Heute feiern wir 250 Jahre Kirche St. Andreas, aber gleichzeitig schauen wir auf eine längere Geschichte gelebten Christseins hier in Lampertheim. Es kann nicht darum gehen, heute in einer sicher schwierigen Zeit der Kirchen eine angeblich goldene Vergangenheit zu verherrlichen und ihr nachzutrauern. Denn natürlich waren die letzten 250 Jahre ebenfalls eine von Licht und Schatten geprägte Zeit. Darein fallen das Ende des Erzbistums Mainz und seine völlige Neuordnung, darein fallen Kriegswirren verschiedener Art, kirchliche Auseinandersetzungen im 19. und 20. Jahrhundert, die Säkularisation und der Kulturkampf, zwei Weltkriege, der Nationalsozialismus, aber auch immer wieder Aufbrüche und Neuorientierung. Diese gingen von konkreten Menschen aus, die bewiesen und bezeugt haben, dass Christus seine Kirche nicht verlassen hat. Und das gilt auch für heute, eine Zeit vieler engagierter Menschen, aber auch eine Zeit der Neuorientierung und des Suchens nach neuen Wegen – nicht nur in der Kirche.
Als Bischof darf ich von Herzen danke sagen für die vielen lebendigen Steine, die auch heute die Kirche prägen, und die Stimme Christi in die Gesellschaft tragen. Es ist dabei zu wenig, die Kirchen und ihre Botschaft nur als Wertevermittlerin in unserer Gesellschaft zu sehen, wie es wohl der neue Koalitionsvertrag bestenfalls den Kirchen und der Religion zuspricht. Es ist – glaube ich – gut, sich nicht ausschließlich als Öl im Getriebe zu definieren, sondern auch als widerständig zu verstehen, und gerade auch so der Gesellschaft zu dienen. Da könnte man in 250 Jahren gute Beispiele finden. Damit versteht sich die Kirche nicht als eine reine Gegenwelt, aber auch nicht als pure Bestätigung aller Bemühungen, sondern als kritische und wachsame Beobachterin und Stimme, und dennoch Teil der Gesellschaft.
Seit Studientagen beeindruckt mich der große Sohn Lampertheims, Alfred Delp. „Im Angesicht des Todes“ hat er 1944 und 1945 Predigten und Betrachtungen geschrieben, die bis heute zu Herzen gehen. Besonders seine Betrachtung zu Adventsgestalten können gerade am heutigen Sonntag gute und aktuelle Anregungen geben. Dabei muss eines vorausgeschickt werden. Seine Gedanken sind bis heute erstaunlich aktuell, manchmal auch provozierend. Dennoch müssen wir bei allen aktuellen Bezügen auch Obacht geben. Seine persönliche Situation vor dem gewaltsamen Tod und auch die Zeitumstände des Endes des Weltkriegs und des Nationalsozialismus sind die Voraussetzungen seiner Gedanken und damit nicht „eins zu eins“ übertragbar. Wir haben es heute nicht mit einem klar zu beschreibenden Gegner der Kirche und des Christentums zu tun. Wenn Delp von den Wüsten der Städte spricht, hat er buchstäblich die zerbombten Städte und die Millionen Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft vor Augen. Als Kirche in Deutschland haben wir trotz kleiner werdenden Zahlen hierzulande mit politischen Partnern zu tun, die uns ernst nehmen und mit denen wir gut kooperieren. Was aktuell bleibt, wenn man Delp liest, ist der immer auch selbstkritische Blick auf die Kirche, die Verantwortlichen und alle Gläubigen, die keineswegs als die leuchtende Gegenwelt zur dunklen Gesellschaft gezeichnet werden.
So lohnt es sich, auf die Adventsgestalten zu blicken. Es ist gut, sich sagen zu lassen, dass der Advent keine Zeit der Ruhe und der Beschaulichkeit ist, sondern eine Zeit des Erwachens und auch der Erschütterung. Das heutige Evangelium ist ja nun wirklich alles andere als eine beruhigende Droge, um die Wirklichkeit zu vergessen. In diesen Advent lässt Delp drei Gestalten sprechen: Der Rufende in der Wüste, die kündenden Engel sowie die gesegnete Frau. Der Rufende in der Wüste: tatsächlich ist die Wüste eine Art roter Faden der Gottes- und Glaubenserfahrung der Menschen. Angefangen beim Aufbruch Abrahams, über den Wüstenzug des Gottesvolkes hin zu den Versuchungen Jesu in der Wüste. Delp sieht die Wüsten seiner Zeit, ist aber realistisch genug zu ahnen, dass es wohl keine Zeit geben wird ohne derartige Wüstenerfahrungen der Menschen. Auch heute: Es gibt die Wüste der Armut, die Wüste des Hungers und des Durstes. Es gibt die Wüste der Verlassenheit, der Einsamkeit, der zerstörten Liebe. Es gibt die Wüste des Gottesdunkels, der Entleerung der Seelen, die nicht mehr um die Würde und um den Weg des Menschen wissen. So formulierte Papst Benedikt vor Jahren in seiner Antrittspredigt in Rom. Wir können ergänzen: Es gibt die Wüsten in den Städten, wo der eine den anderen nicht kennt. Wir erleben Wüste in unserer Kirche, wo das Leben oft zu schwinden scheint. Jeder von uns hat seine eigenen Wüstenzeiten, mal kleiner, mal größer. Die Bild der Wüste ist der Bibel sehr wertvoll. Zunächst einmal beschreibt es sicher die schwierigen Erfahrungen. Allerdings wird gerade die Wüste auch zu einem Bild der neuen Hoffnung, des neuen Anfangs. Manchmal ist die biblische Hoffnung geradezu verrückt. Wo es menschlich betrachtet so ausweglos, so trocken und verzweifelt erscheint, gibt Gott mit Hilfe der Rufenden Visionen vor. Die Rufenden braucht es: Menschen, die Hoffnung geben, die Mut zum Weitergehen und zu Aufbrüchen machen. Und wir müssen uns auch den Ruf zur Umkehr, zur neuen Hinwendung zu Gott zurufen lassen. Wir fordern Reformen auch in der Kirche. Wir lernen, dass Umkehr notwendig ist, und nicht nur die Umkehr des jeweils anderen. Wir sollten uns als Kirche nicht scheuen, solche Mutmacher und Visionäre zu sein, was aber nur gelingen wird, wenn wir selbst umkehren und glaubwürdige Wege zu gehen bereit sind. Es braucht auch heute Menschen, die nach Delp „vom Blitz der Sendung und Berufung“ betroffen sind.
Neben den Rufenden gibt es die kündenden Engel im Advent. Delp schreibt von seinen Erfahrungen in der engen Zelle. Er fühlt sich trotz allem behütet und beschützt. Engel sprechen ihre Segensbotschaft in diese Welt. Wer wollte bestreiten, dass es heute solchen Segen, das gute tröstende Wort, bräuchte. Engel halten die Gegenwart Gottes in Erinnerung. „Ach, wenn die Menschen einmal nichts mehr wissen von der Botschaft und den Verheißungen, wenn sie nur noch die vier Wände und die Kerkerfenster ihrer grauen Tage erleben und nicht mehr die leisen Sohlen der kündenden Engel vernehmen und ihr raunendes Wort uns die Seele nicht mehr erschüttert und erhebt zugleich, dann ist es geschehen um uns. Dann leben wir verlorene Zeit und sind tot, lange bevor sie uns etwas antun.“ (A. Delp). Das scheint mir nach dem mahnenden und mutmachenden Wort eine Aufgabe unserer Gemeinden und ihrer Gläubigen zu sein: Von den großen Verheißungen Gottes sprechen und sich selbst von ihnen führen lassen.
Die gesegnete Frau – Maria – steht für die Erfahrung, dass Gott Leben schenken kann, auch dort, wo es menschlich keine Hoffnung gibt. Solche glaubenden Menschen schlagen eine Brücke zum anderen Ufer, in die Welt Gottes. Gott will in dieser armen Welt wohnen. Gott schafft ein neues Gesetz, das Gesetz des Lebens und der Liebe, die graue Realität ist angestrahlt.
Diese drei Adventsgestalten machen mich froh und hoffnungsvoll. Das wünsche ich auch Ihnen angesichts des Jubiläums. Dass wir uns trauen, von unserer Botschaft in der Wüste zu sprechen, dass wir die Boten sehen und hören, die von Gottes Liebe künden, und dass wir selbst zu derartigen Botinnen und Boten werden. Dass wir zu Brücken-Menschen werden, die Gott in diese Welt kommen lassen. Es gibt die Boten der Menschwerdung Gottes in unserer Welt. Alfred Delp sieht noch nicht die Erfüllung, und vielleicht ist diese Erde nicht der Ort der Vollendung. Aber das Reich Gottes kommt und wird: heute.
Lampertheim, 28. November 2021 (1. Advent), 10.00 Uhr