„Der Dom - Eine Predigt in Stein"

Predigt von Bischof Peter Kohlgraf beim Festgottesdienst zur Eröffnung des Jubiläumsjahres „1000 Jahre Wormser Dom",

Datum:
Mo. 29. Jan. 2018
Von:
Bischof Peter Kohlgraf

Dom St. Peter Worms, 28. Januar 2018

ANMERKUNG: Bischof Kohlgraf hat die Predigt frei gehalten; der Inhalt entspricht diesem Manuskript.

Die Menschen in Worms bauten den Dom an der höchsten Stelle der mittelalterlichen Stadt. Ich finde, das sagt schon sehr viel aus: Das Gotteshaus ist so nicht nur vor Hochwasser geschützt, sondern durch die herausragende Position wurde deutlich, dass Gott in die Mitte gehört. Sein Haus sollte das Zentrum des städtischen Lebens sein. Rund um den Dom spielte sich das Leben der Menschen ab. Immer wieder – so stelle ich mir vor – werden sie diesen großen Dom bestaunt haben, der sich in seiner Größe und Mächtigkeit so sehr von ihren eigenen Häusern abhob.
Wenn sie den Dom von außen sahen, mussten sie genau hinschauen, um manches Detail erkennen zu können, das die Baumeister ausgeschmückt hatten. Dem Menschen des Mittelalters war es nicht wichtig, dass jedes Detail zu sehen war. Ihr Bauwerk diente dem Gotteslob. Das ist die erste Predigt der Meister von damals: Alles, was Menschen tun und leisten können, sollen sie nicht zu ihrem Ruhm verwirklichen, sondern als Dank und Lob gegenüber dem Schöpfer. Es lohnt sich, sich heute an diesen Gedanken zu erinnern. Demut wäre ein passender Begriff dafür. „Bleibe demütig", predigt der Dom. Nicht zufällig sind am Eingang des Südportals Szenen aus der biblischen Schöpfungsgeschichte in Stein gehauen. Im Sündenfall setzt sich der Mensch an Gottes Stelle – bis heute. Der Mensch soll sich daran erinnern, dass er auf Gott angewiesen ist, dass dies seine Würde und Größe ausmacht. Der alte Begriff der Demut meint nicht: den Menschen „demütigen", sondern ihm zeigen, dass er groß ist, weil Gott ihn groß sein lässt. Der Mensch muss sich nicht auf Kosten anderer Menschen groß machen. Das Gegenteil der Demut ist der Stolz. Ein stolzer Mensch macht andere klein, er lebt auf Kosten anderer. Demut wäre heute wieder zu entdecken, der Dom erinnert an diese Mutter aller Tugenden. Ich stelle mir vor, dass Bischöfe, Könige und Kaiser diese Bilder sahen, die auch zu ihnen, den Mächtigen sagten: Lebe dein Leben als Lob Gottes, als Dienst an den Menschen, lebe deiner Würde gemäß, die Gott dir gibt, bilde dir nichts ein auf irdischen Glanz und Ruhm. Vor Gott zählen andere Tugenden. Nimm deine Grenzen an, die du als Mensch hast. Das gilt auch für die Menschen, die heute hier ein- und ausgehen.

Die Außenseite des Doms schmücken viele Fabelwesen, viele von ihnen sind Bilder des Bösen, Symbole der Versuchungen, die den Menschen treffen können. Gott wird das Böse besiegen, das auch heute die Menschen plagt. Mit Gottes Hilfe kann ich dem Bösen widerstehen. „Du bist dem Bösen nicht machtlos ausgeliefert, Gott hilft dir", predigt der Dom. Die Predigt ist realistisch. Der Baumeister verspricht keinen Himmel auf Erden, das Leben ist oft mühsam, es ist ein tägliches Ringen um den rechten Weg. Aber es lohnt sich, sich der Macht Gottes anzuvertrauen.
Bevor man nun durch das Südportal eintritt, erblickt man oben eine reitende Frau. Sie verkörpert die Kirche. Sie reitet auf einem Tier mit vier verschiedenen Beinen und vier verschiedenen Köpfen: dem Kopf eines Engels, eines Stieres, eines Adlers, eines Löwen – den Symbolen der vier Evangelisten. Die Kirche steht auf den vier Evangelien gegründet. Das ist ein Bild, das mich besonders anspricht: Es ist eine Zusage. Das Evangelium trägt die Kirche. Und das ist ein Anspruch: „Vergiss das Evangelium nicht, auf dem du stehst" – predigt der Dom. In tausend Jahren lassen sich zahlreiche Beispiele finden, in denen das gelungen ist, aber auch Beispiele, die ein Versagen der Kirche bezeugen. Heute sehen wir etwa kritisch auf die Verquickung von weltlicher und kirchlicher Macht, wie sie im Mittelalter und darüber hinaus Normalität war. Das Evangelium dient nicht der Absicherung menschlicher Machtgelüste. Es hat eine politische Botschaft, weil es menschliche Macht begrenzen will: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein" (Mk 10,42-44), gibt Jesus seinen Jüngern mit in die Zukunft. Wir müssen nicht ins Mittelalter schauen, um die Brisanz dieses Evangeliums zu erkennen. Was es heißt, eine Kirche des Dienens und nicht des Beherrschens zu sein, müssen wir auch heute mühsam lernen. Allerdings ruht sich die Kirche nicht auf den Evangelien aus, sie reitet, sie bewegt sich auf Christus zu. Für mich ist das ein geradezu prophetisches Bild für unsere heutige kirchliche Situation! „Beweg dich", predigt der Dom, „beweg dich auf der Grundlage des Evangeliums, bleib nicht stehen, du weißt, wem du glauben kannst. Christus ist deine Zukunft." Kirche hat Zukunft, wenn sie Christus im Blick behält.
Schließlich durchschreitet der Dombesucher das Portal, von außen sieht er eine Marienkrönung, innen das ältere Bild, Christus, thronend zwischen Petrus, Maria und heiligen Bischöfen. Der Mensch sieht seine Zukunft, seine Zukunft in der Herrlichkeit des Himmels. Der Dom verweist auf die himmlische Welt, dafür steht er, dafür zeigen seine Türme nach oben. „Vergiss den Himmel nicht", predigt der Dom. Der Dom erinnert an die Schönheit der Zukunft des Menschen, die Gott verheißen hat. Gott ist unsere Zukunft, er wird dich krönen. Deine Zukunft ist ewige Freude. Wenn ich als Bischof immer wieder über die Kirche befragt werde, würde ich gerne dies bezeugen. In der Kirche berührt dich bereits ein Stück dieses Himmels. In der Liturgie, in den Gebeten und Feiern der Kirche berührt dich diese göttliche Wirklichkeit, sie macht dich groß und herrlich.
Der Dom predigt, damals und heute: „Bleibe demütig, gestalte deine Freiheit, indem du der Kraft Gottes Raum gibst, vergiss das Evangelium nicht, bewege dich, vergiss das Ziel nicht." Der Gemeinde in Worms und allen, die Kirchen staunend betrachten und sie besuchen, wünsche ich, dass sie neu die Predigt sehen und verstehen lernen.