diese Botschaft nicht aushalten konnten. Offenbar haben zu viele damals gespürt, dass die Predigt dieses Menschen nicht harmlos war. Sie hinterfragt das eigene Denken und Verhalten. Wenn jemand dieser bedingungslosen Liebe begegnet, kann es sein, dass er zu verstehen beginnt, wie es um ihn selber steht. Das begann ja damals bei den religiösen Einstellungen: Jesus kritisierte jede Frömmigkeit, die Gott für das eigene Denken und Wollen instrumentalisierte. Als könne man Gott mit Gesetzesgehorsam und Gebetsleistungen beeindrucken. Als sei Gott der Erfüllungsgehilfe eigener politischer Einstellungen. Die Kritik setzte sich fort im Hinblick auf das soziale Verhalten. Er forderte bedingungslose Liebe zum Nächsten, auch zum Feind. Keiner durfte von dieser Liebe ausgeschlossen bleiben. Die einen halten ihn damit für einen politischen oder religiösen Aufrührer, die anderen für einen naiven Träumer. Ihn muss man beiseiteschaffen, oder es ist kein Verlust, wenn er weg ist. Er stört dann unsere Kreise nicht mehr.
Dieser Tod wird auch entsetzlich und verstörend dadurch, dass dieser Jesus aus Nazareth, wie der Hebräerbrief schreibt, sein Leben lang laut geschrien hat nach seinem Gott und Vater, Gebete und Bitten vor ihn gebracht hat – und dann endet er am Kreuz. Das Buch Deuteronomium sagt: „Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, auf das die Todesstrafe steht, wenn er hingerichtet wird und du den Toten an einen Pfahl hängst, dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben; denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter. Du sollst das Land nicht unrein werden lassen, das der Herr, dein Gott, dir als Erbbesitz gibt.“ (Dtn 21,22f.). Selbst im Tode nicht nur verlassen von Gott, sondern verflucht von Gott. Was mag einem frommen Menschen damals so durch den Kopf gegangen sein, wenn er davon erfuhr, dass seine Anhänger einen Gekreuzigten verehren? Schaut man auf den Mann am Kreuz, muss man zunächst feststellen: von ihm und seiner Botschaft bleibt nichts mehr, oder noch schlimmer; sie ist zum Zeichen der Gottferne und vielleicht sogar zum Zeichen eines feindlichen, im besten Falle ohnmächtigen Gottes geworden.
Wie viele Menschen haben in den Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte ein ähnliches Schicksal erduldet? Der Gottesknecht steht stellvertretend für die vielen, die zu ihrem Gott gerufen haben, und dann steht da der Sieg des Bösen, der Gewalt, des Todes. Den Karfreitag muss man aushalten, man darf ihn sich nicht zu schnell verharmlosen. Der Gekreuzigte ist Identifikationsfigur mit all dem Leid dieser Welt. Und dann steht die Frage nach Gott im Raum: Warum das alles?
Der Prophet schaut auf diesen geschlagenen Menschen, den Gottesknecht, mit den Augen des Glaubens. So wird das ganze Leid zu einem Beweis größter Liebe. Und Liebe verwandelt. Da trägt dieser Mann mein Leid, unser Leid. Er läuft nicht vor den Folgen der Schuld weg, vielmehr verwandelt seine Liebe meine Schuld in neues Leben. Dieser Mensch gibt mir Orientierung, wenn ich mich verliere wie ein Schaf, das herumirrt. Er zeigt mir, dass ein Leben im Vertrauen auf Gott, ein Leben in Hingabe und Liebe ein erfülltes Leben ist. Am Ende steht er für die Erfahrung, dass Gottes Liebe wirklich größer ist als alle Gewalt, als das Böse, als der Tod. Durch das Leiden gelangt er zur Vollendung, und ist für uns der Grund und Urheber des ewigen Heils geworden (Hebr. 5,9).
Am Karfreitag kämpft der Tod gegen das Leben, der Hass gegen die Liebe, das Böse gegen das absolut Gute. Äußerlich betrachtet geht es so aus, wie es in unserer Welt oft ist. Das Gute hat kaum Kraft, der Tod ist stärker als das Leben. Davon können viele Menschen ein Lied singen. Der Glaube übertüncht diese Erfahrung nicht, er ist nicht Opium des Volkes gegen die harte Realität. Der Glaube stellt sich dieser Erfahrung, er muss sie aushalten, auch die scheinbare Ohnmacht Gottes.
„Ist das Schwäche? Von außen betrachtet mag das so scheinen, in Wahrheit liegt da Gottes Stärke und verwandelnde Kraft. Sie bewegt etwas, sie verändert die Verhältnisse von Grund auf. Die Stärke, die sich die Starken gegenseitig zusprechen, einander weitergeben oder entreißen, erhält den Status quo: hier Mächtige, dort Ohnmächtige. Jesus lässt uns Gott gerade in der Ohnmacht entdecken, am toten Punkt (…). Gott ist nicht allmächtig, weil er vordergründig alles kann, was er will, sondern weil er auch noch die Macht der Vergeltung durch die Macht der Liebe verwandeln kann. Solche verwandelnde Macht ist die größere Macht, weil sie neue Energien freisetzt, neue Wege aufstößt.“ (Bischof Franz Kamphaus)
Natürlich schauen wir auch auf das Kreuz vor dem Hintergrund des Osterglaubens. Ohne ihn wäre der Karfreitag nur schrecklich. Aber auch der Osterglaube überspringt die schlimme Erfahrung des Menschen nicht. Eine einfache Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Leidens gibt es auch für den glaubenden Christen nicht. Der Glaube an den Sieg des Lebens und der Liebe jedoch macht das Kreuz zu einem Motor für den Versuch, mit Gottes Hilfe den Weg des Gottesknechts mitzugehen: Leid wahrzunehmen und mitzutragen, für andere einzustehen, Hoffnung zu schenken und Hass durch Liebe zu beantworten. Das Kreuz des Karfreitags ist dann ein Hoffnungszeichen für Gottes Macht, die am Ende den Tod, das Böse und die Schuld besiegt, und ein Anruf, sich aktiv dem Leid zu stellen, das Böse zu überwinden und Gott im Kleinen auch meines Lebens etwas zuzutrauen.